Kurzbeschreibung

Dieser Auszug aus Victor Böhmerts (1829–1918) Buch über die Gewerbefreiheit übt Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen. Böhmert meinte, dass die Befürworter der Zunftordnung in Bremen mit ihren Gesinnungsgenossen deutschlandweit genau das Gegenteil von dem erreichten, was sie eigentlich vorgaben: den Mittelstand zu stärken, der zunehmenden Verarmung von Handwerkern und Arbeitern entgegenzuwirken und deren moralischen Abstieg zu verhindern.

Victor Böhmerts Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen (1858)

  • Victor Böhmert

Quelle

I. Die Gegner der Gewerbefreiheit und ihre Gründe

Die Reform der Gewerbegesetze steht gegenwärtig fast überall in Deutschland auf der Tagesordnung des öffentlichen Lebens. Auch in Bremen hat es nicht an ernstlichen Aufforderungen zur eingehenden Besprechung dieser wichtigen Frage gefehlt, deren Lösung nur auf kurze Zeit durch einen ablehnenden Beschluß der bremischen Bürgerschaft vom 30. September 1857 vertagt worden war. Indem wir diesen Aufforderungen nachkommen und den Fehdehandschuh aufnehmen, welchen die Vertheidiger des Zunftwesens allen Freunden einer freien wirthschaftlichen Bewegung hingeworfen haben, beginnen wir zunächst damit, einige Hauptgründe der Zunftfreunde aufzuzählen, welche sich bereits in den Motiven zu dem bremischen Gewerbegesetz-Entwurf vom Jahre 1850 verzeichnet finden. Es heißt darin: „Die Vortheile des Innungswesens, ist dasselbe zweckmäßig geordnet, liegen klar vor Augen. Sie bestehen darin, daß in sittlicher Hinsicht nichts mehr der Demoralisirung entgegenwirkt als der Geist, welcher sich von selbst in einer eng verbundenen Classe werkthätiger und in ihrem Erwerb gesicherter Menschen herausbildet; darin, daß in politischer Hinsicht der Staat in Solchen kräftige und selbstständige Bürger findet; darin endlich, daß in gewerblicher Hinsicht der Handwerksbetrieb die ihm nothwendige Selbstständigkeit bewahrt, die Ausbildung der Handwerker in der Genossenschaft allgemeiner gefördert und eine angemessene Vertretung des Gewerbestandes und der gewerblichen Interessen ohne Schwierigkeit bewirkt wird, wie auch die für die Gewerbe erforderlichen Bildungs- und Hülfsanstalten alsdann leichter zu beschaffen sein werden. — Herrscht dagegen Gewerbefreiheit, so ist sich Jeder selbst überlassen, die moralische Haltung, welche der Corporationsgeist gewährt, fehlt, der Staat ist der Gefahr, der größten, die unsere Zeit kennt: das Proletariat im fortwährenden Zunehmen zu erblicken, preisgegeben; an eine gemeinsame Vertretung der gewerblichen Interessen, gemeinsame Bildungs- und Hülfsanstalten, die getragen von dem brüderlichen und einmüthigen Streben der Genossenschaften, unter angemessener Beihülfe des Staats lebendig und segensreich wirken, ist nicht leicht zu denken; das ganze Wesen ruht auf der Basis vereinzelter Bestrebungen, wobei allerdings im Einzelnen hie und da Großes erwachsen kann, im Ganzen aber neben diesem Bedeutenden so Vieles zurückbleibt und gar nicht aufkommt, daß man sagen darf, „Jenes sei des Preises, um welchen es gewonnen, nicht werth“.

