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Martin Luther grüßt den frommen Leser.
Heftig und lange habe ich mich gegen die gesträubt, welche die Herausgabe meiner Bücher wünschten – oder richtiger: des Durcheinanders meiner nächtlichen Schreibereien. Einerseits wollte ich nicht, daß die Arbeiten der Alten von meinen Neuigkeiten zugedeckt würden und der Leser sich abhalten ließe, jene zu lesen. Anderseits sind jetzt durch Gottes Gnade sehr viele systematisch geordnete Bücher vorhanden, aus denen die Loci communes des Philippus herausragen. Durch sie kann ein Theologe und Pfarrer vorzüglich und überreichlich gebildet werden, dazu tüchtig zu sein, die Lehre der Frömmigkeit zu predigen, zumal jetzt auch die heilige Schrift selbst fast in jeder Sprache zu haben ist. Meine Bücher sind jedoch, wie es der Mangel an Ordnung in den Ereignissen mit sich brachte, ja erzwang, genauso selbst ein recht rohes und ungeordnetes Chaos, das zu ordnen sogar mir jetzt nicht leicht fiele.
Diese Überlegungen ließen mich wünschen, alle meine Bücher wären für immer vergessen und begraben, um besseren Platz zu machen. Doch lagen mir andere mit ihrer Unbedenklichkeit und aufdringlichen Hartnäckigkeit in den Ohren: Es werde darauf hinauslaufen, daß, wenn ich zu meinen Lebzeiten die Herausgabe nicht gestatte, dann trotzdem nach meinem Tode ganz sicher diejenigen sie herausbringen werden, die überhaupt nichts mehr von den Ursachen und dem Verlauf der Vorgänge wüßten, und so würden aus einer Verwirrung bloß sehr viele weitere. Es siegte dann, wie gesagt, ihre Bedenkenlosigkeit, so daß ich die Herausgabe erlaubte. Hinzu kam gleichzeitig der Wille und Befehl unseres erlauchtesten Fürsten Johann Friedrich, Kurfürsten usw., der den Druckern befahl, ja sie geradezu zwang, die Ausgabe nicht nur zu drucken, sondern sogar zu beschleunigen.
Doch vor allem bitte ich den geneigten Leser – und ich bitte um unsres Herrn Jesu Christi
willen –, er möge dies mit Verständnis, ja mit viel Nachsicht lesen. Und er sei sich bewußt, daß ich einst ein Mönch und äußerst fanatischer Papist gewesen bin, als ich diese Sache in Angriff nahm, so trunken von den päpstlichen Dogmen, ja geradezu in ihnen ersoffen, daß ich, hätte ich gekonnt, ohne Zögern bereit gewesen wäre, alle, die dem Papst auch nur mit einer Silbe den Gehorsam verweigerten, zu töten oder doch mit denen, die sie töten, mitzutun und ihnen beizupflichten. In eben dem Maße war ich ein Saulus, wie es bis heute noch viele sind. Ich war nicht so eisige Kälte in Person bei der Verteidigung des Papsttums, wie dies Eck und seinesgleichen gewesen sind, die mir eher ihrem eigenen Bauch zuliebe den Papst zu verteidigen schienen, als daß sie die Sache ernsthaft betrieben, ja die mir heute noch vorkommen, als lachten sie über den Papst, wie richtige Epikuräer. Ich betrieb die Sache mit Ernst als einer, der den Jüngsten Tag entsetzlich fürchtete und dennoch aus innerstem Herzensgrund wünschte, selig zu werden.
So wirst du in diesen meinen früheren Schriften entdecken, wie vieles von Gewicht ich dem Papst noch aufs demütigste zugestanden habe, das ich späterhin und jetzt immer noch für höchste Gotteslästerung und Greuel halte und das ich verwünsche. Du wirst also, geneigter Leser, diesen Irrtum oder, wie sie verleumderisch sagen: diesen Widerspruch, der Zeit zuschreiben und meiner Unerfahrenheit. Ich war zuerst ganz allein und war für die Behandlung so großer Streitsachen zweifellos höchst ungeschickt und zu wenig gelehrt. Bin ich doch zufällig, nicht mit Willen und Absicht, in dieses Getümmel geraten. Gott selbst rufe ich zum Zeugen an!
