Kurzbeschreibung

Ludolf Wienbarg (1802-1872) war ein deutscher Schriftsteller und Journalist. Wienbargs Ästhetische Feldzüge basierten auf seinen kurz zuvor an der Kieler Universität gehaltenen
Ästhetikvorlesungen und hatten für die Bewegung des „Jungen Deutschland“ in der deutschen Literatur Manifestcharakter. Indem er sein Buch dem „Jungen Deutschland“ widmete, lieferte Wienbarg eine Definition der Bewegung und trug dazu bei, ihren Namen bekannter zu machen. In den Ästhetischen Feldzügen attackierte Wienbarg nicht nur die deutschen Regierungen und die aristokratische Gesellschaft, sondern vor allem die deutschen Universitäten und die akademische Kultur, die seiner Meinung nach einen lähmenden Einfluss auf die deutsche Jugend ausübten. In der hier präsentierten Auswahl setzt Wienbarg sich mit dem Einfluss des gräkophilen deutschen Klassizismus und herausragenden Gestalten wie Goethe und Schiller auseinander. Zugleich kritisiert er die Philosophie des deutschen Idealismus und die seiner Meinung nach schädlichen Auswirkungen der ästhetischen Theorien Kants und Hegels. Wienbarg feiert das Leben und die Jugend als Quell des Schönen in Kunst und Literatur, aber auch weit darüber hinaus, und gibt ihnen den Vorrang vor dem Lernen und der Tradition. In liberalem und deutsch-nationalem Geist erklärt Wienbarg freie politische Mitwirkung und Nationalgefühl zu entscheidenden Voraussetzungen für das Gedeihen von Kunst und Kultur, weil sie nach seiner Überzeugung eine kräftigende Wirkung entfalten und den Charakter stärken. Die Schriften Wienbargs und anderer Autoren, die mit dem „Jungen Deutschland“ verbunden waren, wie Karl Gutzkow, Theodor Mundt, Heinrich Heine und Heinrich Laube, wurden im Dezember 1835 von der deutschen Bundesversammlung mit der Begründung verboten, sie würden einer gefährlichen Sittenlosigkeit Vorschub leisten und den christlichen Glauben untergraben.

Ludolf Wienbarg, Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet (1834)

Quelle

Worte der Zueignung

Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vorn herein erklären, welchem Deutschland er sein Buch bestimmt und in wessen Händen er dasselbe zu sehen wünscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandtheilen dasselbe bekanntlich zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, todte Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen Willens ist.

Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung, aber alle aus der Sehnsucht des Gemüths nach einem besseren und schöneren Volksleben entsprungen. Ich hielt sie als Vorlesungen auf einer norddeutschen Akademie, hoffe aber, sie werden den Geruch der vier Fakultäten nicht mit sich bringen, der bekanntlich nicht der frischeste ist. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht und der Sommer 1833 war der erste und letzte meines Dozirens. Universitätsluft, Hofluft und sonstige schlechte und verdorbene Luftarten, die sich vom freien und sonnigen Völkertage absondern, muß man entweder gänzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einathmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn z. B. Börne in Paris destillirt, sind in diesem Fall nicht zu verachten. Lobenswerth ist auch die Vorsicht, die man beim Besuch der Hundsgrotte beobachtet – sonderlich wenn’s in die Hofluft geht – man bücke sich nicht zu oft und zu tief. Abschreckend ist das Beispiel von Ministern und Hofleuten, die des Lichtes ihrer Augen und ihres Verstandes dadurch beraubt worden sind und schwer und ängstlich nach Luft schnappen.

Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, dem bräunlichen wie dem blonden, welches letztere mich umgab und die Muse war, die mich zweimal in der Woche begeisterte. Ja, begeisternd ist der Anblick aufstrebender Jünglinge, aber Zorn und Unmuth mischt sich in die Begeisterung, wenn man sie als Züchtlinge gelehrter Werkanstalten vor sich sieht. Sclaverei ist ihr Studium, nicht Freiheit. Stricke und Bande müssen sie flechten für ihre eigenen Arme und Füße, dazu verurtheilt sie der Staat. Die Unglücklichen, wie haben sie mich gesucht und geliebt, als ich ihnen die Freiheit wenigstens im Bilde zeigte.