Die vorstehenden Angriffe werden von den Gegnern der Gewerbefreiheit auch gegenwärtig nur wiederholt und höchstens noch einige Kraftausdrücke beigefügt. Prüft man zunächst im Allgemeinen den Charakter dieser Gründe und Ausdrücke, so muß man sich sofort davon überzeugen, daß die Zunftanhänger über einen reichlichen Vorrath von Schlagwörtern verfügen. Das Schreckbild „Proletariat“ spielt die Hauptrolle. Es schwebt wie ein dunkler Schatten über der allerdings den Meisten auch dunklen Idee eines gewerbefreiheitlichen Zustandes. Das weitere Gefolge bilden: Schleuderpreise, Hungerlöhne, Untergang des Mittelstandes, Ausbeutung der Armen durch die Reichen, Uebermacht des Capitals, mörderische Concurrenz, unsolide, betrügerische Arbeit, Demoralisation. Doch damit sind die Vorwürfe noch nicht erledigt. Man klagt noch über Vereinzelung aller Bestrebungen, Ertödtung jeder Selbstständigkeit und jedes brüderlichen, genossenschaftlichen Strebens unter den Handwerkern“ und man kommt am Ende bei dem „socialistischen Staat“ oder bei ernstlichen Drohungen vor der „Revolution“ an. Dieser glänzende Aufbau von Stichwörtern und Phrasen besticht leider sehr oft auch denkende und gebildete Männer, namentlich wenn die unklare Auffassung des heutigen Wirthschaftslebens in romantische Schilderungen und Lobreden der Vergangenheit verwebt wird. Diejenige Forschung, welche nach Wahrheit ringt, hat nicht über solche Schlagwörter zu verfügen, sie muß nach Gründen und Beweisen, nach Thatsachen und Beobachtungen suchen, sie muß diese sorgfältig abwägen und erst nach einer Reihe von Schlüssen das Endurtheil als begründet hinstellen. Möchten daher die nachstehenden Aufsätze von allen den Lesern lieber überschlagen werden, die nicht geduldig genug sind, uns auf diesem schwierigen Pfade der Beweisführung zu folgen!

II. Was leistet die Gewerbefreiheit dem Staate? Schafft sie wirklich ein Proletariat?

Die Gewerbefreiheit wird in politischer, gewerblicher und sittlicher Hinsicht als gefährlich dargestellt. Wir beginnen unsere Erörterungen mit einer Prüfung der politischen Bedenken, indem wir zunächst dem heraufbeschworenen Schreckbilde „Proletariat“ schärfer ins Auge blicken.

Was heißt denn eigentlich Proletariat? Was sind Proletarier? Das Wort stammt aus dem Lateinischen. Proletarii hießen die armen Einwohner Roms, die, nach Livius, unter elftausend Asses (Aß heißt „eine römische Kupfermünze“) im Vermögen hatten und dem Staate nicht mit Geld, sondern bloß mit ihren Kindern (ihrer proles) dienen konnten. Man hat den ursprünglichen Sinn des Wortes meist vergessen und bezeichnet damit jetzt im Allgemeinen Menschen der untersten und ärmsten Volksclasse. Es ist nun leider eine Thatsache, daß es, wie einst in Rom, so auch jetzt noch in jeder bürgerlichen Gesellschaft recht viele arme Menschen giebt. Als das beste Mittel gegen Armuth wird aber überall die „Arbeit“ anerkannt. Mit der Arbeit soll jeder Mensch etwas Nützliches schaffen und sich etwas verdienen. Je mehr Nützlichkeiten ein Mensch schaffen und je mehr er verdienen kann, um so weiter entfernt er sich von der Armuth und um so glücklicher kann er werden. Jeder Staat, der das Glück seiner Bürger befördern und der Armuth entgegenwirken will, sollte es daher als die oberste aller seiner Verpflichtungen anerkennen, jedem Bürger Schutz zu gewähren in dem Recht und der Freiheit, zu arbeiten, sich zu entwickeln, seine Kräfte zu gebrauchen und die Frucht seiner Arbeit zu genießen. Dieses Recht und diese Freiheit ist älter als der Staat, es ist jedem Menschen angeboren, es ist das ursprünglichste und heiligste aller Menschenrechte; denn der Mensch wird mit Bedürfnissen geboren, deren Befriedigung zum Leben unerläßlich ist und mit Organen und Fähigkeiten, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Anwendung dieser Fähigkeiten zur Arbeit kann aber dem Menschen offenbar nichts nützen und er kann weder leben noch arbeiten, wenn er nicht gewiß ist, die Frucht seiner Arbeit auch für seine Bedürfnisse zu verwenden. Diese Gewißheit und die Sicherheit der verarbeiteten Güter, des Eigenthums, ist daher auch einer der ersten Zwecke jedes jungen Staates. Sogar unter den Wilden zweifelt Niemand daran, daß demjenigen, welcher sich eine Hütte gebaut und ein Thier erjagt hat, auch der Besitz und das Eigenthum an dieser Hütte oder an diesem Thiere zustehe. Der Staat wird meist deshalb erst gegründet, damit das Eigenthum der Einzelnen durch die Gesammtkraft Vieler vor der Uebermacht der Stärkeren geschützt werde.

