Kurzbeschreibung

Der einflussreiche katholische Bischof und Vertreter christlich-sozialer Gedanken Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1897) verband konservative Kritik an der Gewerbefreiheit mit Elementen der sozialistischen Wirtschaftstheorie. Die freie Marktwirtschaft verschulde das Elend der Arbeiter, doch auch das alte Zunftwesen sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen forderte er die Schaffung von Produktivgenossenschaften und Wohlfahrtseinrichtungen für bedürftige Arbeiter sowie eine stärkere Besinnung auf christliche Werte.

Katholische Sicht der Wirtschaft: Auszüge aus Wilhelm Emmanuel von Kettelers „Die Arbeiterfrage und das Christenthum“ (1864)

  • Wilhelm Emmanuel von Ketteler

Quelle

Von allen Seiten erheben sich Stimmen, die die Lage der Arbeiter besprechen und Vorschläge zur Verbesserung ihrer Verhältnisse machen. Es bestehen weitverbreitete Gesellschaften, die den Zweck haben, „zur Verbesserung des sittlichen und wirthschaftlichen Zustandes der arbeitenden Classen“ zu wirken. Es erscheinen Zeitschriften und Abhandlungen unter dem Titel „Arbeiterfreund“, „Arbeiterkatechismus“, „Arbeiterlesebuch“ u.s.w. u.s.w.

Wenn ich nun als katholischer Bischof es unternehme, unter allen diesen Stimmen und Vorschlägen auch meine Ansicht über den vorliegenden Gegenstand auszusprechen, wenn ich auch für mich den Titel „Arbeiterfreund" in Anspruch nehme, wenn ich alle christlichen Männer, denen das Wohl des Arbeiterstandes am Herzen liegt, bitte, auch meine Worte über dieses Anliegen anzuhören und zu erwägen, so ist es wohl angemessen, daß ich über die Berechtigung zu dieser Meinungsäußerung wie über den Zweck derselben einige Worte vorausschicke. Viele glauben vielleicht, ich hätte als Bischof keine Berechtigung oder jedenfalls keine hinreichende Veranlassung, mich in derartige Dinge einzumischen; Andere werden meinen, ich dürfe als katholischer Bischof mich höchstens an die Katholiken wenden. Ich bin anderer Ansicht.

Ich glaube schon insoweit ein Recht zu haben, über die Arbeiterfrage öffentlich mein Urtheil abzugeben, als dieselbe sich mit den materiellen Bedürfnissen des christlichen Volkes beschäftigt. In dieser Hinsicht ist sie auch eine Frage der christlichen Liebe. Unser göttlicher Heiland hat die christliche Religion mit Allem für immer und unauflöslich verbunden, was sich auf die Milderung des geistigen und leiblichen Elendes der Menschen bezieht. Nach dieser Anweisung hat die Kirche überall und zu allen Zeiten gehandelt. Die Uebung der christlichen Liebe in den Werken der christlichen Barmherzigkeit ist stets ein hervorragender Theil des Lebens der christlichen Kirche gewesen. Aus ihr ist die großartige Fürsorge für alle Noth der Menschen hervorgegangen. Jede Frage, die sich mit Abhilfe des Nothstandes beschäftigt, ist daher wesentlich eine christliche, eine religiöse, an der die Kirche und alle ihre lebendigen Glieder sich auf das Innigste betheiligen sollen.

Ich bin ferner berechtigt, über diese Angelegenheit ein Urtheil abzugeben, um zu erörtern, welche Stellung das Christenthum mit seinen Lehren und seinen eigenthümlichen Mitteln zu dieser wichtigen Frage einnimmt. Jeder Christ, der nicht gedankenlos unter den wichtigsten Zeitereignissen dahinleben will, muß ja hierüber mit sich im Reinen sein. Man will den „sittlichen und wirthschaftlichen Zustand der arbeitenden Classe“ heben und macht für diesen Zweck bestimmte Vorschläge. Was kann wichtiger sein, als zu wissen, wie diese Vorschläge sich zum Christenthum verhalten? ob wir ihnen beistimmen, sie unterstützen dürfen oder nicht? welche besonderen Mittel das Christenthum besitzt für die sittliche und wirthschaftliche Hebung des Arbeiterstandes? Das sind aber lauter Fragen, die innig mit der christlichen Religion zusammenhängen und die ich als Christ und als Bischof gleichmäßig zu beurtheilen berufen bin.

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Es ist keine Täuschung darüber mehr möglich, daß die ganze materielle Existenz fast des ganzen Arbeiterstandes, also des weitaus größten Theiles der Menschen in den modernen Staaten, die Existenz ihrer Familien, die tägliche Frage um das nothwendige Brod für Mann, Frau und Kinder, allen Schwankungen des Marktes und des Waarenpreises ausgesetzt ist. Ich kenne nichts Beklagenswertheres als diese Thatsache. Welche Empfindungen muß das in diesen armen Menschen hervorrufen, die mit Allem, was sie nöthig haben und was sie lieben, täglich an die Zufälligkeiten des Marktpreises angewiesen sind! Das ist der Sklavenmarkt unsers liberalen Europa's, zugeschnitten nach dem Muster unsers humanen, aufgeklärten, antichristlichen Liberalismus und Freimaurerthums.

IV. DIE ZWEI GRÜNDE DIESES ZUSTANDES

So war es nicht immer. Diese Zustände des Arbeiterstandes sind vielmehr erst in den modernen Staaten allgemein geworden. Damit urtheilen wir noch nicht, wir sprechen nur die Thatsache aus, daß diese Schwankungen in der Lebensstellung des gesammten Arbeiterstandes, demgemäß er mit seiner ganzen Existenz auf den Tagelohn angewiesen, der Tagelohn aber eine Waare geworden ist, deren Preis sich täglich durch Angebot und Nachfrage bestimmt, fast immer nur den Werth des allernothwendigsten Lebensunterhaltes darstellt und oft unter ihn herabsinkt, der Vergangenheit fremd waren und erst mit der Neugestaltung der staatlichen Verhältnisse seit der Revolution eingetreten sind.

Es ist daher überaus wichtig, auch die Gründe dieser Zustände, die modernen volkswirthschaftlichen Prinzipien, aus denen sie hervorgegangen sind, genau kennen zu lernen. Wir können sie mit voller Sicherheit und unläugbarer Richtigkeit bezeichnen. Wir brauchen dazu nur das Gesagte vor Augen zu behalten und uns die Frage vorzulegen, was die Arbeit zur Waare gemacht hat und was ihren Werth auf die unterste Stufe der Lebensnothdurft herabdrängt.