Preußen trägt sich mit dem Plan, die alten Universitäten umzuschmelzen. Immerhin, und mag das gelehrte Deutschland auch Blut über den Frevel schwitzen. Ich traue freilich dem neuen Gusse nicht, weil ich nicht einsehe, woher Preußen das rechte Metall dazu nehmen will, es wäre denn preußisch-evangelisches Kanonen- und Glockengut. Aber auch dieses halte ich für besser als die alte tonlose Mischung, die selbst unter Thors Hammerschlägen keinen Klang mehr von sich geben würde.

Zur Zeit der Reformation waren die Universitäten Stützpunkte für den Hebel des neuen Umschwungs. Gegenwärtig bewegen sie nichts, ja sie sind Widerstände der Bewegung und müssen als solche aus dem Wege geräumt werden.

Zu warnen aber sind junge Männer von Kraft und Talent, sich nicht unbedacht jener edlen Täuschung hinzugeben, als ob sich dennoch ein zeitgemäßer und volksthümlicher Wirkungskreis für sie auf unsern Universitäten erschwingen lasse. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf, den die Zeit über jene alten Gemäuer ausgesprochen hat, ihr setzt euch hingegen der Gefahr aus, mit demselben Fluche auf euren eigenen geistigen Schwingen belastet zu werden. Zittert vor der greisen alma mater, die als Ahnfrau unserer Universitäten ihr faltenreiches, mottenzerfressenes Gewand auf dem Boden der Aula einherschleift, und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge und frische zu rekrutieren sucht. Zittert vor ihrer dürren Umarmung, vor dem Kuß ihrer gespenstischen grauen Lippen, denn sie saugt euch das Blut langsam aus den Adern und schrumpft die Hochgefühle eurer Brust zu jenem Minimum zusammen, das etwa einem alten ausgedörrten Wilhelm Traugott Krug oder Christian Daniel Beck kaum verschlägt, um damit den letzten Athemzug für den Himmel zu bestreiten. Denkt daran, daß alle große Deutsche der neuern Zeit nur zu ihrem Unglück deutsche Universitätslehrer geworden sind, daß ein Fichte, Schelling, Niebuhr, Schleiermacher, geborene Tribunen des Volks, für das Volk und ihren eigenen höheren Ruhm verloren gegangen sind. Fichte’s Reden an die deutsche Nation verhallten nicht blos deswegen in den Wind, weil die Nation taub war, sondern weil zwischen ihr und ihm eine Scheidewand aufgerichtet war, die selbst Fichte’s eherne Stimme nicht zu durchdringen vermochte.

Nun denn, junges Deutschland, mit Gott! Wir leben ja noch einen Tag zusammen, und wer weiß, ob unser Hort und Führer uns so lange durch die Wüste ziehen läßt, wie Moses die Israeliten.

Ist aber eine Silberlocke unter deiner Schaar, ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich küsse ihm Auge und Stirn und wünsche auch mir einen warmen Frühling unter der Eisdecke künftiger Jahre.

Erste Vorlesung.

Meine Herren. Sie wollen mir die Ehre geben, meinen Vorträgen über Aesthetik beizuwohnen. Ich freue mich über Ihre Zahl und ich bemerke mit Vergnügen, aber nicht ohne Gefühl meiner unzulänglichen Kräfte und Hilfsmittel, die Theilnahme und Aufmerksamkeit, womit Sie der Eröffnung dieser in mehr als einer Hinsicht bedenklichen Vorträge entgegensehen. Es ist zwar das, was die Seele, das Prinzip der Aesthetik ausmacht, nämlich das Schöne, die Form, die Gestalt schon im Alterthum von den tiefsinnigsten Weisen behandelt worden; allein wie abstechend von dieser Behandlung ist die heutige Form einer akademischen Disziplin, in welcher die Aesthetik seit Baumgartens Zeit in Deutschland aufgetreten ist. Selbst der Name rührt aus dieser Zeit her, er ist von Baumgartens Erfindung und war den alten Griechen und Römern in diesem Sinne völlig unbekannt.

