Kurzbeschreibung

Der hier in Auszügen wiedergegebene Artikel greift in eine bedeutende publizistisch ausgetragene Auseinandersetzung ein, die Teil der Entwicklung des deutsch-jüdischen religiösen Lebens im 19. Jahrhundert war. Anlass war der sogenannte Zweite Hamburger Tempelstreit um die Einführung eines überarbeiteten Gebetbuchs im Hamburger Tempel 1841 (der erste Streit hatte sich in den Jahren 1817/18 an der Gründung des Hamburger Tempelvereins entzündet). Die Debatte ist unter anderem deswegen von Bedeutung, weil daran mehrere Akteure beteiligt waren, die eine wesentliche Rolle bei der Ausdifferenzierung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Europa in verschiedene theologische und liturgische Richtungen spielten. Abraham Geiger (1810–1874) war einer der wichtigsten Vordenker des Reformjudentums, während Zacharias Frankel (1801–1875) einen Mittelweg zwischen reformerischen und orthodoxen Traditionen beschritt, der später zum konservativen Judentum verschmolz. Der erbittertste Gegner des neuen Gebetbuchs war Isaac Bernays, Rabbiner der Hamburger Jüdischen Gemeinde; der im Artikel erwähnte Gotthold Salomon war niemand anderes als der Prediger am Hamburger Tempel. Sowohl Geiger als auch Frankel gehörten zu jenen, die vom Hamburger Tempelverein um Stellungnahmen zu dem neuen Gebetbuch ersucht wurden und traten anschließend mit ihrer Meinung an die Öffentlichkeit. Geiger, Rabbiner aus Breslau (Wrocław), vertrat den Standpunkt, dass die Überarbeitung des Gebetbuchs sogar nicht weit genug gegangen war, während der Dresdener Rabbiner Frankel sie für zu weitgehend hielt (zugleich aber anerkannte, dass die Überarbeitung ein Versuch gewesen sei, das bisherige Gebetbuch zu verbessern). Sowohl Geiger als auch Frankel lehnten den Gegenstandpunkt, dass Überarbeitungen generell unzulässig seien, ab. Ludwig Philippson (1811–1889), Rabbiner in Magdeburg, ist vor allem als Gründungsherausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (ab 1837) bekannt, die damals die erfolgreichste deutschsprachige Zeitung für jüdische Belange war. Auch Philippson folgte einem Mittelweg zwischen reformerischen und orthodoxen Strömungen, wenn auch auf andere Weise als Frankel. Debatten über das Wesen des Messias, das ausgewogene Verhältnis der hebräischen und der deutschen Sprache im Gottesdienst, die Rolle von Musik und Gesang und die Ableitung bestimmter Begrifflichkeiten oder Praktiken aus der sephardischen und der aschkenasischen Tradition spielten allesamt eine Rolle im Hamburger Tempelstreit wie auch in den allgemeinen Diskussionen um das jüdische Religionsleben im 19. Jahrhundert.

Ludwig Philippson, „Pamphlete und Polemiken“, Allgemeine Zeitung des Judenthums (7. Mai 1842)

Quelle

Magdeburg, 22. April. Angekommen. (Flugschriften und Polemik)

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Der Hamburger Tempelstreit, eine Zeitfrage. Von Dr. A. Geiger, Breslau, 1842. Sendschreiben an den Herrn Dr. Z. Frankel ff. von Dr. G. Salomon. Hamburg, 1842. Es sind dies die beiden, letzlich erschienenen wichtigeren Broschüren in dem Tempelgebetbuchstreite. Dr. Geiger wie Dr. Frankel gehörten zu denen, von welchen sich der Tempelverein ein Gutachten über die מודעה des Chacham erbat. Dr. Geiger ging dabei offen zu Werke, indem er in seinem „Gutachten“ einfach die מודעה zurückwies, dann aber die obige Broschüre für sich erscheinen ließ, wo er von seinem eigenen Standpunkte das Gebetbuch einer Kritik unterzog. Nicht so Dr. Frankel. Derselbe vereinigte Gutachten und Kritik in Eines, verbot zuerst die Veröffentlichung seiner Zuschrift, und veröffentlichte sie dann selbst mit einem Male im „Orient“. Abgesehen nun vom letztern Umstande, der an sich keine Bedeutung hat, so frägt es sich: was würde wol daraus entstanden sein, wenn Jeder der Begutachtenden seine Kritik, seine einzelnen und allgemeinen Bedenken in Bezug auf das Gebetbuch zugleich abgegeben hätte? Eine Verwirrung, aus der das allgemeine Publikum, das doch so stark bei der Sache betheiligt ist, sich niemals vernommen hätte. Dies ist so sehr der Fall, daß gerade das Gutachten des Dr. Frankel von jeder Partei in Anspruch genommen wird, daß der Tempel die Mißbilligung der מודעה, die Chachamiten die Kritik des Gebetbuches sich als ein Siegeszeichen aufsteckte. Und doch muß dies letztere dem Dr. Frankel sehr unlieb sein, da doch keiner der Begutachtenden die „überlebte Satzung” mit so vollen Worten verurtheilt hat, wie er, so daß Fr. nicht die Reform, sondern wie weit die Reform? in Frage stellt.