Der Preis der Waare wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt; Angebot und Nachfrage richtet sich nach der Concurrenz. Die Concurrenz wird aber auf den höchsten Grad durch Entfernung aller natürlichen und künstlichen Hindernisse gebracht, insbesondere also durch Entfernung aller Schranken, die den Handel behindern. Allgemeine Handelsfreiheit ist daher zugleich Eröffnung der höchsten Concurrenz, und höchste Concurrenz drückt den Preis der Waare bis zur äußersten Grenze der nothwendigsten Productionskosten herab. Wenn aus allen Theilen der Welt die Waare auf einen Markt zusammenfließen kann, so wird die wohlfeilste Waare derselben Güte den Sieg davontragen und alle anderen Producenten entweder verdrängen oder nöthigen, denselben Preissatz anzunehmen. Je allgemeiner die Handelsfreiheit, desto allgemeiner die Gültigkeit dieses Satzes, der bei der Leichtigkeit der Verkehrsmittel und der Mittheilung der Preissätze von dem einen Theil der Welt nach dem anderen noch unerbittlicher wird. Nur die Kosten des Waarentransportes machen eine kleine Modification und bilden eine gewisse natürliche Grenze gegen dieses Gesetz des Freihandelsystems. Die unermeßlichen Erleichterungen im Waarentransport heben aber auch diese Schranke fast wieder auf.

Wenden wir das Alles auf die zur Waare gewordene Arbeit an, so haben wir mit voller Evidenz den wahren Grund der angegebenen Arbeiterzustände. Der Arbeiterlohn wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Das Angebot und die Nachfrage richten sich, wie bei der Waare, so auch bei der Arbeit, nach der Concurrenz. Der höchste Grad der Concurrenz bei dem Angebote muß den Arbeiterlohn bis zur äußersten Grenze herabdrücken. Diese wird aber hervorgerufen, wenn alle Schutzmittel der Arbeit entfernt sind. Was die Entfernung aller Handelsgrenzen für die Waare, das ist die Entfernung aller Gewerbegrenzen für den Arbeiterstand. Unbedingte und allgemeine Gewerbefreiheit muß mit mathematischer Nothwendigkeit, mit derselben Consequenz, mit der zwei mal zwei vier macht, die allgemeinste Concurrenz unter den Arbeitern hervorrufen; die höchste Stufe der allgemeinen Concurrenz muß aber mit derselben Nothwendigkeit den Arbeiterlohn auf die unterste Stufe herabdrücken.

Damit haben wir den einen Grund der Lage des Arbeiterstandes in den modernen Staaten ausgesprochen, es ist die allgemeine Gewerbefreiheit. Es ist unmöglich, diese Thatsache zu läugnen. Arbeit ist Waare geworden, beide kauft man für den geringsten Preis bei der allgemeinsten Concurrenz von dem Mindestfordernden. Wer kann das mit gesunden Sinnen läugnen? Es ist wichtig, dies oft und wiederholt auszusprechen, denn das eben verschweigen die Parteien, die sich an das Volk herandrängen, sowohl die große liberale Partei, die vorzugsweise aus dem Freimaurerthum, aus den Repräsentanten des großen Kapitals, aus dem rationalistischen Professorenthum und dem gewöhnlichen Literatenthum, das an dem Tische dieser hohen Herren ißt und für sie täglich reden und schreiben muß, zusammengesetzt ist, nach Außen aber für das Wirken im Volke gegenwärtig, bis ein neues Schlagwort Mode wird, die gemeinschaftliche Firma „Nationalverein“ und „Fortschrittspartei“ angenommen hat, als auch die eigentlich radicale Partei, die sich sonst durch eine gewisse ehrliche Consequenz vor der großen liberalen Partei auszeichnet. Beide vereinigen sich darin, daß unbedingte Gewerbefreiheit ein Postulat sei, über das nicht mehr disputirt werden könne. Wir entscheiden hier noch nicht, ob dies wahr ist, sondern behaupten, daß, selbst wenn die Gewerbefreiheit nothwendig ist, man es dennoch nicht dem Volke verschweigen sollte, daß die unbedingte Gewerbefreiheit unmittelbar und nothwendig jenen Zustand der gesammten Arbeiterbevölkerung zur Folge hat. Jene Parteien gleichen einem angeblichen Freund, der seinen Freund ins Wasser geworfen hat, und nun, am Ufer stehend, alle möglichen Theorien darüber entwickelt, wie dieser ertrinkende Mann gerettet werden könnte, für diese ersprießliche Thätigkeit aber, ohne auch nur daran zu denken, daß er ihn selbst in diese Lage gebracht habe, das Prädicat der humansten Gesinnung und rührender Freundschaft in Anspruch nimmt.

Damit will ich übrigens nicht den Zunftzwang in seiner späteren Entwickelung alleweg in Schutz nehmen und ebensowenig alle Bestrebungen verwerfen, die eine größere Gewerbefreiheit fordern. Um diesen Schein zu meiden, müssen wir diesen Gegenstand näher betrachten.