Aesthetica betitelt Baumgarten die beiden Volumina, welche im Jahr 1750 und 1758 ans Licht traten. Den Barbarismus des Wortes will ich nicht tadeln, nur den Barbarismus, der darin lag, ein solches Werk in lateinischer Sprache zu schreiben. Barbarisch – pedantisch war der Ursprung der Aesthetik oder der vagen Wissenschaft, welche man mit diesem Namen bald allgemeiner zu bezeichnen anfing. Riedel und Sulzer machten daraus eine Theorie der schönen Künste und Letzterer schrieb sogar eine solche „allgemeine Theorie der schönen Künste“ nach alphabetischer Ordnung, zwei Quartbände unfruchtbarer Theorien, die weder dem Philosophen noch dem Künstler förderlich sein konnten. In ein höheres Gebiet wurde die Aesthetik aufgenommen, als Kant seinen eminenten Scharfsinn auch nach dieser Seite wandte und in „Der Kritik der Urtheilskraft“ eine von seinem Standpunkt und seinen Prinzipien ausgehende Kritik des Geschmacks aufstellte. Nach ihm wurde die Aesthetik von mehreren Professoren der Philosophie bearbeitet, am Vollständigsten von Fr. Bouterwek, dessen Werk (in zwei Bänden) das bekannteste ist und drei Auflagen erlebt hat. Grundzüge ästhetischer Vorlesungen schrieb 1808 Heinrich Luden, die auf seine bekannte Weise geistreich und gediegen sind. Blühender und an wahrem ästhetischen Gehalt reicher ist die Vorschule der Aesthetik von Jean Paul, die 1813 eine neue Auflage erlebte.

Ich werde mein Urtheil über diese akademischen Schriften (die Jean Paulische gehört nicht in ihren Kreis) zusammenfassen und nur vorher bemerken, daß die Aesthetik nicht immer mit den Ansprüchen auf wissenschaftliche Form und Vollständigkeit in Deutschland aufgetreten, sondern daß es sehr interessante ästhetische Abhandlungen gibt, die sich ungebundener und freier auslassen. Dazu gehören die ästhetischen Abhandlungen von Schiller, die ich als bekannt voraussetze, z. B. sein Aufsatz über die ästhetische Erziehung des Menschen, über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (!), über naive und sentimentale Dichtung, über das Erhabene, seine Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst u. s. w. Auch lassen sich viele Aufsätze von Goethe in den Propyläen und in Kunst und Alterthum als sehr bedeutende Beiträge zu der Aesthetik des Goethischen Jahrhunderts betrachten. Was Schiller betrifft, so behandelte er die Theorie des Schönen mehr in Beziehung auf dichterische Form und geselliges Leben, dagegen Goethe mehr die bildenden Künste, insbesondere die Antike ins Auge faßte. Bildender für den Geschmack sind bei weitem die Bemerkungen von Goethe, in sofern sie mehr aus dem einheitlichen Quell des Goethischen Lebens hervordringen und die ungetrübten Anschauungen der Welt und ihrer Schönheiten in Natur, Kunst und Leben enthalten, wie die sämmtlichen Goethischen Werke, seien sie Gedichte oder Prosa. Während Goethe’s geistige Magnetnadel sich unverwandt gegen den schönen Kunstpol neigte, bewegt sich Schiller’s ringende Natur nach den entgegengesetzten Richtungen und strebt vergebens nach dem Schwerpunkt, der seiner geistigen Natur angemessen war. Reinhold hatte ihn in Jena in die Kantische Philosophie eingeführt, als Schiller auf dortiger Akademie historische Vorlesungen hielt. Nun gerieth er zwischen zwei Feuer, das griechische der Kunst und Poesie, das in Weimar glühte, und das nordische der Philosophie, welches zu jener Zeit mit kritisch verzehrendem Feuer, von der Ostsee, aus Königsberg ausgebrochen war. Es ist gewiß, daß seine schönere Natur zuletzt den Sieg davontrug, was besonders seit der Zeit merklich wird, als die Vorurtheile zwischen ihm und Goethe hinweggefallen waren und beide große Naturen druch gegenseitigen Umtausch ihrer Gedanken und persönlichen Umgang in Weimar wetteifernd ihrer Ausbildung entgegenschritten. Allein seine erwähnten ästhetischen Ansichten tragen noch deutlich die Spuren geistiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantischen Philosophie für ihn resultirte. Er ist sich selbst nicht klar und läßt daher auch einen sehr unklaren Eindruck auf den Leser zurück. Die Bewunderung für Kant’s diktatorisches und von der moralischen Seite so erhabenes Genie, die ihm Reinhold’s Vorträge und Studium der Kantischen Kritiken eingeflößt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantischer Prinzipien, die, wie man sie sonst auch versteht, auslegt, billigt oder verwirft, von Niemand so leicht als kunstförderlich oder auch nur verträglich mit den Forderungen des ästhetischen Sinnes betrachtet werden mögen. Es gibt vielleicht keinen konsequenten Kantianer gegenwärtig auf der Welt, damals aber war alle Welt Kantisch, es ging eine Seuche durch Deutschland, sich Kantisch auszudrücken und bei Dietrich in Göttingen erschien im Jahr 1801 sogar eine Kantische Postlehre mit dem Titel: „Vorläufige Darstellung der Begründung einer allgemeinen Postanstalt.“