Man erkennt aus den vorstehenden Gründen gewöhnlich auch bereitwillig an, daß der Staat durch das Princip des Eigenthums zusammen gehalten werde, daß er dem Eigenthum Achtung verschaffen soll. Was thut nun aber unser heutiger Staat mit seinen Gewerbegesetzen? Er greift dieses Eigenthum, dieses Recht des Menschen, über die Arbeit seiner Hände zu verfügen und die Frucht seiner Arbeit zu genießen, in gefährlicher Weise an; er versucht die Arbeit einzuschränken, umzuformen, zu organisiren. Irgend ein Staatsbeglücker aus früheren Jahrhunderten hat behauptet was andere Leute schon wußten, daß es in der Welt Reiche und Arme und einen Mittelstand giebt; zu gleicher Zeit gab er den Lenkern der Staaten der Rath, sich besonders auf den Mittelstand zu stützen. Das mochte nun in politischer Hinsicht ganz zweckmäßig sein, aber der Staat ging noch weiter und begann auch in wirthschaftlicher Hinsicht auf diesen unbestimmten Begriff „Mittelstand“ die Fülle seines Wohlwollens zu häufen. Es wurde ein förmliches künstliches System geschaffen, in welchem den einzelnen Individuen ihre bestimmte Stelle, ihr Erwerbsgebiet angewiesen und die Zahl der Arbeiter u. A. im Voraus geregelt und eine fortgesetzte Sorgfalt und Ueberwachung dem Gewerbestande gewidmet wurde. Das war um so verkehrter, weil die specielle Sorge für einen Stand, der bereits eine gewisse Wohlhabenheit hatte, nur auf Kosten derer, die nichts hatten, verschwendet wurde. Die Armen, die, als Opfer niederer Verhältnisse, nicht im Stande gewesen waren, ein Gewerbe zunftmäßig zu erlernen, waren durch das Gesetz gewissermaßen verurtheilt, Proletarier zu bleiben. Das Verfahren, welches man noch bis in unsere Tage hinein gegen die sogenannten Bönhasen von Seiten der Meister verfolgte, die Lieblosigkeit, mit welcher man ihre verfertigten Waaren wegnahm und sie oft sammt Weib und Kind zur Stadt hinaustrieb, übersteigt fürwahr die äußerste Grenze dessen, was man in einem christlichen Staate für möglich halten sollte. Und diese Leute hatten weiter nichts verbrochen als — gearbeitet! Der Staat lieh den Meistern bereitwillig seinen Arm, er gab die Armen dem Elend, dem Bettel etc. preis. Weshalb? Um einen Mittelstand zu begünstigen, d. h. eine Classe von Bürgern, die sich doch jedenfalls wohler befand als die unterste Classe. Noch heutzutage erklingt die Parole: Schützt den Mittelstand! Als ob nicht jeder Stand und namentlich auch der Aermste gleichen Rechtsschutz vom Staate und Gleichheit vor dem Gesetz beanspruchen dürfte! Noch heutzutage soll sich nach den Begriffen mancher Leute die ganze Staatsweisheit in der Sorge für diesen Stand erschöpfen.

O, ihr Herren, ist es denn nicht besser und gerechter, lieber die große, große Classe der Armen empor- und hereinzuziehen in den Mittelstand? Was ihr vom Staate verlangt, läßt sich etwa in folgenden Worten ausdrücken: „Wir, eine Anzahl von 1000 oder 2000 Bürgern, fürchten zum Theil, Proletarier zu werden, wenn uns unsere Privilegien genommen würden, — also müssen die übrigen 10,000 ärmeren Bürger und Arbeiter Proletarier bleiben und dürfen durchaus nicht in dem Glauben bestärkt werden, daß sie von Natur das Recht und die Freiheit haben, nicht nur zu arbeiten, sondern auch möglichst viel Nützliches und Zweckmäßiges und Lohnendes zu arbeiten.“ — Wir können die Ungerechtigkeit, die sich in unsern Zunftgesetzen fortpflanzt und der ganzen bürgerlichen Gesellschaft nur mehr Elend aufbürdet, nicht besser bezeichnen, als mit den berühmten Worten von Adam Smith, die derselbe schon vor 80 Jahren in seinem Werke über den Nationalreichthum, leider für uns noch immer vergebens, geschrieben hat: „Das Recht, welches jeder Mensch hat, die Früchte seiner eigenen Arbeit zu genießen, so wie es das älteste und ursprünglichste aller Eigenthumsrechte ist, sollte billig auch das heiligste und unverletzlichste sein. Der einzige Schatz eines armen Mannes besteht in der Geschicklichkeit und Stärke seiner Hände; und ihn verhindern, diese Stärke und diese Geschicklichkeit auf die ihm wohlgefälligste Weise ohne Beeinträchtigung irgend eines Menschen zu gebrauchen, heißt das heiligste Eigenthum desselben verletzen. Es ist ein Eingriff sowohl in die natürliche Freiheit nicht nur des arbeitenden Mannes selbst, sondern auch der Personen, die sich seiner Geschicklichkeit bedienen wollen. So wie der eine gehindert wird, zu arbeiten, was ihm gut dünkt, so werden die andern gehindert, den für sich arbeiten zu lassen, welcher ihnen gefällt. Ob ein Mensch zu der Verrichtung, welcher er sich unterzieht, tüchtig sei, kann sicher der Beurtheilung derer überlassen werden, welche seine Arbeit gebrauchen, da es ihr Interesse so unmittelbar und so nahe angeht. Die Besorgnisse des Gesetzgebers, daß sie eine unrechte Wahl treffen möchten, sind eben so unnöthig als die Anstalten, durch welche er dies zu verhüten sucht, drückend sind.“ —