Die Autorität und die Freiheit haben das an sich, daß beiden ewige göttliche Gedanken zu Grunde liegen, von deren Entwickelung das Heil der Menschen abhängt, die aber, da sie von Menschen hier gehandhabt werden, nie in ihrer vollen Reinheit zu Tage treten, sondern immer behaftet mit menschlicher Armseligkeit und mißbraucht von menschlicher Selbstsucht. So geht es der Autorität; es liegt in ihr ein göttlicher Gedanke, sie ist unmittelbar Ausfluß der göttlichen Autorität selbst und soll sie in allen Verhältnissen, wo sie auftritt, in den höchsten und niedrigsten Formen repräsentiren. Unaussprechlich lächerlich ist es, für diese Autorität eine Art Surrogat im Volkswillen finden zu wollen. Aber die Autorität, die in ihrem Wesen so göttlich ist, wird von Menschen gehandhabt, und diese Handhabung ist wahrlich nicht immer göttlich, sie wird mißbraucht im Dienste des Egoismus und kann die Angelegenheiten der Menschen auf Erden bis zum Höhepunkt des Verderbens bringen. Dann tritt unfehlbar der Zeitpunkt ein, wo die mißhandelte Freiheit herausbricht mit einer Art innerer Naturnothwendigkeit. Die Freiheit hat auch einen unzerstörbaren göttlichen Gedanken zur Grundlage, aber auch sie, von Menschen gehandhabt, wird unaussprechlich mißbraucht. Die Form, in der der Mißbrauch der Freiheit auftritt, ist der Ungehorsam, die Empörung gegen das rechtmäßige Gesetz und die rechtmäßige Autorität. Im Christenthum ist sie die Sünde. Auch sie kann bis zu einem äußersten Grad des Verderbens führen, wo sie dann gleichfalls mit einer gewissen Nothwendigkeit ihr Gegentheil hervorruft. So schwanken diese beiden Gegensätze auf Erden wie ein immerwogendes Meer gegeneinander, so lange die Weltgeschichte dauert, und jene Menschen erfüllen unter diesen Verhältnissen die ihnen von Gott gegebene Bestimmung, die sich bestreben, Autorität und Freiheit zuerst in ihrem eigenen Leben, und dann in ihrer Stellung, die ihnen Gott nach Außen gegeben hat, zu versöhnen und zu vereinigen. Diese Grundverhältnisse reflectiren in allen anderen menschlichen Verhältnissen, und sie werfen auch ihr Licht und ihren Schatten auf die Fragen, die wir hier behandeln. Zunftzwang ist eine Beschränkung der Freiheit, der Gewerbefreiheit, repräsentirt also in gewisser Hinsicht die Autorität, die eben den Mißbrauch der Freiheit verhindern und beseitigen soll. Der Zunftzwang war seiner Idee nach ein Schutz für die Arbeiter, eine Art Vertrag zwischen dem Arbeiterstande und der übrigen Gesellschaft. Nach demselben gewährte der Arbeiterstand die nöthige Arbeit, die Gesellschaft aber gewährte den Arbeitern durch Beschränkung der Concurrenz einen höheren Lohn, um ihre Lebensexistenz zu sichern und sie nicht täglichen Schwankungen auszusetzen. Wer einem Anderen eine Arbeit liefert und sein Leben daran setzen muß, der hat an eine gewisse gesicherte Fortexistenz und an den Schutz, daß seine Existenz nicht täglich durch die Concurrenz in Frage komme, ein moralisches Recht. Alle Stände haben einen solchen Schutz durch natürliche und künstliche Schranken. Warum sollte der Arbeiter ihn allein entbehren müssen? Warum sollte der Arbeiter allein täglich sein Leben lang mit dem Gedanken hinter seiner Arbeit stehen müssen: ob ich morgen noch meinen Lohn, von dem ich mit Frau und Kindern lebe, haben werde, weiß ich nicht; vielleicht kommt morgen eine Schaar hungeriger Arbeiter aus einer fernen Gegend und bietet mich ab mit meiner Arbeit, und ich muß mit Frau und Kindern hungern. Der reiche Kapitalist hat in seinem Kapital einen tausendfachen Schutz für seinen Geschäftsbetrieb, die Handelsfreiheit ist in diesen Regionen von einer Seite her doch nur Schein; der Arbeiter aber soll keinen Schutz haben, deßhalb wird das zünftige Gewerbe beschimpft. Damit ist gewiß nicht gesagt, daß der Zunftzwang in seiner Entwickelung fehlerfrei gewesen sei. Die Autorität ist mißbraucht worden, ohne daß deßhalb die Autorität selbst verworfen werden könnte. So ist auch der Zunftzwang, weil er seine gehörige Entwickelung nicht erhalten, im hohen Grade mißbraucht worden. Er hat oft der Trägheit und dem Egoismus gedient, die Waare ungebührlich vertheuert und die Consumenten durch schlechte Waare in ihrem Rechte beeinträchtigt; er bedurfte deßhalb einer Umgestaltung. Aber sein Princip war berechtigt und mußte erhalten werden. Dem Zunftzwang gegenüber steht die Gewerbefreiheit in einem ähnlichen Verhältniß wie der Autorität gegenüber die Freiheit. Auch sie hat ihr Maß der Berechtigung, aber auch ihr berechtigtes Maß der Beschränkung. Der Zunftzwang in seinem Mißbrauche und verknöcherten Egoismus hat den Ruf nach Gewerbefreiheit hervorgerufen. Die Gewerbefreiheit hat die Waaren unermeßlich vermehrt, vielfach verbessert, den ungebührlichen Preis der Waare herabgedrückt und so den weitesten Kreisen der weniger bemittelten Menschenclassen die Befriedigung mancher Lebensbedürfnisse eröffnet, von denen sie früher ausgeschlossen waren. Aber sie hat auch ihre nothwendige Grenze und ihr gesetztes Maß, und wenn diese überschritten werden, so führt sie geradeso zu unseligen Consequenzen wie der mißbrauchte Zunftzwang.

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Das erste Hilfsmittel, welches die Kirche dem Arbeiterstande auch fortan bieten wird, ist die Gründung und Leitung der Anstalten für den arbeitsunfähigen Arbeiter.

Wir haben schon bemerkt, daß die große liberale Partei, nachdem sie zuerst das christliche Almosen, um ihre hochgepriesene Selbsthilfe recht in den Vordergrund zu stellen, mit großer Mißgunst behandelt hat, doch auch anfängt, die Gründung der Anstalten für arbeitsunfähige Arbeiter in den Kreis ihrer Thätigkeit hereinzuziehen. Dieses Gebiet wird aber auch in Zukunft wie bisher vor Allem dem Christenthum, der Kirche und der christlichen Nächstenliebe angehören. Fast alle Fonds, Häuser und Anstalten, die in diesem Augenblick im christlichen Europa diesen Zwecken dienen, verdanken wir dem Christenthum und seinem Geiste. Was im Vergleich dazu der Humanismus geschaffen hat, ist unbedeutend. Der gesammte arbeitsunfähig gewordene und auf fremde Hilfe angewiesene Arbeiterstand verdankt auch jetzt noch dem Christenthum, dessen Segnungen er selbst oft nicht mehr erkennt, alle die Hilfe, die er in den zahlreichen Zufluchtsstätten der Armuth, in den Krankenhäusern, in den Armenhäusern, in den Invalidenanstalten etc. findet. Aber nicht nur die Fonds für ähnliche Anstalten hat der christliche Geist aufgebracht, sondern auch die innere Einrichtung derselben, die Pflege, die dort der arbeitsunfähige Arbeiter findet, kann nur das Christenthum in einer Weise bieten, daß dadurch das Elend der Armen in der höchst möglichen Weise gemildert wird. Der hilflose Arbeiter hat noch nicht, wie wir schon oben bemerkt haben, die wahre Hilfe gefunden, wenn er in einer Anstalt Aufnahme findet, sondern es kömmt darauf an, daß er in ihr auch die rechte Pflege, die liebevolle Behandlung finde. Ich glaube nun zwar, daß es auch dem Humanismus gelingen wird, hie und da unter besonders günstigen Verhältnissen eine Zeitlang, namentlich durch den Einfluß einzelner hervorragender Persönlichkeiten und für die Dauer ihres Lebens, dergleichen Anstalten auf eine gewisse Höhe guter innerer Einrichtungen zu bringen. Schon die Concurrenz mit den christlichen Anstalten zwingt ihn zur äußersten Kraftanstrengung und nöthigt ihn, einzelne Musteranstalten herzustellen, die vielleicht noch mit größerem Glanze eingerichtet sind und die deßhalb den Schein an sich tragen, ebenbürtig neben jenen zu bestehen. Im Ganzen und Großen aber wird es allen Parteien, die jetzt der Welt helfen wollen ohne die übernatürlichen Kräfte und Gaben, die Gott im Christenthum niedergelegt hat, nimmermehr gelingen, den Arbeitern, die arbeitslos geworden sind, in den verschiedenen Zufluchtsstätten neben der Aufnahme auch noch eine Behandlung, eine Pflege zu bieten, wie das Christenthum es vermag. Die innere Einrichtung und Leitung der Krankenhäuser und Armenhäuser ist etwas unendlich Schwieriges. Mit dem Alter wird der arbeitsunfähige Arbeiter immer hilfloser und hilfsbedürftiger. Er wird schwach am Leib und schwach am Geiste. Die Fehler und Leidenschaften, die bösen Angewöhnungen des früheren Lebens treten dabei immer mehr zu Tage. Neigung zur Unreinlichkeit, oft in erschreckendem Maße, Trägheit, Trunksucht, Zanksucht u. s. w. finden sich da zusammen. Es gibt vielleicht kein Haus, wo so die ganze Armseligkeit der Menschennatur sich zusammenfindet, als in solchen Anstalten. Wer da aushalten und alle diese geistliche und leibliche Gebrechlichkeit mit liebevoller Pflege überwinden will, der muß mit einem Herzen hinkommen, das von einer mehr als bloß menschlichen und irdischen Liebe erfüllt ist. Wo das nicht der Fall ist, da werden auch die besten und wohlwollendsten Hausväter dem vielen Schlechten gegenüber nach und nach erlahmen, sie werden sich an das Elend dieser Menschen gewöhnen und bald in Gefahr kommen, in ihrer Handlungsweise vielfach die Gesetze der höheren Nächstenliebe zu verletzen. So weit ich Gelegenheit gehabt habe, in meinem Leben ähnliche Anstalten kennen zu lernen, habe ich mich davon überzeugt, daß trotz aller Humanitätsgrundsätze, die von den Aufsicht führenden Behörden im überreichen Maße ausgesprochen werden, doch die meisten Anstalten unter rein weltlicher Pflege große Gebrechen der inneren Einrichtung haben und daß viele von ihnen sich in einem Zustande der Verwahrlosung befinden, wo auf der einen Seite Schmutz, Trägheit und Lderlichkeit herrschen, auf der andern Seite aber eine abgestumpfte Gleichgültigkeit gegen all' dieses Elend. Der tägliche Umgang und die jahrelange Pflege der armen Kranken und der armen Invaliden ist ein so mühevolles Geschäft, daß die Menschennatur, nur auf sich angewiesen, dazu nicht ausreicht. Selbst Eltern- und Kindesliebe unterliegen oft unter dieser Last bei langjährigen Krankheiten und Altersschwächen. Wie mancher alte Vater wird von den Kindern lieblos behandelt, weil das Gefühl der Kinder durch die lange Dauer des Elendes mehr oder weniger abgestumpft ist! Wie soll da eine Pflege, bei welcher selbst die Kindesliebe oft nicht mehr ausreicht, von Menschen geübt werden, die lediglich des Lohnes wegen sich diesem Geschäfte widmen? Nur die übernatürliche Liebe, die Christus in die Menschenherzen ausgießt, vermag eine Kraft zu verleihen, die den Armen in den Zufluchtsstätten des menschlichen Elendes eine Pflege zuwendet, so andauernd und so liebevoll, wie der Arme sie in der That bedarf. []