Nun denn, als im Jahre 1517 in diesen Gegenden Ablaß verkauft – ich wollte sagen:
verkündigt – wurde um schändlichsten Geldgewinns willen, da war ich Prediger und, wie man sagt, ein junger Doktor der Theologie und fing an, den Leuten abzuraten und sie davon abzuhalten, dem Geschrei der Ablaßprediger ihr Ohr zu leihen: Sie hätten Besseres zu tun. Und ich meinte, dessen sicher zu sein, daß ich dabei zum Schutzpatron den Papst hätte, auf dessen Vertrauenswürdigkeit ich mich damals noch völlig verließ; verurteilt er doch in seinen Erlassen klar und deutlich die Maßlosigkeit seiner Steuereinzieher, wie er die Ablaßprediger nennt.
Alsbald schrieb ich zwei Briefe: einen an den Mainzer Erzbischof Albrecht, der die Hälfte der Ablaßgelder bekam – die andere Hälfte erhielt der Papst, was ich damals nicht wußte; den anderen Brief an meinen Ordinarius loci, wie man dies nennt, den ortszuständigen Bischof Hieronymus von Brandenburg. Ich bat, sie möchten das schamlose und gotteslästerliche Treiben der Steuereinzieher in die Schranken weisen; doch der arme Mönchsbruder fand nur Verachtung. Ich, keiner Beachtung gewürdigt, gab ein Disputationsplakat[1] und gleichzeitig eine deutsche Predigt über den Ablaß heraus, und bald danach auch Erläuterungen dazu in denen ich um der Ehre des Papstes willen darauf hinwirken wollte, daß der Ablaß zwar nicht verworfen werde, gute Werke der Nächstenliebe ihm jedoch vorzuziehen seien.
Das hieß allerdings, den Himmel zum Einsturz bringen und die Welt in Flammen aufgehen lassen! Ich werde beim Papst angeklagt, meine Vorladung nach Rom wird mir zugestellt, und das ganze Papsttum erhebt sich wider mich einzelnen Mann. Diese Dinge tragen sich im Jahre 1518 zu, während Maximilians Reichstag zu Augsburg abgehalten wurde, auf dem als Legat seitens des Papstes Kardinal Cajetan tätig war. An ihn trat der erlauchteste Herzog von Sachsen Friedrich, Kurfürst, in meiner Sache heran und setzte es durch, daß ich nicht gezwungen werden sollte, nach Rom zu gehen. Vielmehr solle er selbst mich vorladen, meine Angelegenheit untersuchen und beilegen. Bald darauf wurde der Reichstag verabschiedet.
Mittlerweile, weil alle Deutschen es müde geworden waren, die Ausplünderungen, den Schacher und die unzähligen Betrügereien der romhörigen Windbeutel zu ertragen, warteten sie mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Ausgang einer so wichtigen Angelegenheit, die zuvor weder ein Bischof noch ein Theologe anzurühren gewagt hatte. Und überhaupt kam mir die Volksstimmung sehr zugute, weil jene Kunstkniffe und echt römischen Umtriebe nunmehr allen verhaßt waren, mit denen sie den ganzen Erdkreis bis zum Überdruß angefüllt hatten.
So kam ich zu Fuß und als armer Mann nach Augsburg, versehen mit Reisegeld und mit Empfehlungsschreiben des Fürsten Friedrich an den Rat und an einige treffliche Männer. Drei Tage hielt ich mich dort auf, ehe ich zum Kardinal ging. Denn jene redlichen Männer hielten mich ab und widerrieten mir aufs nachdrücklichste, ja nicht ohne sichere Geleitzusage des Kaisers zum Kardinal zu gehen, obwohl mich dieser täglich durch einen Verbindungsmann vorlud. Der wurde mir schon reichlich lästig: Ich solle nur widerrufen, dann sei alles in Ordnung. Jedoch lange wie das Unrecht währen auch die Winkelzüge.