Was ist nach dem Gesagten denn nun eigentlich von dem Vorwurf zu halten, daß die Gewerbefreiheit ein Proletariat schaffe? Das gerade Gegentheil ist wahr. Die Gewerbefreiheit ist das beste und das allein nachhaltige Mittel, das Proletariat zu beseitigen; denn nur sie gewährt dem Armen die Freiheit, zu erwerben oder zu arbeiten und zwar dasjenige, was nach den Verhältnissen am nützlichsten oder lohnendsten ist. Im Gegensatz dazu beeinträchtigt das Zunftwesen nicht nur alle Nichtzünftigen, welche die Mehrzahl der bürgerlichen Gesellschaft bilden — nein es wird sogar zu einem Fluche für den Gewerbestand selbst, für dieselbe Classe, die ihre Stütze noch in eingebildeten Privilegien sucht, anstatt durch die Segnungen der freien Arbeit und freien Concurrenz ihr eigenes Loos zu verbessern! — Man möge uns nicht mißverstehen, wenn wir gegen die einseitige Bevorzugung des Gewerbestandes eifern. Wir wollen nicht auf ein Verschwinden des Mittelstandes hinarbeiten, nein wir wollen nur die Pforten dieses Standes für alle arbeitenden Classen eröffnet haben und es ist uns der betrübendste Gedanke, daß gerade der Handwerkerstand von Jahr zu Jahr aus dem Mittelstande heraustritt und in das Proletariat übergeht. Man sehe doch nur die Entwickelung der letzten Jahrzehnte an. Ist denn nicht die Verarmung des Handwerkerstandes eine stehende Klage in allen Büchern und Zeitungen, in allen Kammern und öffentlichen Besprechungen? In demselben Maße, in welchem der Arbeiterstand seinen Lohn erhöht und seine Lage verbessert hat, ist der kleine Handwerkerstand von Jahr zu Jahr mehr herabgekommen. Wie kann es aber auch anders sein? Der Handwerker wird durch den unseligen Gewerbezwang ja selbst in ein ganz enges Arbeitsgebiet und in einen beschränkten Wirkungskreis hineingebannt. Veraltete Gesetze zwingen ihn, die besten Jahre des Lernens und jugendlichen Strebens mit dem ewigen geisttödtenden Einerlei derselben Arbeiten zu vergeuden, oder sich mit Gassenkehren, Stubenreinigen, Kinderwarten, mit Handlangerarbeiten u. s. w. abzuquälen, anstatt freie Lehrverträge zu gestatten, bei denen die Länge der Lehrzeit ganz nach den Eigenthümlichkeiten des zu erlernenden Gewerbes und nach den individuellen Fähigkeiten des Lehrlings bemessen wird. Wenn die Handwerker dann mit Mühe und mit Verlust ihrer kleinen ersparten Habe Meister geworden sind, so nützt ihnen das Erlernte vielleicht gar nichts; gerade das Gewerbe, in welches sie sich festgefahren haben, ist überfüllt oder Maschinen haben die Handarbeit verdrängt; andere Bedürfnisse, andere Verhältnisse haben den betreffenden Geschäftszweig zu einem nicht mehr lohnenden gemacht — aber siehe da, der Gewerbezwang hindert den Uebergang zu einträglicheren Beschäftigungen! So kommt es denn nun, daß Tausende von deutschen Handwerkern in einer Dachkammer mit all ihrer geträumten Selbstständigkeit als Meister oft ein weit schlimmeres Loos haben, als die Arbeiter, die in einem geschlossenen Etablissement um festen Lohn oder um Stücklohn arbeiten. Das Verhältniß hat sich geändert, jene heruntergekommenen Handwerker sind die Proletarier geworden, sie müssen sich mit ihrer Arbeit oft um schlechteren als Gesellenlohn an ihre Mitmeister verdingen, sich von ihnen ein Stück Arbeit erbitten oder sehnsüchtig Stunde für Stunde auf Kunden lauern, die ihnen das Fabrikwesen, die Eisenbahnen, die Handelsfreiheit u. s. w. entzogen haben. — Fürwahr dieser Zustand ist auf die Dauer unerträglich, aber er ist unvermeidlich; denn der Gewerbezwang muß ein Proletariat unter den Handwerkern selbst schaffen und nur die Gewerbefreiheit kann aus Proletariern arbeitsame und zufriedene Bürger machen!