Das zweite Hilfsmittel, welches die Kirche dem Arbeiterstand bietet, um auch seiner materiellen Noth Abhilfe zu gewähren, ist die christliche Familie mit ihrer Grundlage, der christlichen Ehe. Die christliche Familie gewährt dem Arbeiterstande drei wesentliche Vortheile, die auch für seine wirthschaftlichen Verhältnisse von ganz tief eingreifender Bedeutung sind.

Eine Gefahr, die den Arbeiterstand bedroht, liegt in der Auflösung aller wahrhaft organischen Bande, die sein Einzelleben schützen und hüten. Wir erinnern nur an die erste Gruppe der von der liberalen Partei vorgeschlagenen Hilfsmittel. Wie weit diese Auflösung in der Zukunft gehen wird, können wir nicht ermessen. Auch die Familie soll davon nicht ausgeschlossen bleiben. Unter jenen Maßregeln finden wir ja auch schon den Grundsatz, daß die Eheschließung von allen Hemmnissen irgend welcher Art befreit werden soll. Wir wollen nicht leugnen, daß in manchen Gegenden die Schließung der Ehe ungebührlich erschwert ist; auf der andern Seite ist aber eine gewisse Beschränkung berechtigt, in der Vernunft wie im Christenthum wohlbegründet, und eine Aufhebung aller Beschränkungen kann nur den Leichtsinn bei Schließung der Ehe befördern und dadurch die Familie beschädigen. Hierher gehört aber ferner auch das allgemeine Bestreben, die Ehe als ein rein bürgerliches Institut zu betrachten, die Civilehe einzuführen und bürgerlich die Ehe ganz von der Kirche zu trennen. Die Festigkeit der Familie ruht durchaus in der Religion und in der christlichen Lehre von der Ehe. Insbesondere ist die Auffassung der katholischen Kirche, daß die Ehe ein Sacrament ist und daß das Eheband nur durch den Tod gelöst werden kann, die unerschütterliche Grundlage ihrer Festigkeit. Wenn die Ehe lediglich als bürgerliches Institut betrachtet wird und wenn diese Anschauung in einem Volke durchdringen könnte, so wäre es um die christliche Familie und um die christliche Ehe geschehen. Es würde dann die eheliche Verbindung bald auch als ein bürgerlicher Vertrag erscheinen, den man nach Belieben durch gegenseitige Einwilligung wieder aufheben kann, und die Zahl der bürgerlichen Ehescheidungsgründe würde sich in's Unbestimmte vermehren. Dieser Zeitrichtung wird aber die Kirche und das Christenthum in Verbindung mit dem Gewissen des christlichen Volkes einen siegreichen Widerstand entgegenstellen, und es wird ihr nicht gelingen, weder durch Civilehe noch durch Beförderung leichtfertiger Ehebündnisse noch durch Erleichterung der Ehetrennung diesen von Gott gesetzten Organismus [Gen 1,27 f.; 2,18-24], der in seiner segenspendenden Kraft für alle Glieder der Familie unermeßlich ist, zu zerstören.