Schließlich kam er am dritten Tag und verlangte Auskunft darüber, warum ich nicht zum Kardinal gehe, der mich gütigst erwarte. Ich antwortete, ich hätte den Ratschlägen der edlen Männer zu folgen, denen ich vom Fürsten Friedrich anbefohlen sei. Ihr Rat sei es aber, ich solle keinesfalls ohne den Schutz des Kaisers oder ohne öffentliche Geleitzusage zum Kardinal gehen. Wenn dies gewährt sei – sie verhandelten mit dem kaiserlichen Rat, um es zu erreichen –, würde ich alsbald kommen. Der erwiderte erregt: „Was“, sagte er, „du meinst wohl, Fürst Friedrich werde deinetwegen zu den Waffen greifen?“ Ich sagte: „Das wollte ich keineswegs.“ „Und wo wirst du dann bleiben?“ Ich antwortete: „Unter dem Himmel!“ Darauf er: „Wenn du den Papst und die Kardinäle in deiner Gewalt hättest, was würdest du machen?“ „Ich würde ihnen“, sagte ich, „alle Reverenz und Ehre erweisen.“ Darauf sagte jener, nach italienischem Gestus mit einer verächtlichen Fingerbewegung: „Ei!“, ging weg und kam nicht wieder.
Am selben Tage teilte der kaiserliche Rat dem Kardinal mit, mir sei des Kaisers Schutz oder freies Geleit erteilt, und fügte die Ermahnung bei, nichts zu Hartes gegen mich anzuordnen. Er soll geantwortet haben: „Schon gut, ich werde trotzdem tun, was meines Amtes ist.“ Das waren die Anfänge dieses Sturms. Das übrige ist aus den nachstehenden Akten zu ersehen.
Im gleichen Jahr war bereits Magister Philipp Melanchthon vom Fürsten Friedrich hierher berufen worden als Lehrer der griechischen Sprache, ohne Zweifel damit ich in der Theologie einen Arbeitsgefährten hätte. Denn was Gott der Herr durch dieses Werkzeug nicht bloß in der allgemeinen Wissenschaft, vielmehr in der Theologie ausgerichtet hat, das bezeugen dessen Werke zur Genüge, auch wenn der Satan mit seinem gesamten Gefolge darüber tobt.
Im folgenden Jahr 1519 starb im Februar Maximilian, und nach dem Reichsrecht wurde Herzog Friedrich zum Verweser bestellt. Da hörte für ganz kurze Zeit der Sturm auf zu wüten, und allmählich griff die Verachtung der Exkommunikation, das heißt des päpstlichen Bannstrahls, weiter um sich. Denn als Eck und Carraciolo aus Rom die Bulle, die den Luther verdammte, überbracht und sie bekanntgemacht hatten – jener hier und dieser dort beim Kurfürsten Friedrich, der damals gerade in Köln war, um zusammen mit anderen Fürsten den jüngst gewählten Kaiser Karl zu empfangen –, da nahm der Kurfürst es äußerst entrüstet auf und warf jenem päpstlichen Windbeutel mit großer Unerschrockenheit und Unbeugsamkeit vor: Während seiner Abwesenheit hätten sie beide, er und Eck, die Herrschaftsbereiche seines Bruders Johann und seiner selbst in Unruhe versetzt. Und er ließ sie so prächtig abfahren, daß sie mit Schimpf und Schande von ihm schieden. Denn der Fürst, mit einem unglaublich guten Verstand ausgestattet, durchschaute die Kunstkniffe der römischen Kurie und wußte die Herren angemessen zu behandeln. Er besaß nämlich eine äußerst feine Nase dafür und roch den Braten besser und von viel weiter her, als die Römlinge dies erwarten oder fürchten konnten.