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IV. Was leistet die Gewerbefreiheit in sittlicher Hinsicht?

Es giebt kaum Namen genug für all das Unheil, welches die Gewerbefreiheit in die Welt gebracht haben soll, und so nennt man denn auch „die Entsittlichung“ als eine der schwarzen Seiten dieses heiligen Menschenrechts der Arbeitsfreiheit. Die Motive des bremischen Gewerbegesetz-Entwurfs vom Jahre 1850 behaupten in dieser Hinsicht Folgendes: „Die Vortheile des Innungswesens bestehen darin, daß in sittlicher Hinsicht nichts mehr der Demoralisirung entgegen wirkt, als der Geist, welcher sich von selbst in einer eng verbundenen Classe werkthätiger und in ihrem Erwerb gesicherter Menschen herausbildet [] Herrscht dagegen Gewerbefreiheit, so ist Jeder sich selbst überlassen, die moralische Haltung, welche der Corporationsgeist gewährt, fehlt u. s. w.“

Wenn ein Englander oder Franzose oder Belgier oder Schweizer in den Motiven zu einem Gesetzentwurfe die Behauptung lesen würde, „daß die moralische Haltung da fehle, wo Gewerbefreiheit herrscht“, so würde er wohl sich erst erkundigen, ob solche Vorwürfe in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben und gedruckt seien; denn es ist allerdings ein starkes Stück, allen den Millionen Bewohnern der gewerbfreien Staaten die moralische Haltung abzusprechen, weil sie so glücklich sind, das Zunftwesen beseitigt zu haben und von dieser Art „Corporationsgeist“ nicht mehr beseelt zu sein. Welches sittliche Prinzip leuchtet denn aus dem Corporationsgeist der Zünfte hervor? Die Zünfte sind schon längst zu Gemeinschaften ausgeartet, denen nur die Begriffe „Privilegium, Schutz unseres Privilegiums, Abwehr der Nichtprivilegirten und ihrer Waaren“ noch klar zu sein scheinen. Ihre Thätigkeit ist keine nach Innen kräftigende, sondern eine nach Außen abwehrende. Wo sind die Beweise, daß eine Zunft als solche ihr Gewerbe weiter fördert, daß sie über Verbesserungen im Betriebe des Gewerbes beräth, daß sie Maschinen zur Erleichterung der gemeinsamen Arbeit anschafft, daß sie Zeitungen, Muster, Modelle, Bibliotheken zur Fortbildung der Meister und Gesellen und Lehrlinge hält? Nur ganz neuerdings entschließt man sich endlich, Innungsmagazine einzurichten. Wie viel Schwierigkeiten das aber macht, mögen diejenigen beantworten, welche dabei thätig waren. So viel ist gewiß, daß nur die dringendste Noth hier ein Gebot vorschrieb, daß die Zunftglieder erst in ihrer Existenz bedroht sein müssen, ehe sie sich zu solchen Werken entschließen.