Eine andere Gefahr für den Arbeiterstand liegt in dem Einfluß, den ärmlichen Lebensverhältnissen auf die Gesundheit und Lebensdauer der Menschen ausüben. Zunächst ist dies eine Folge schlechter Nahrung, schlechter Luft und kümmerlicher Lebensweise. Aber nicht nur Nahrung, Luft und Wohnung entscheiden über das physische Wohlsein der Menschen, sondern ein anderes Verhältniß übt hier noch einen weit größeren Einfluß, nämlich die Keuschheit der Sitte in einem Volke. Sie verbreitet ihren physischen Einfluß bis auf die spätesten Geschlechter. Wenn wir oft bei einem Volke, bei kaum ausreichender Nahrung, blühende Gesundheit antreffen, so ist der Hauptgrund dabei keusche, reine Sitte. Wenn zur schlechten Nahrung, zur ungesunden Luft in elenden Wohnungen, auch noch Lüderlichkeit und Unsittlichkeit hinzukommen, dann ist ein Volk auf dem Wege seines größten Verfalles. Dem Zusammenwirken dieser Factoren kann auf die Dauer der edelste Volksstamm nicht widerstehen. Die tiefe Versunkenheit der Sklaven in den altheidnischen Zeiten hatte hauptsächlich hierin ihren Grund, und die rohe Sinnlichkeit dieser armen Menschen war eine Hauptursache für ihre Herren, sie den Thieren gleich zu behandeln. Es ist vollkommen unbegründet anzunehmen, daß irgend ein Volk an sich vor solchen Zuständen durch seine Natur geschützt sei, und diese Ansicht ruht im Grunde schon wieder auf der heidnischen Vorstellung, daß die Natur selbst die Menschen unterscheide und die Einen zum Wohlstand und zur höheren geistigen Cultur, die Anderen aber zur Knechtschaft und zu einem thierischen Dasein bestimme. Armuth und Lüderlichkeit zusammen können in jedem Volke die versunkensten Zustände des Heidenthums wieder hervorrufen; hierfür sind in jeder großen Stadt Europa's die zahlreichsten Beweise aufzufinden. Diese Factoren, die Menschen zu verderben, würden aber im vollsten Maße wirksam werden in dem gesammten ärmeren Arbeiterstande, wenn es gelingen könnte, dem Arbeiter die Familie und die Ehe zu zerstören. Durch die anderen volkswirthschaftlichen Principien ist ein großer Theil des Arbeiterstandes bereits auf die niederste Nothdurft des Lebens herabgedrückt; durch die Auflösung der christlichen Familie würde ihm aber das tödtende Gift der Unzucht mit allen seinen entsetzlichen Wirkungen in das Herz gegossen. Es geht ja doch schon, wie wir alle Tage sehen, ein so unreiner Geist in der Welt um. Wie viele Blätter dienen ihm, natürlich noch in dem Maße, das einem Volke gegenüber geboten ist, welches noch wesentlich christlich ist. Entsittlichende Vergnügungen werden täglich dem Volke angeboten, ja in den Organen der liberalen Partei als die Mittel des höchsten und wahrsten Lebensgenusses demselben angepriesen. Die Erzählungen, die sie bringen, sind vielfach Verherrlichungen der Sittenlosigkeit und aller jener sittlichen Vergehungen, die insbesondere die christliche Ehe und die christliche Familie zerstören. Vom Theater in den großen Städten, wo angeblich die Bildung gepflegt wird, und den eleganten Romanen, die für diese Stände geschrieben werden, bis herab zu den kleinen Volksblättern, die man verbreitet und colportirt, ist es ja vielfach Frivolität, Sinnlichkeit und selbst Ehebruch, die in zahllosen Wendungen und Schilderungen dargestellt werden. Dagegen ist die christliche Kirche eben deßhalb Gegenstand des Hasses, weil sie ihrem göttlichen Gebote nach verpflichtet ist, gegen die Sittenlosigkeit anzukämpfen. Und wo deßhalb irgend ein Mensch, der die Religion übt, sich eines sittlichen Vergehens schuldig macht, wird dies mit höhnischer Freude von der sittenlosen Presse zu einer Waffe gegen die Religion gebraucht. Sie verkündet mit Triumphgeschrei jeden ähnlichen Fehltritt und raubt damit dem Volke und der Welt immer mehr den Glauben an wahre hohe Sittlichkeit und Keuschheit des Lebens. Die Annoncen vieler Blätter bieten eine Art Chronik der täglichen Lüderlichkeit und geben dem Volke die genaueste Kenntniß von allen verborgenen Wegen, auf denen dieses Laster einherschleicht. In England hat diese Richtung bereits eine solche Höhe erreicht, daß Blätter, die ausschließlich diese unselige Seite des Menschenlebens in Erzählungen, Romanen und in der Art einer öffentlich geführten Heirathsvermittlung für das Volk, für die Arbeiter, für die dienende Classe darstellen, in Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt werden. Ich zweifle nicht, daß diese Zustände in England unter der arbeitenden Bevölkerung wesentlich dazu mitgewirkt haben, in einigen Classen und Gegenden die Lebensdauer bis auf das durchschnittliche Lebensalter von fünfzehn Jahren herabzubringen. Was hätten wir aber erst zu erwarten, wenn unter solchen Verhältnissen die unbedingte Freiheit, Ehebündnisse zu schließen und zu lösen, eingeführt würde und die Civilehe zugleich im Geiste der Aufklärerei Herrschaft über das Volk gewinnen könnte! Es liegt in der Natur der Sache, daß die Arbeiter sich vielfach in großen Massen zusammenfinden. Sie ziehen in großen Schaaren zur Arbeit und kehren so von der Arbeit zurück; sie leben zusammen in großer Menge in den Arbeitshäusern; auch die verschiedenen Geschlechter sind bei allen diesen Gelegenheiten durcheinander geworfen. Was würde aus diesen Arbeitern werden, wenn das Christenthum seine Lehre über Sittenreinheit, über Keuschheit, über Sünde nicht mehr geltend machen könnte und wenn unter allen reizenden Gelegenheiten und Gefahren man dieser Volksmasse zurief: Es gibt kein festes Eheband mehr, ihr dürft heirathen und auseinanderlaufen, wie ihr wollt! Die Unzucht ist eine Gefahr, die früh an den Menschen herantritt und die oft in früher Zeit ihre allerfürchterlichsten Einflüsse übt, so daß sie sich jeder verhütenden Aufsicht fast entzieht. Nur ein christliches Mutter- und Vaterherz, ausgerüstet mit der ganzen Feinheit des Gefühles, die das Christenthum gewährt, vermag in Verbindung mit denjenigen Mitteln, welche die Religion bietet, die zarte Menschenpflanze vor diesem Pesthauche zu bewahren und ein reines, keusches Geschlecht heranzuziehen. Leichtsinnig geschlossene und leichtsinnig aufgelöste Ehen können dem armen Kinde, das diesen Gefahren hilflos gegenübersteht, weil es sie nicht kennt, diesen Schutz nicht entfernt gewähren. Was müßte aus allen diesen Arbeiterkindern aus solchen leichtfertig geschlossenen und leichtfertig getrennten Ehebündnissen, die täglich allen Gefahren der Verführung und des bösen Beispiels ausgesetzt sind, endlich werden? Physisch auf den elendesten Nothbehelf angewiesen, ohne liebevolle Elternpflege und Elternaufsicht, würden sie in der Unzucht eine Entschädigung für ihr elendes Erdendasein finden wollen und um so gewisser und schneller geistig und physisch zu Grunde gehen. Solche Zustände sind keine Hirngespinnste, sondern vielmehr schon überall in gewissen Verhältnissen in der Entwickelung begriffen, wo die modernen Grundsätze in die Arbeitermassen eingedrungen und die Reinheit des ehelichen und Familienlebens zu beschädigen angefangen haben. Man kann ohne tiefe Wehmuth nicht daran denken, daß diese Richtung tiefer in unseren deutschen Arbeiterstand eindringen könnte. Die Macht des Christenthums wird das verhindern und Gott, der seiner Kirche mit seiner Allmacht zur Seite steht. Die christliche Ehe mit ihrer hohen Idee der Unauflösbarkeit und Heiligkeit wird diesem Gifte in dem Menschengeschlechte einen siegenden Widerstand entgegenstellen. Die Kirche wird dem Arbeiterstande die Ehe und den Arbeiterkindern die christliche Familie, das christliche Vater- und Mutterherz retten. Das aber ist die erste und nothwendigste Bedingung, die Arbeiterfrage zu lösen. So lange noch unsere Arbeiter die christliche Familie haben, der Mann das christliche Weib, das Weib den christlichen Mann, die Kinder christliche Eltern, die Eltern gute christliche Kinder, die das vierte Gebot [Ex 20,12] noch kennen, so lange hat die Zerrüttung im Arbeiterstande eine feste Schranke, die sie nie überschreiten kann.