Dr. Geiger stellt in seiner Broschüre den Tempel als hinter sich selbst zurückgeblieben, und darum inkonsequent dar. Wir glauben, daß durch das in No. 16 gegebene Schreiben die Unrichtigkeit seiner Praemisse, daß der Tempel völlig ein Gewächs der freiesten Selbstbestimmung sei, erwiesen ist, womit denn auch seine einzelnen Einwendungen auf sich beruhen können. Gewiß ist es ein Irrthum seinerseits, wenn er den Tempel zu einer theologischen Fakultät stempeln will, ein Gotteshaus zu einer Akademie der jüdisch-theologischen Wissenschaften – das lag gar nicht in den gegebenen Verbindungen seines Daseins. Aber eine Sünde, ja eine Sünde, die wir nicht mit ihm theilen möchten, begeht er, indem er das wol vollbrachte, das mit segensreichen Arbeiten ausgefüllte Leben der Tempelprediger als früchtelos und erfolgsarm schilt, weil sie der höhern wissenschaftlichen Gestaltung der jüdischen Theologie keine strikte Arbeit gewidmet. Als wenn zu der Zeit, wo sie zu arbeiten anfingen, nicht unendlich viel Näheres zu thun vorlag, als die abstrakte Wissenschaft! Als wenn damals nicht zuvor der Strom des jüdischen Lebens auf die Wissenschaft hin zu richten war! Nein, lasset die Jüngern nicht so undankbar sein gegen die, auf deren Schultern sie getreten: man würde der Arbeit am Ende überdrüssig. Fühlt denn Geiger nicht, daß auch hinter uns eine Jugend steht, die, von solchem Beispiel geleitet, auch unsre Arbeiten über die Achsel anschauen wird, weil – diese unsre Arbeiten doch auch nur erst Anfänge der Wissenschaft sind! Schreiber Dieses hat sich just eines wohlwollenden Empfanges von Seiten der Tempelprediger nicht zu rühmen – gleich nach seinem ersten Auftreten wurde er von einem derselben gar übel zugerichtet. Dennoch wußte er sich bald den rechten Maßstab zu gewinnen, und – „ist doch dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Lernen wir unsre eignen Kräfte nicht überschätzen, Anderer Leistungen achten, und – uns vertragen! Demungeachtet wird die Schrift Geiger’s in der Geschichte der Gebetreform von Bedeutung bleiben, und bei einer gründlichen und konsequenten Bearbeitung derselben nicht übersehen werden dürfen.