Wenn wir aber eben aufgezählt haben, was in den Zünften nicht geschieht, so wollen wir nun das erwähnen, was geschieht. Da ist nun die Jagd auf alle vermeintlichen Eingriffe in die Zunftrechte die wesentlichste Beschäftigung. Die Blätter der deutschen Gewerbegeschichte erzählen uns fast auf jeder Seite von der Lieblosigkeit, mit welcher man noch bis in unsere Tage hinein die sogenannten Bönhasen, deren einziges Vergehen „die Arbeit“ war, schmählich verfolgte, ihnen die Stadt verwies, die gefertigte Waare wegnahm und sie mit Weib und Kind ins Elend stieß. Soll man in solchen Thaten, die noch heute in ähnlicher Weise vorkommen, Aeußerungen der Liebe gegen einen christlichen Mitbruder erkennen? Bewahre uns der Himmel vor der Fortdauer eines solchen „genossenschaftlichen Sinnes und Strebens!“ Wer sich einen Begriff davon machen will, wie weit es ein solches Streben bringen kann, der studire nur einige der zahllosen Prozeßakten, die in den Archiven der Gewerbegerichte wegen Beeinträchtigung der Zunftrechte aufgehäuft sind. Da verbieten die Drechsler dem Stuhlmacher, Knöpfe und Verzierungen an seine Stühle anzubringen; die Schuhmacher wollen es nicht dulden, daß Jemand Gummischuhe verkaufe, die sie gar nicht anfertigen, nicht einmal ausbessern können; die Zimmerleute und Tischler streiten sich Jahrelang darüber, in wessen Arbeitsgebiet die Anfertigung einer hölzernen Treppe gehöre; die Friseure lauern den Barbieren und die Barbiere den Friseuren auf; die Tuchhändler dulden nicht, daß die Schneider Tuche und Stoffe führen und verkaufen und die Schneider processiren, sobald die Tuchhändler fertige Kleidungsstücke in ihrem Laden ausstellen. Die Processe sind die Hauptursache der gemeinschaftlichen Geldverwendung von Seiten der Zünfte und einzelne Innungen haben förmliche Advokatenkassen, die natürlich ihrem Zweck gemäß verwendet, d. h. verprocessirt werden müssen. Das Zunftwesen nährt in diesen wie in andern Fällen nur die schnöde Mißgunst und den hämischen Neid. Der Eigennutz spielt jedem einzelnen Menschen schon ohnehin arg mit und macht ihm den sittlichen Fortschritt schwer genug, aber das Zunftwesen macht es möglich, daß dieser Eigennutz auch noch offen ganze sociale Kreise durchdringt und vergiftet, und sich in seinem öffentlichen Auftreten mit dem Schilde des Gesetzes deckt. Wer kann denn Gefallen finden an diesem lieblosen Kampfe, in welchem Bürger gegen Bürger, Classen gegen Classen gegenseitig auf Ertödtung des Gemeinsinns hinarbeiten?

Wir könnten dies unerquickliche Bild der unsittlichen Wirkungen des Zunftwesens noch durch eine Schilderung der Handwerksmißbräuche, des Herbergswesens, der Gesellen- und Meistergelage u. s. w. vervollständigen, allein wir wollen uns lieber zu freundlicheren Seiten unseres heutigen Erwerbslebens wenden. Die Sittlichkeit und Moralität gedeiht, wie wir sehen werden, auch auf dem gewerblichen Gebiet am besten da, wo Freiheit waltet. Die Arbeit ist schon an und für sich ein wesentliches Mittel zur Förderung der Sittlichkeit. Alles, was die Menschen in der Arbeitsamkeit bestärkt, dient daher auch in gewisser Hinsicht dem höheren Zwecke der Sittlichkeit. Nun giebt es aber nichts, was den Menschen mehr zur Thätigkeit anspornt und was die Arbeit freudiger macht, als die Gewißheit, mit der Arbeit sich und der Welt etwas zu nützen und sein Loos zu verbessern. Das Gebot „Bete und arbeite!“ weist das Menschenherz in der einen Richtung dem Himmel und in der andern der Erde zu, das Gebot würde indessen in letzterer Hinsicht ungenügend sein, wenn es nicht zugleich gewissermaßen die Verheißung in sich enthielte, daß sich der redliche Arbeiter auch der Früchte seiner Arbeit erfreuen solle. Das kann aber nicht geschehen, wenn menschliche Gesetze hier unten die Früchte der Arbeit schmälern und verkümmern, wenn sie den freien Gebrauch der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten hindern und dadurch den Arbeiter seines gerechten Lohnes berauben.