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Das dritte Hilfsmittel, wodurch das Christenthum dem Arbeiterstande hilft, besteht in seinen Wahrheiten und Lehren, die dem Arbeiterstande zugleich die wahre Bildung geben. Wenn die liberale Partei dem Arbeiterstande in ihrer Lehre von der Selbsthilfe und in ihren Arbeiterbildungsvereinen eine höhere Ausbildung verspricht, so ist das, in wieweit dabei von den Bildungsmitteln des Christenthums abgesehen wird, leerer Schein und eitle Täuschung. Nur das Christenthum bietet ihm die wahre Bildung. Wie ein Brodkörnlein, das von einem Tische auf die Erde herabgefallen ist [Lk 16,21], sich verhält zu der reichbesetzten Tafel, so verhalten sich alle diese Bildungsmittel einer rationalistischen Weltanschauung zu denen des Christenthums. Das Christenthum mit seinen unermeßlichen Heilkräften kennen sie nicht, und wenn sie dann einige vom Christenthum gleichsam herabgefallene Brosamen finden, so preisen sie diese der Welt an, als ob sie ein neues unbekanntes Heilmittel gefunden hätten, während das, was sie haben, nur ein kleines verkümmertes Theilchen ist von dem, was das Christenthum den Menschen anbietet.

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Das Christenthum gewährt endlich dem Arbeiterstande jene Tugenden zu seiner Ausbildung, die ihm auch für seine materielle Existenz so nothwendig sind und gleichfalls dazu beitragen, seinen elenden Taglohn gleichsam zu vermehren und zu versüßen; es gibt ihm eine innere Freudigkeit des Herzens und einen inneren Frieden, die die Arbeit erleichtern; es leitet ihn an zur Mäßigkeit, Sparsamkeit und Enthaltsamkeit, die den Wohlstand vermehrt; es bietet ihm Familienfreuden, die ihm das Wirthshaus entbehrlich machen; es bewahrt ihn vor dem Einfluß böser Leidenschaften und erhält ihn dadurch gesund und kräftig, daß ihm die Arbeit um so viel leichter werde.

So gewährt das Christenthum dem Arbeiter die wahren Mittel zur Selbsthilfe, indem es die ganze Persönlichkeit des Menschen zur Entfaltung aller seiner Kräfte anleitet, und gewährt ihm die wahre Bildung, indem es ihm Wahrheiten und Tugenden verkündet, die allein bilden können.

Das vierte Hilfsmittel des Christenthums zur Verbesserung der materiellen Lage des Arbeiterstandes besteht in den socialen Kräften desselben.

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Wir meinen hier erstens das Unternehmen des Handwerkervereins, der seit einigen Jahren entstanden ist und den Handwerkerstand wieder in eine zusammenhängende Genossenschaft vereinigen will. Der Gedanke, der diesem Versuche zu Grunde liegt, ist gewiß ein tief berechtigter, der eine Lösung finden muß. Wir wünschen von ganzem Herzen, daß schon der jetzt gemachte Versuch zu einem Resultate führen möge. Wenn die Regierungen, nicht im Dienste der liberalen Partei, von der ich auf keinem Gebiete Gutes erwarte, sondern mit Selbstständigkeit und Sachkenntniß dem Handwerkerstande eine Ordnung bieten würden, in der er sich wieder zur nöthigen Selbstständigkeit und zu einer lebenskräftigen Genossenschaft entfalten könnte, so würden wir das für eine der weitgreifendsten und segensreichsten Maßregeln halten, deren Resultate sich gar nicht vorher bestimmen ließen. Es scheint aber fast, als ob wir ein- für allemal auf eine schöpferisch entwickelnde Thätigkeit der Regierungen in der Gegenwart verzichten müßten. Um so wichtiger ist es aber, daß alle schöpferischen und schaffenden christlichen Kräfte dieses Bestreben, den Handwerkerstand wieder zu einem Stande zu machen, so viel sie vermögen, unterstützen.

Das zweite Unternehmen, das wir an dieser Stelle noch erwähnen müssen, sind die Gesellenvereine. Da sie hauptsächlich auf katholischem Gebiete entstanden sind, so dürfen wir sie mit allem Rechte einen katholischen Beitrag zur Lösung der Arbeiterfrage nennen. Schon das bisherige Resultat derselben übertrifft alle Erwartung und zeigt uns zugleich, was aus diesen Gesellenvereinen werden kann, wenn ihre ganze Entwickelung bis zum vollen Abschluß gebracht wird. Gott hat sich eines Gesellen bedient, um dieses Werk in Angriff zu nehmen, und nachdem er ihn in den Priesterstand erhoben, hat er den hochwürdigen Herrn KOLPING, diesen alten Gesellen, zu einem wahren Vater des Gesellenstandes gemacht. Möge Gott ihn forthin als Werkzeug gebrauchen, um dieses Werk zu befestigen. Das wird mehr und mehr geschehen, wenn das genossenschaftliche Princip, getragen vom Geiste des Christenthums, sich immer mehr in diesen Vereinen entfaltet und sie Alle zu lebendigen Gliedern eines Körpers macht.

Als fünftes Hilfsmittel, dem Arbeiterstande durch das Christenthum zu helfen, nennen wir endlich die Förderung der Produktiv-Associationen durch die besonderen Mittel, die eben nur dem Christenthum zu Gebote stehen.

Das Wesen der Produktiv-Associationen haben wir in der Theilnahme der Arbeiter am Geschäftsbetriebe selbst erkannt. Der Arbeiter ist in ihnen zugleich Geschäftsunternehmer und Arbeiter und hat daher einen doppelten Antheil an dem Einkommen, den Arbeiterlohn und seinen Antheil an dem eigentlichen Geschäftsgewinne.