Das Gutachten Frankel’s hatte dem Gebetbuche wesentlichere Vorwürfe gemacht. Mit dem Nachweis, daß der Ritus des Tempels sowol dem Prinzipe der Transaktion als auch den äußeren Bedingungen seines Ursprungs und Fortbestandes nach nicht ein frei und unbedingt sich gestaltender sei, fällt der Einwand Geiger’s, den Tempel selbst betreffend, über den Haufen. Frankel aber greift die Art der Reform insofern an, als sie der Gemüthlichkeit ermangle, Vieles entfernt habe, was dem jüdischen Zuhörer lieb sei seit Jugend auf, und von diesem Standpunkte aus verwirft er viele Abänderungen, z.B. Annahme sefardischer anstatt der aschkenesischer Piutim ff. Hiergegen tritt nun in der angeführten Broschüre, ein Meister in der Polemik, Dr. Salomon auf, und spricht, ohne aus den Schranken der Sitte und des Anstandes zu gerathen, aber derb dem Dr. Frankel – die Wahrheit. Man gestatte uns selbst einige Bemerkungen. Es ist und kann hier nicht der Ort sein, in das Detail hinabzusteigen. Wir haben vor binnen Jahresfrist eine Geschichte der jüdischen Kultusreform und ihrer bisherigen Resultate zu fertigen, und dahin gehören die einzelnen Streitpunkte über spezielle Gebetformeln. Sondern Allgemeines. Jede Reform hat in ihrem ersten Erscheinen etwas Fremdartiges, welches im ersten Augenblick, gehalten gegen das Gewohnte, unbehaglich ist. Der Probierstein der Reform vom Standpunkte der Gemüthlichkeit ist nun, ob nach mehrmaligem Versuche diese Unbehaglichkeit schwindet, das Gefühl des Heimischwerdens und Hineinlebens entsteht, und daraus eine höhere Befriedigung hervorgeht. Nun hat Herr Dr. Frankel gegen eine bestehende Anstalt das Urtheil der Ungemüthlichkeit gefällt, folglich haben wir auch das Recht, andere bestehende Anstalten zur Vergleichung heranzuziehen. Der Tempel hat das für sich, daß er die Reform faktisch hingestellt hat, alle Anderen kommen nur mit Ideen. Tritt man in den Tempel zu Hamburg oder in die Synagoge in Dresden, an beiden Orten wird der bloß des Alten gewohnte Besucher sich im ersten Augenblicke fremd fühlen. Er, der gewohnt ist, mit seinem Gotte laut zu sprechen und zu verkehren, muß in Dresden schweigen, alles, was er zu sagen hat, übernimmt ein alter Chasan und ein, oft noch schwacher Chor; er, der gewohnt ist, sich ungenirt in seiner Synagoge zu bewegen, muß still und unbeweglich bleiben; die Neugier, wie der Mizwotverkauf ausfallen wird, fällt weg, die Ehre eines Mischeberach’s genießt er, wenn er nicht selbst aufgerufen wird, auch nicht. Ist er ein starrer Freund des Alten, nun so wird er Dresden wie Hamburg verwerfen; ist er ein Freund der Reform, einer innigen Herzenserhebung – so wird er beim Dresdener Gottesdienst bald sehr viele Langeweile empfinden, denn für sein Mitbeten, für seine Ungenirtheit ff. wird ihm kein stichhaltender Ersatz geboten, er wird in seiner Redeweise sagen : „hier ist weder Fisch, noch Fleisch“; mehrere Stunden still schweigen, oder lautlos die Lippen bewegen, und nur hören, das ist – eine Qual. Anders im Tempel zu Hamburg; oftmalige Responsen, ein erhebendes Lied, ein verständliches, ergreifendes Gebet, eine vorzügliche Predigt, das sind Ingredienzen, die, ist er der Erhebung überhaupt fähig, ihn erregen, sein Gemüth in Bewegung setzen müssen. Man darf hier vom Leipziger Tempel nicht bloß den Maßstab nehmen. Die drängende Geschäftigkeit in Leipzig zur Messe, der Mangel an Mitteln lassen in Leipzig nur ein schwaches Abbild zu. – Herr Dr. Frankel wird uns diese Parallele nachsehen, er ruft sie selbst hervor, und seine Freimüthigkeit gestattet jedem Andern dieselbe. Kann er nun zwar sagen, daß ihm auch der Dresdener Gottesdienst noch nicht abgeschlossen und Ideal sei, so wissen wir zwar auch das Verdienst der Dresdener Synagoge zu würdigen, und haben es in dieser Allg. Zeit. des Judenthums hinlänglich würdigen lassen – aber desto mehr ist er gehalten, auch das Verdienst Anderer unverkümmert zu lassen, und froh zu sein, daß die Wege gebahnt worden, die noch so wenig und in so geringen Strecken betreten sind, – Das Salomon’sche Sendschreiben faßt die Behauptungen und Einwürfe des Dr. Frankel mit großer Lebhaftigkeit, mit vielem Witz und Scharfsinn auf, und sucht auf schlagende Weise den Gegner zu entwaffnen. Es ist aber so aus einem Gusse, daß Einzelnes daraus abzulösen nicht rathsam ist, sondern wird denen, welche sich für diese Angelegenheit interessiren, es ganz zu lesen überlassen müssen. Gewiß ist es, Dr. Salomon hat seiner Sache einen neuen Dienst geleistet. Eben so gewiß ist es aber, daß gerade aus diesen Diskussionen nichts erhebliches hervorgehen kann, sondern sie die Sachlage für das größere Publikum mehr ver-, als entwirren. —

Quelle: Allgemeine Zeitung des Judenthums, VI Jahrgang, No. 19 (7. Mai 1842), S. 281–83.

Ludwig Philippson, „Pamphlete und Polemiken“, Allgemeine Zeitung des Judenthums (7. Mai 1842), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-5009> [05.11.2024].