Deshalb sahen sie daraufhin ganz davon ab, es mit ihm zu versuchen. Denn auch die sogenannte Goldene Rose, die ihm im selben Jahre von Leo x. übersandt wurde, würdigte er keiner weiteren Ehre, ja er machte sie lächerlich, so daß sich die Romanisten gezwungen sahen, ihre Bemühungen, einen solchen Fürsten zu täuschen, als aussichtslos aufzugeben. Und unter dem Schirm dieses Fürsten nahm das Evangelium einen glücklichen Fortgang und breitete sich weiter aus. Sein Ansehen bewog sehr viele; konnte er doch als ein so weiser und klarblickender Fürst nur bei Gehässigen in den Verdacht geraten, er wolle Ketzerei oder Ketzer hegen und beschützen. Das hat dem Papsttum großen Schaden eingetragen.
In demselben Jahre wurde die Disputation in Leipzig abgehalten, zu der Eck uns beide, Karlstadt und mich, herausgefordert hatte. Jedoch konnte ich durch keinen meiner Briefe eine Geleitzusage von Herzog Georg erwirken, so daß ich nicht um zu disputieren, sondern um zuzuschauen unter dem Karlstadt zugesicherten Geleit nach Leipzig ging. Wer es für mich hintertrieben hat, weiß ich nicht. Denn noch war mir Herzog Georg nicht feindselig gesinnt, was ich sicher wußte.
Hier suchte mich Eck in der Herberge auf und sagte, er habe gehört, ich verweigere die Disputation. Ich antwortete: „Wie soll ich disputieren können, wenn ich kein Geleit vom Herzog Georg bekommen kann?“ Darauf jener: „Wenn ich mit dir nicht disputieren darf, will ich’s auch mit Karlstadt nicht, denn deinetwegen bin ich hergekommen. Was wird, wenn ich für dich freies Geleit erwirke? Wirst du dann mit mir disputieren?“ „Erwirk’s“, sagte ich, „und es soll geschehen.“ Da ging er fort, und bald darauf wurde auch mir freies Geleit gewährt und die Möglichkeit verschafft, zu disputieren.
Das tat Eck, weil er seinen sicheren Triumph schon vor sich sah wegen meiner These, in der ich bestritt, daß der Papst nach göttlichem Recht das Haupt der Kirche sei. Hier öffnete sich ihm ein weites Feld und die beste Gelegenheit, sich erfolgreich einzuschmeicheln und die Gunst des Papstes zu verdienen, anderseits mich mit Haß und Argwohn zu überschütten. Das hat er auch entschlossen während der ganzen Disputation getan und dennoch weder seine Thesen bewiesen noch die meinen widerlegt, so daß selbst Herzog Georg bei einem Frühstück zu Eck und mir sagte: „Sei er nun Papst nach menschlichem oder nach göttlichem Recht, er ist eben Papst!“ Diesen Ausspruch hätte er nie getan, wenn er nicht von den Argumenten beeindruckt gewesen wäre, sondern Eck allein recht gegeben hätte.
So siehe nun hier zumal in meinem Fall, wie schwierig es ist, sich aus Irrtümern herauszuwinden und zu befreien, die durch das Vorbild der ganzen Welt verfestigt und durch lange Gewöhnung gleichsam in Natur verwandelt sind. Wie wahr ist doch das Sprichwort: „Gewohntes zu lassen ist schwer.“ Und: „Die Gewohnheit ist unsre zweite Natur.“ Und wie wahr sagt es Augustin: „Gewohnheit wird Zwang, wenn man ihr nicht widersteht.“ Was mich betrifft, so hatte ich damals schon während sieben Jahren die heilige Schrift privat und öffentlich aufs aufmerksamste gelesen und gelehrt, so daß ich fast alles im Gedächtnis hatte. Ferner hatte ich auch die Anfänge der Erkenntnis Christi und des Glaubens an ihn daraus geschöpft, daß wir nämlich nicht durch Werke, sondern durch den Glauben an Christus gerecht und selig werden. Und schließlich vertrat ich das, wovon jetzt die Rede ist: daß der Papst nicht nach göttlichem Recht das Haupt der Kirche sei, bereits in der Öffentlichkeit. Dennoch sah ich das, was daraus folgte, noch nicht: daß nämlich dann der Papst notwendig vom Teufel sei. Denn was nicht von Gott stammt, das muß vom Teufel sein.