Prüfen wir nun weiter den Einfluß des Innungswesens und der Gewerbefreiheit auf das Zusammenleben und Zusammenwirken der Gewerbsgenossen, so muß uns sofort als der charakteristische Unterschied auffallen, daß das Zunftwesen nur gesetzlich angeordnete, die Gewerbefreiheit aber frei gewählte Einigungen schafft. In anderer Weise läßt es sich auch so bezeichnen, daß in den Zünften ein äußeres menschliches Gesetz die Gewerbsgenossen künstlich und systematisch an einander fügen will, während in der Freiheit ein inneres göttliches Gesetz die Gewerbsbrüder zu werkthätiger Liebe und gegenseitiger Hülfeleistung verbinden soll. Wir vermögen mit den letzten Worten nur unvollkommen die Tragweite und Zukunft anzudeuten, welche wir der Association, dieser neuen Gestalt des wirthschaftlichen Zusammenwirkens beimessen. Das genossenschaftliche Element ist ohne Zweifel noch zu einer großartigen Rolle im Wirthschaftsleben der Nationen berufen, um so mehr, da diese Entwickelung durch die erhabenen Lehren des Christenthums erleichtert und gefördert wird. Von dem letztern christlichen Standpunkte aus kann das alte Sprichwort „Concordia res paryae crescunt“ zu deutsch „durch Eintracht wird auch das Kleine groß“ auch noch in einem tieferen Sinne aufgefaßt werden. Wenn wir einer höheren Weltordnung vertrauen und an eine christliche Entwicklung der Menschheit glauben, so dürfen wir auch hoffen, daß die zur Liebe verklärte Eintracht nach und nach selbst die wirthschaftende Thätigkeit der Menschen immer mehr heiligen und fördern werde, daß sie die in ihrer Vereinzelung verkommenden und verarmenden Kräfte zu werkthätigen Gemeinschaften zusammenführen und mit einem Worte das große sociale Problem lösen helfen werde, die große Masse des Volks an den Gewinnen der Production und an dem fortschreitenden Wohlstande immer zahlreicher und gleichmäßiger zu betheiligen.

Dem Beobachter des socialen Fortschrittes der Menschheit kann es nicht entgehen, daß die Bahn in der eben angedeuteten Richtung bereits eingeschlagen ist, daß das Princip der Einigung und Vergesellschaftung schon jetzt eine Reihe segensreicher wirthschaftlicher Institute geschaffen hat, welche mit der Gesammtkraft einer Mehrzahl der Schwäche des Einzelnen zur Stütze dienen, welche die Gefahren abwenden oder mildern, die durch höhere Gewalten über uns hereinbrechen, und welche dadurch die Vermögensunterschiede ausgleichen, oder doch möglichst Viele an dem erhöhten geistigen und leiblichen Wohlbefinden der Gesellschaft Theil nehmen lassen. Wir erinnern nur an die zahlreichen Versicherungsgesellschaften gegen Gefahren aller Art, sodann an die Unterstützungs-, Kranken- und Pensionskassen, an die Creditvereine für Handwerker, die sich allmählich bis in die kleinsten Städte Deutschlands verpflanzen, an die Lese- und Bildungs-Gesellschaften, an die Gewerbevereine, Gesellenvereine, Arbeiterbildungsvereine, die Vereine zur gemeinschaftlichen Anschaffung von Lebensmitteln und Rohstoffen, sowie auch zur Arbeit in gemeinschaftlicher Werkstatt etc. Alle diese Anstalten müssen aber aus der Freiheit oder eigenen Wahl der Betheiligten ersprießen, sie gedeihen viel besser außerhalb der Innungen, ja sie müssen sich in der Mehrzahl sogar auf eine möglichst große Zahl von Theilnehmern erstrecken, wenn sie von wirthschaftlichem Nutzen sein, wenn die Verwaltung nicht zu kostspielig, wenn das Risiko und Opfer des Einzelnen nicht zu groß, seine Dividende nicht zu gering werden soll. Damit fällt auch noch der letzte Grund zur Vertheidigung der Zünfte, die man gewöhnlich wegen ihrer gemeinsamen Hülfsanstalten noch für zweckmäßig hält. Es ist ganz bedenklich und unwirthschaftlich, die Vorstände von 30 bis 40 Innungen einer Stadt mit der Verwaltung derartiger Cassen zu beschweren und nun gar etwa heruntergekommene Innungsmitglieder auf die Innungskassen anzuweisen, wenn die Selbsthülfe und Privatthätigkeit schon längst viel wirksamere Mittel erfunden und angewendet hat, wodurch sich jeder Staatsbürger vor dem verarmenden Einflusse der Krankheit, des Alters, des plötzlichen Vermögensverlustes etc. schützen kann.