Es ist nicht nöthig, hier den großen Werth der Produktiv-Associationen für die Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes weiter zu begründen. Wir wissen nicht, ob es jemals gelingen wird, allen Arbeitern oder auch nur dem größten Theil derselben die Vortheile dieser Genossenschaften zu bieten. Es liegt aber in ihnen eine herrliche Idee, die unsere Theilnahme und Unterstützung im allerhöchsten Grade verdient. Sie bietet, so weit sie ausführbar ist, die unmittelbarste und handgreiflichste Lösung des gestellten Problems, da sie ja außer dem durch den Marktpreis auf die niedrigste Stufe herabgedrückten Arbeiterlohn, den der Arbeiter jetzt erhält, dem Arbeiter noch eine neue Quelle des Einkommens eröffnet. LASSALLE will diesen Plan verwirklichen durch Kapitalvorschüsse aus der Staatscasse. Wir haben die Ansicht ausgesprochen, daß wir diese Hilfe wenigstens als allgemeines Princip, d. h. als eine Zwangspflicht für die wohlhabenden Classen, in Weise einer aufzubringenden Steuer aus ihrem Vermögen dem Arbeiterstande die nöthigen Kapitalien zu geben, für einen Eingriff in das Eigenthumsrecht und eine Ueberschreitung der rechtmäßigen Grenzen des staatlichen Besteuerungsrechtes ansehen müssen und daß wir ferner auch die Ausführbarkeit dieser Maßregel in der Art, daß damit eine friedliche geordnete, staatliche Entwickelung bestehen könnte, bezweifeln müssen. []

So oft ich aber diese Verhältnisse und Schwierigkeiten überlegt habe, so oft ist auch die Zuversicht und die freudige Hoffnung in mir aufgelebt, daß die Kräfte, die im Christenthum die Herzen bewegen, auch auf diesem Gebiete dem Arbeiterstande zu Hilfe eilen und die Idee der Produktiv-Associationen im größeren Umfange verwirklichen werden. Es gehören dazu große Kapitalien, und ich bin weit von dem Gedanken entfernt, daß sich diese Hilfe für den Arbeiterstand wie auf einmal und plötzlich und überall verwirklichen werde; ich sehe aber diese Verwirklichung wie von ferne und hoffe, daß die Fundamente hierzu von christlichen Seelen bald hier, bald dort in Angriff genommen werden. Das Christenthum ist bei allen seinen Unternehmungen eine Kraft, die von innen herauswirkt, langsam voranschreitet, dann aber auch unfehlbar die allererhabensten und unerwartetsten Dinge zum Heile der Menschen vollbringt. Es mögen noch viele Zwischenfälle eintreten, bis dieses Wirken des Christenthums die nöthige Ausdehnung gewinnt. Der Geist des Christenthums hat auch Jahrhunderte gearbeitet, bis die großen alten römischen Familien ihre Sklaven zu Tausenden entließen und ihnen die Freiheit gaben. Vielleicht wird noch mancher SCHULZE-DELITZSCH auftreten und dem Arbeiterstande Rettung und Heil verkünden, bis auch der Thurm, den der Letzte von ihnen aufbaut, zusammenstürzt und dem armen Arbeitervolke die neue traurige Erfahrung bietet, daß es getäuscht ist und seine Hoffnungen eitel waren. Vielleicht muß sogar die Welt auch das LASSALLE'sche Programm praktisch durchprobiren und nach allen großen Trübsalen, die aus diesem gefährlichen Manöver, namentlich wenn es in die Hände schlechter Demagogen übergehen sollte, entstehen können, an sich selbst erfahren, daß auch die Demokraten ihnen nicht zu helfen vermögen, wenn sie ihre philanthropischen Ideen auf den bloßen Flugsand menschlicher Ansichten statt auf den Fels des Christenthums bauen. Wie und wann daher das Christenthum auch in dieser Weise dem Arbeiterstande helfen wird, können wir nicht wissen. Dagegen zweifeln wir nicht, daß, was immer Wahres und Gutes und Ausführbares in der Idee der Produktiv-Associationen liegt, durch das Christenthum vollbracht werden wird. Freilich steht in diesem Augenblicke jener Stand, der hier Großes wirken könnte, der Stand der reichen Kaufleute, der reichen Industrie und der großen Kapitalisten in seiner Mehrzahl dem Christenthum ziemlich ferne; er bildet ja jetzt vor allem die bewegende, bezahlende, besoldende Macht der großen liberalen Partei. Doch hat auch hier noch das Christenthum seine treuen Anhänger, und was Anderen abgeht, braucht nicht immer so zu bleiben. Es war eine Zeit, da auch die alten reichen römischen Patricierfamilien, in denen die römische Matrone nur zum Putze ihres Körpers sich von einigen hundert Sklavinnen bedienen ließ, dem Christenthum sehr ferne standen, und doch kam die Zeit, wo die Kinder dieser Familien die Sklaven entließen, mit ihrem ganzen Vermögen Italien mit Wohlthätigkeitsanstalten für die armen Sklaven bedeckten und selbst aus Liebe für Christus ihr Leben dahingaben. Das Christenthum ist so wunderbar! Wer heute sein Feind ist, fällt morgen vor dem Kreuze anbetend nieder, und der Sohn des Mannes, der Christum verflucht hat, gibt aus Liebe zu Christus sein Blut dahin. Doch dem sei, wie ihm wolle; das Christenthum ist so überreich an Mitteln, daß es, wenn es so Gottes Wille ist, die Herzen der Christen auf dieses Gebiet hinzulenken, nicht schwer fallen wird, nach und nach auch die größten Kapitalien zusammenzubringen, die zur Schaffung der Produktiv-Associationen nöthig wären. Es sind zwei Systeme der Besteuerung, das eine übt der Staat, das andere das Christenthum. Der Staat besteuert durch äußeren Zwang nach Steuergesetzen, Steuerlisten und durch Steuerboten, das Christenthum besteuert durch das innere Gesetz der Liebe, und der Steuerzwang und die Steuertaxe und der Steuerbote sind da der freie Wille und das Gewissen. Alle großen Staaten Europa's gehen fort und fort mit ihren Steuersystemen zu Grunde, und aus diesen Geldverlegenheiten ist jenes Geheimniß der Iniquität und Corruption, jenes weltumspinnende Netz der Börsenspeculation mit aller sittlichen Corruption, die aus diesem Sumpfe entsteht, hervorgegangen. Das Christenthum dagegen mit seinem Steuersystem hat noch für alle seine großen Unternehmen immer den reichsten Ueberfluß aller denkbaren Mittel gefunden. Welche Kapitalien hat das Christenthum durch seine freiwilligen Besteuerungen im Gewissen und im Herzen guter Christen schon zusammengebracht? Wenn wir an alle diese Kirchen, alle diese Klöster, alle diese Anstalten der christlichen Liebe für jede denkbare menschliche Noth und Gebrechlichkeit, alle die in der ganzen Welt gegründeten Pfarreien und Bisthümer, alle die in der ganzen Welt angesammelten Armenfonds, alle die durch das Christenthum gegründeten Schulen und Lehranstalten, alle diese alten Universitätsfonds denken und uns vorstellen, daß fast das Alles ohne Ausnahme durch freiwillige Gaben geschaffen und gegründet ist, welche Vorstellung müssen wir uns dann von der Lebenskraft des Christenthums machen? Und so war das Christenthum nicht nur in alten Tagen, ganz so ist es ja heute noch. Wenn wir die Wohlthätigkeitsanstalten, die in der Dauer unseres Lebens durch freiwillige Gaben geschaffen wurden, zusammenrechneten, welche Summe würde sich ergeben? Hat doch diese freiwillige Besteuerung des christlichen Geistes in den letzten fünf Jahren allein dem hl. Vater dreiundzwanzig Millionen dargereicht. Mögen unsere Gegner von dem Nutzen der Verwendung dieser Gaben denken, was sie wollen; sie müssen doch wenigstens zugeben, daß eine Kirche, die eine solche Realität zu Tage bringt, eine entsprechende innere Kraft besitzt, die sie nicht haben. Wie sollten da dem Christenthum die Mittel vorenthalten bleiben zur Schaffung der nöthigen Anstalten für den Arbeiterstand?