So hingenommen war ich, wie gesagt, von dem Vorbild und hohen Ansehen der heiligen Kirche sowie durch meine eigene Gewohnheit, daß ich dem Papst ein menschliches Recht zugestand, das doch, wenn es nicht durch göttliche Autorität gestützt wird, Lüge und Teufelszeug ist. Denn den Eltern und den Amtspersonen gehorchen wir, nicht weil sie selbst es befehlen, sondern weil es so Gottes Wille ist, 1.Petr.2,13. Daher kommt es, daß ich mit einigem Gleichmut diejenigen ertragen kann, die noch ziemlich hartnäckig am Papsttum hängen, zumal solche, die weder die heilige Schrift noch die weltlichen Bücher dazu gelesen haben, während doch ich selbst in so vielen Jahren die heilige Schrift aufs sorgfältigste studiert und trotzdem so hartnäckig am Papsttum gehangen hatte.
Im Jahre 1519 ließ Leo x., wie gesagt, die Goldene Rose durch Karl von Miltitz überbringen, der viel mit mir verhandelte, damit ich mit dem Papst wieder versöhnt würde. Er hatte 70 apostolische Kurzschreiben bei sich, um, falls Fürst Friedrich mich ihm auslieferte, wie es der Papst durch die Rose zu erreichen suchte, in jeder Stadt eines davon anzuschlagen und so mich sicher nach Rom zu bringen. Er gab mir gegenüber jedoch seines Herzens Gedanken preis, indem er sagte: „O Martin, ich meinte, du seiest irgendein uralter Theologe, der hinter dem Ofen sitzend so mit sich selbst disputiert hätte. Jetzt aber sehe ich, daß du noch in der Blüte der Jugend und bei voller Kraft bist. Hätte ich 25 000 Bewaffnete, so traute ich es mir nicht zu, dich nach Rom bringen zu können. Habe ich mich doch auf der ganzen Reise nach der Einstellung der Leute erkundigt, was sie von dir hielten. Siehe da, wo ich einen fand, der für den Papst einstand, traten gleich drei für dich ein gegen den Papst.“ Das war freilich lachhaft: Er hatte auch alte Weiblein und junge Mädchen in den Herbergen befragt, was sie vom römischen Stuhl hielten; weil sie aber diesen Ausdruck nicht kannten und an ihren Stuhl zu Hause dachten, antworteten sie: „Wie können wir wissen, was ihr für Stühle in Rom habt, ob hölzerne oder steinerne?“
Deshalb bat er mich, ich möge auf das bedacht sein, was dem Frieden diene; er werde sich alle Mühe geben, daß der Papst dasselbe tue. Ich meinerseits habe auch entgegenkommend versprochen, ich werde bereitwilligst alles tun, was ich nur irgend mit unverletztem Wahrheitsgewissen vermöchte; auch ich wünschte den Frieden und sei um ihn bemüht, weil ich, mit Gewalt in diese Streitigkeiten hereingezogen, alles nur notgedrungen getan hätte, was ich getan habe; meine Schuld sei das nicht!
Er hatte aber Johann Tetzel vom Predigerorden, den ersten Urheber dieses Trauerspiels, zu sich bestellt. Und er zerbrach diesen Mann, bisher ein Schrecken für alle und selber ein unerschrockener Schreihals, mit päpstlichen Worten und Androhungen so sehr, daß er von nun an dahinsiechte und schließlich an Schwermut starb. Ihn habe ich, sobald ich davon erfuhr, noch vor seinem Tode mit einem freundlich geschriebenen Brief getröstet und ihn geheißen, guten Mutes zu sein; er solle sich auch in Erinnerung an mich nicht mehr ängsten. Aber vermutlich ist er unter der Last des Gewissens und der päpstlichen Ungnade gestorben.