Wir sind oben bei Erwähnung der aus dem Associationstriebe der Gegenwart hervorgegangenen Anstalten bei den Vereinen zu gemeinschaftlicher Arbeit stehen geblieben. Sie bilden die letzte Stufe der beschrittenen Associations-Leiter und setzen den lebendigsten Gemeinsinn voraus. Wird es möglich sein, die arbeitenden Klassen an den Vortheilen des Groß- und Fabrikbetriebes auch dadurch mehr zu betheiligen, daß sie selbst, in größerer Gemeinschaft, als Unternehmer und Arbeiter zugleich, auftreten, daß sie in gemeinsamer Werkstatt und Fabrik ihre Arbeit verrichten und sich sowohl in die Arbeit als auch in die Gewinne, je nach dem Maße ihres Talentes und ihrer Arbeitskraft und Geschicklichkeit und nach ihren Leistungen theilen? Wir stehen hier vor einer Aufgabe der Zukunft, deren eingehende Erörterung die Grenzen dieses Aufsatzes überschreiten würde. Es genüge an dieser Stelle die Bemerkung, daß nicht nur das zahlreiche Bestehen, sondern auch das Gedeihen solcher Vereinigungen von Arbeitern eine erfreuliche Thatsache geworden ist. Wir verweisen in dieser Hinsicht auf Huber's Reisebriefe und seine Mittheilungen über französische und englische Handwerkergenossenschaften. Auf deutschem Boden keimen bis jetzt noch sehr spärliche Früchte dieser Art von Genossenschaften, obwohl wir gerade die Gemüthsnatur der Deutschen und ihren geselligen Sinn für förderlich und vielversprechend in dem einstigen vollkommeneren Dienste dieser Idee halten. Die Schwierigkeiten der Ausführung liegen auf der Hand. Die allererste Vorbedingung für das Entstehen solcher Vereine ist natürlich die vollkommenste Freiheit der Arbeit; dann müssen aber auch die Glieder eines solchen Arbeitsbundes nicht nur ziemlich gleich tüchtig, sondern jedenfalls gleich strebsam, aufopferungsfähig, verträglich sein. Und selbst wenn sie alle diese Tugenden besitzen, wird die Schwierigkeit einer gerechten Vertheilung der Gewinne nach den verschiedenen Leistungen für viele Vereine eine unübersteigliche Klippe sein. Jedenfalls wird das Gebot des Meisters: „Liebet euch unter einander!“ nicht bloß ein Wahlspruch solcher Genossen sein, sondern unter ihnen auch zur That und Wahrheit werden müssen. Ehe wir zu diesem schönen Ziele gelangen können, muß nicht nur die sittliche und religiöse Bildung der Arbeiter weiter vorgeschritten sein, sie müssen vor Allem auch in wirthschaftlicher Hinsicht weit mehr als bisher über jene einfachen und ewigen Naturgesetze aufgeklärt werden, die dem Wirthschaftsleben zu Grunde liegen; sie müssen ihre wahren Interessen und die Mittel, ihr Loos durch Arbeit zu verbessern, besser kennen lernen — und in dieser Erkenntniß und Fortentwickelung weit mehr als bisher von ihren glücklicher gestellten und reichern Mitchristen gefördert werden!

Es war im Vorstehenden unser bescheidener Versuch, eine sittliche Auffassung des Erwerbslebens der Menschen wenigstens anzudeuten, um, der Ueberschrift des Aufsatzes gemäß, denen, welche der wirthschaftlichen freien Entwickelung einen „entsittlichenden“ Einfluß vorwerfen, zuzurufen, daß das Ideal gesunder, wirthschaftlich freier Zustände im Wesentlichen mit dem Ideal sittlicher und christlicher Entwicklung zusammenfällt.

Wenn wir am Schluß, absehend von einer noch fernen Zukunft, noch kurz die Bedürfnisse der Gegenwart erwägen, so müssen wir es als die Aufgabe des Gesetzgebers und jedes Menschenfreundes bezeichnen, die Gewerbtreibenden vor Allem aus der Einseitigkeit, in welche sie durch die Zünfte hineingetrieben werden, herauszureißen, sie in engen Verkehr mit den verschiedensten Erwerbszweigen zu bringen und sie überhaupt auf die große sociale Gemeinde mit allen ihren Instituten zur Belehrung, Unterhaltung, Anregung und Hülfeleistung zu verweisen. Dazu bedarf es aber natürlich erst einer Beseitigung der Schranken, welche die Handwerker nicht nur von einander, sondern auch von dem übrigen großen Publikum trennen. Laßt uns vor Allem den schon halb verwesten Leib des Zunftwesens begraben, damit aus der Asche der Phönix einer frischen, freien, durch Liebe geheiligten wirthschaftlichen Thätigkeit erstehe!

Quelle: Victor Böhmert, Freiheit der Arbeit! Beiträge zur Reform der Gewerbegesetze. Bremen: Verlag von Heinrich Strack, 1858, S. 1–9, 13–21. Online verfügbar unter: https://hdl.handle.net/2027/uc1.$b240111