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Möge daher Gott in seiner Gnade bald die Männer erwecken, die diese fruchtbare Idee der Produktiv-Associationen im Namen Gottes auf dem Boden des Christenthums in Angriff nehmen und zum Heile des Arbeiterstandes zur Ausführung bringen. Ein großer Theil der Arbeiter in den zahlreichsten Fabrikbezirken ist jetzt in Händen glaubensloser Männer und an ihren Lohn angewiesen; ihre Existenz ist doppelt gefährdet. Sie hängen nicht nur mit ihrer Lebensnothdurft von dem Tagelohn, der ihnen täglich entzogen werden kann, ab; sie sind überdies in Gefahr, daß ihre reichen Fabrikherren ihnen für diesen elenden Lohn auch noch ihren Glauben und ihr Gewissen abkaufen. Das ist ja so überaus betrübend und empörend bei dieser neuen Sklaverei unserer Tage. Wie manche reiche Fabrikherren benutzen den ganzen Einfluß, den sie dadurch haben, daß diese armen Leute ihnen dienen müssen, um ihnen ihren Christenglauben aus der Seele zu reißen. Ich sage, dadurch, daß sie ihnen dienen müssen; denn wenn man mir antwortet, daß der Fabrikarbeiter freiwillig arbeite, so antworte ich, daß diese Freiwilligkeit eine Täuschung ist. Hier verhält es sich wieder wie mit der Concurrenz und wie mit diesem ganzen liberalen volkswirthschaftlichen System, es ist voll Schein und Widerspruch mit der Wirklichkeit. Der arme Arbeiter lebt da in seiner Heimath, in der Nähe des Geschäftes. Man sagt ihm, es besteht Freizügigkeit, du kannst dir wo anders dein Brod suchen. Wie kann aber dieser Mann mit Frau und Familie auf Reisen gehen, um diesen Versuch zu machen! Er kann nicht einen Tag den Tagelohn entbehren, ohne zu hungern; wie kann er auf den Zufall hin, ob er Arbeit findet, Wochen lang auf Reisen gehen und nicht nur den Lohn entbehren, sondern auch die Reisekosten bestreiten! Er würde dem offenbaren Bettel und Hungertode entgegengehen; für ihn besteht keine Freizügigkeit, denn er kann keinen Gebrauch davon machen; er ist durch Naturgesetze an den Platz seiner Heimath gebunden. Die liberale Partei sagt ihm ferner: es besteht Gewerbefreiheit, wähle dir auf der ganzen weiten Welt ein anderes Gewerbe, du brauchst dich mit dem Tagelohn des Fabrikherrn nicht zu begnügen; wenn du es thust, ist es deine Sache. Das ist aber Alles wieder unwahr. Der arme Arbeiter, von dem wir reden, ist Familienvater; er hat die ersten zehn besten Jahre seiner Jugend in der Fabrik gearbeitet; er hat dort schon den besten Theil seiner Gesundheit zugesetzt; er hat auch bei der Theilung der Arbeit in der Fabrik keine andere Geschicklichkeit erlangt als diese eine kleine mechanische Verrichtung, dieses eine Stück einer Gesammtarbeit, das für sich gar keinen Werth hat. Seine Fabriklebensdauer ist vielleicht höchstens vierzig Jahre, und er fängt jetzt schon an, kränklich zu werden, da, wo er zugleich die meisten Bedürfnisse hat. Mag die liberale Partei noch so viel von Gewerbefreiheit reden, für diesen Mann (und das ist fast der Zustand aller Arbeiter in der Welt in einem gewissen Alter) gibt es weder Gewerbefreiheit noch Freizügigkeit; er ist, wenn er nicht verhungern will, mit seiner Familie an diesen bestimmten Ort und an dieses bestimmte Geschäft angewiesen; er muß bei diesem reichen Fabrikherrn arbeiten, und dieses muß ist für ihn ebenso zwingend als für jeden Sklaven, dem man das muß mit der Peitsche und Kette beibringt. So sind zahllose Arbeiter in den Fabrikbezirken, und die Noth dieser armen Menschen, die so von dem Willen ihres Fabrikherrn abhängen und von dieser Abhängigkeit das tiefste Bewußtsein haben, mißbraucht man oft noch, während man zugleich von Humanität und Toleranz in Redensarten überfließt, um sie religiös und sittlich zu ruiniren. Wer kennt nicht solche Fabrikherren, deren große Arbeitshäuser nichts mehr sind als Anstalten, wo unser armes, armes Christenvolk, namentlich unsere christliche Jugend, Lüderlichkeit, Religionsspötterei und jede schlechte Leidenschaft lernt? Was würde es nun für eine Wirkung haben, wenn man beginnen könnte, in diesen modernen Sklavenbezirken der weißen Sklaverei, wo das arme christliche Volk von unchristlichen Fabrikherren mißbraucht wird, auf christlicher Basis eingerichtete Produktiv-Associationen zu gründen? Wenn die christliche Liebe die nöthigen Hilfsmittel zusammenbrächte, die zu einer Geschäftseinrichtung nöthig sind, und nun die Arbeiter aufforderte, bei diesem Geschäft unter der Bedingung zu arbeiten, daß ein Theil des Gewinnes, der nicht zum Geschäftsbetrieb und nöthigen Reservefonds nothwendig ist, ihnen von der christlichen Liebe als Eigenthum zufließen solle? Der Erfolg würde groß sein, und dieser fluchwürdige Einfluß einer von Gott abgefallenen Industrie auf unsern Arbeiterstand wäre vielleicht damit bleibend gebrochen. Möge die Aufmerksamkeit aller christlichen Denker, die durch den christlichen Geist angetrieben sind, über die Noth des Arbeiterstandes und die Mittel, ihnen zu helfen, nachzudenken, sich diesem Gegenstande zuwenden; möge Gott die Menschen erwecken, die Einsicht und Mittel haben, für diesen Zweck zu arbeiten. Wenn man mit solchen Industriezweigen begänne, welche kein sehr bedeutendes Kapital erfordern und dem Unternehmen am Anfang keine allzu große Ausdehnung geben würde, so müßte die Ausführung nicht gar zu schwer sein. Es gibt auch Stände in unserer Zeit, die den Drang haben, für ihre Mitmenschen Gutes zu wirken. Der Adel hat in früherer Zeit einen Theil der großen Klosterstiftungen der Kirche als Opfer dargebracht. Mir scheint, es könnte kaum etwas Christlicheres und Gottgefälligeres geben, als wenn eine Corporation zusammenträte, um für diesen Zweck an einer Stelle, wo die Noth der Arbeiter besonders groß ist, eine derartige Produktiv-Association der Arbeiter auf christlicher Grundlage zu begründen.

Quelle: Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, Hrsg., Erwin Iserloh. Mainz: von Hase & Koehler Verlag, 1977– , Band 1, Teil 1, S. 368–70, 380–85, 432–33, 435–38, 439, 444, 448–50, 451–53, 454–55.