Man hielt Karl von Miltitz wohl für ziemlich unnütz und ebenso auch seinen Plan. Doch meines Erachtens verhält es sich so: Hätten der Mainzer[2] von Anfang an, als er durch mich gewarnt wurde, und schließlich auch der Papst, ehe er mich unverhört verdammte und mit seinen Bullen wütete, den Plan gefaßt, auf den dann Karl spät genug kam, und hätten sie das unsinnige Treiben Tetzels sofort in die Schranken gewiesen, dann hätte sich die Sache nicht zu einem so großen Tumult ausgeweitet. Die ganze Schuld liegt beim Mainzer. Seine hinterlistige Schläue hat ihn betrogen, mit der er beides zugleich erreichen wollte: meine Lehre unterdrücken und sein durch den Ablaß erworbenes Geld retten. Jetzt werden vergeblich Pläne geschmiedet, ist man zu vergeblichen Mühen gezwungen. Der Herr ist erwacht und steht bereit, die Völker zu richten. Auch wenn sie uns töten könnten, hätten sie dennoch nicht, was sie wollen; ja sie hätten es dann noch weniger, als sie es haben, solange wir noch leben und unversehrt sind. Manche von denen, deren Nase nicht gänzlich verstopft ist, wittern das schon selber deutlich genug.
Inzwischen war ich in diesem Jahr bereits wieder zum Psalter zurückgekehrt, um ihn ein zweites Mal auszulegen, im Vertrauen darauf, daß ich jetzt dafür geübter wäre, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer und Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen; aber nicht Kaltherzigkeit hatte mir bis dahin im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel steht: „Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart.“ (Röm. 1,17) Denn ich haßte diese Vokabel „Gerechtigkeit Gottes“, die ich durch die übliche Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, mittels derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.
Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte und mich nicht darauf verlassen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein, haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen, wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, daß die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle.
Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: „Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und daß dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben ist: „Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief dann die Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln: z. B. Werk Gottes, das heißt: was Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht, Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.
Wie sehr ich vorher die Vokabel „Gerechtigkeit Gottes“ gehaßt hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen. Später las ich Augustins Schrift Über den Geist und den Buchstaben. In ihr bin ich wider Erwarten darauf gestoßen, daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich erklärt: als die, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obwohl dies noch unvollkommen gesagt ist und in bezug auf die Zurechnung der Gerechtigkeit nicht klar alles erläutert, gefiel es mir doch, daß dort als Gerechtigkeit Gottes die gelehrt wird, durch die wir gerechtfertigt werden.
Durch solche Erwägungen besser gerüstet, begann ich den Psalter zum zweiten Mal auszulegen. Und diese Arbeit wäre zu einem großen Kommentar angewachsen, wenn ich nicht erneut durch den Reichstag Kaiser Karls v. im darauffolgenden Jahr nach Worms vorgeladen worden und so gezwungen gewesen wäre, das begonnene Werk liegen zu lassen.
Dies erzähle ich darum, lieber Leser, damit du, wenn du meine kleinen Werklein liest, dessen eingedenk bist, daß ich, wie oben gesagt, einer von denen bin, die, wie es Augustin von sich schreibt, beim Schreiben und Lehren ihre Fortschritte gemacht haben. Also nicht einer von denen, die aus dem Nichts mit einem Schlag den Gipfel erstürmen, während sie doch nichts sind, ohne Mühsal, ohne Anfechtung, ohne Erfahrung, sondern auf einen einzigen Blick in die Schrift hin deren ganzen Geist ausgeschöpft haben.
Bis hierhin zum Jahre 1520/21 nahm der Ablaßstreit seinen Verlauf. Darauf folgen dann die Auseinandersetzungen mit den Sakramentierern und Wiedertäufern, worüber ich in weiteren Bänden, falls ich noch lebe, die Vorrede schreiben werde.
Gehab dich wohl in dem Herrn, lieber Leser, und bete für das Wachstum des Wortes wider den Satan; denn er ist mächtig und böse, ja nun auch ganz rasend vor Grimm. Er weiß ja, daß er nur wenig Zeit hat und das Reich seines Papstes sich in Gefahr befindet. Gott aber stärke in uns, was er gewirkt hat, und vollende sein Werk, das er in uns angefangen hat, zu seiner Ehre. Amen. Am 5. März des Jahres 1545.
Anmerkungen
Quelle der deutschen Übersetzung aus dem Lateinischen: Martin
Luther, Ausgewählte Schriften,
Band 1, S. 13–25.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig
1995.