Daher findet man denn auch die meisten Handbücher der Aesthetik, die aus jener Zeit stammen mehr oder weniger in die abstrakten Formeln der Kantischen Philosophie gebannt, z. B. wie von Ben David und von Krug, welcher schon als solcher und inmitten seiner Philosophie, der leibhaftige Tod für die Aesthetik ist.

An sich, meine Herren, gehört das Element der Aesthetik, das Schöne, ohne Zweifel in den Kreis der erhabensten Philosophie. Die Wirkungen der Schönheit, die Schönheit selber ist uns ein Geheimniß, ein Räthsel, zu dessen Auflösung wir den Schlüssel bei einer Wissenschaft suchen, von der, wie Sie wissen, wenigstens die Rede geht, daß sie den großen goldenen Schlüssel zu allen Geheimnissen der Welt, wenn auch nicht besitzt, doch wenigstens zu schmieden beflissen sei. Dennoch, meine Herren, und wenn der Schlüssel auch gefunden wäre, ist aufschließen und schauen, offenbar zweierlei. Nehmen wir z. B. an, daß der verstorbene Hegel, unter dessen Schriften man ebenfalls eine Aesthetik findet, die im geschlossenen Ringe seiner Philosophie ihren bestimmten Platz und Namen hat, daß Hegel den Grund und das Wesen aller Dinge nicht allein tiefer erforscht hätte, als alle seine Vorgänger, sondern auch wirklich und wahrhaftig in diesem Grunde angelangt wäre und von da aus im Stände wäre, die ganze Welt dem lieben Gott nachzukonstruiren und zu beweisen, warum Alles so wäre und nicht anders sein könnte, als es ist, könnte er mehr thun, als uns das Warum der Schönheit in abstrakter Formel auszusprechen, könnte er uns mit schöpferischer Kraft eine Ahnung der Schönheit selbst ins Herz flößen? Muß nicht das Schöne auch wieder durch das Schöne bezeichnet werden, um sich als schön fühlen zu lassen, kann man durch undichterische Schönheitslehren über die Schönheit belehren, hebt nicht eine abstrakte Definizion die Schönheit, die sie definiren will, und daher sich selber auf, kann man die geistige Blüthe alles Erschaffenen, sei es dem unmittelbaren Quell der Natur oder den Händen der Kunst entsprungen, unter das anatomische Sezirmesser bringen und ist das, was unter solchen Händen seufzt, todt oder lebendig zu nennen?

Nicht jede Philosophie also hat, als solche, die Kraft und die Eigenschaft, das Prinzip der Schönheit würdig darzustellen und noch weniger läßt sich erwarten von den Schriften der gelehrten Pedanterie, wie ein solches musterhaftes Beispiel oder Gegenspiel der Aesthetik in Baumgarten’s lateinischen Werken vorliegt, der die ausländische Form natürlich noch zum geringsten Vorwurf dient. Schon der Name Aesthetik ist so unpassend als möglich, dieser Name, der das verdiente Schicksal gehabt hat, anfangs nur unter lateinisch-deutschen Gelehrten, unter akademischen Kathedristen bekannt zu sein, bei seinem Eintritt ins große Publikum aber, so wie in gegenwärtiger Zeit, von den Gelehrten fast verachtet, von süßlichen Schöngeistern erniedrigt und in der Meisten Munde bespöttelt zu werden. Es wäre in der That sehr zu wünschen, daß der Name und die ganze Behandlung dessen, was man unter diesem Namen zusammenfaßte, in Deutschland gar nicht aufgekommen wäre. Das Gefühl des Schönen ist unter den Deutschen keineswegs so verbreitet, befestigt und veredelt, daß es geschützt und sicher genug wäre vor den erkältenden Einflüssen, womit dasselbe auf der einen Seite von dem hölzernen Scepter der Schulgelehrsamkeit, auf der andern von dem leichtfertigen Geckenthum des Gallizismus bedroht wird. Die Aesthetik ist als Wissenschaft, für Deutschland viel zu früh gekommen. Das Gefühl des Schönen muß sich vor Allem erst durch das Leben befruchten und bilden, wenn es in Büchern und Hörsälen würdig dargestellt und ein wahrhaft integranter Theil der Philosophie werden soll. Das Schöne selbst aber schwebt nicht in der Luft, eben so wenig, wie die Blüthe und das Rosenblatt, es muß befestigt sein an einem Stamme, es muß Charakter haben und nichts fehlte zur Zeit, als Baumgarten seine Aesthetik schrieb, der deutschen Nation mehr als diese. Nationalgefühl, muß dem Gefühl fürs Schöne, politische Bildung der ästhetischen vorausgehen. Ohne Kraft gibt es keine Gewandheit, ohne Charakter keinen Ausdruck, ohne Ausdruck keine Schönheit, weder im Stil des Bildhauers, noch im Stil des Schriftstellers. Beglückter war das griechische Volk, als wir. Es besaß freilich keine Aesthetik, aber dafür platonische Dialogen, worunter wahre Opfer an die Göttin der Schönheit, behandelten sie auch nicht, wie sie thun, das καλον κάγαδον[1] als ihren Hauptgegenstand und identifizirte ihr Urheber auch nicht, wie er thut, das Schöne mit dem ewig Einen, mit Gott selber. Unsere neuere Aesthethik beschränkt sich daher auch, aus Mangel an Lebensfülle, gänzlich auf das Schöne oder die Schönheiten in Poesie und Kunst und sind, wie auch viele den Namen führen, bloße Theorien der sogenannten schönen Künste und Wissenschaften, die zu Anfang einige vorläufige Definizionen vom Schönen, Erhabenen, Anmuthigen, Witzigen, u. s. w. aufstellen und dann allerlei und mancherlei aus der Geschichte und Technik der schönen Künste und Wissenschaften folgen lassen. Es gibt nur eine einzige Schrift über gewöhnliche Aesthetik, die genial und ästhetisch ist, die Jean Paulische, wie nur ein einziges Werk, das die Aesthetik im höhern, im griechisch-platonischen Sinne auffaßt, der Erwin von Solger. Allein schon aus der allgemeinen Unkunde dieses Werks, muß sich zweierlei klar machen, daß es entweder nicht in zeitgemäßer Form geschrieben, oder daß sein Inhalt nicht zeitansprechend sei. Beides ist mir ausgemacht. Die Form ist dialogisch und der Inhalt eine Vergötterung des Schönen mit einem Anschein des Enthusiasmus, der dem Platonischen nicht allein nahe kommt, sondern ihn noch zu übertreffen scheint, der aber lange nicht die Wärme und Kunstfertigkeit hat, als der des griechischen Meisters. Um sich davon einen Begriff zu machen, vergleiche man die so wahre als genievolle Schilderung, die Jean Paul von den Griechen gibt, mit dem Leben, das wir Deutsche in Deutschland führen, so wird man einsehen, daß die Begeisterung eines platonischen Dialogs, wie des Symposions, eine natürliche, Solger’s aber eine gemachte war, wie mehr und weniger jede Begeisterung, die isolirt steht und ihre Quelle nicht aus der Zeit nimmt.

Anmerkungen

[1] (Kalon Kàgathon = das Schöne und Gute)

Quelle: Ludolf Wienbarg, Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1834, S. V–10. Online verfugbar unter: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834