Kurzbeschreibung

Rückblickend macht der führende Wirtschaftspolitiker der DDR, Günter Mittag, das starre Festhalten an Erich Honeckers „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ für den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verantwortlich. Dessen Politik sei darauf ausgerichtet gewesen, das Regime durch eine Erhöhung des Konsums zu stabilisieren und habe auf diese Weise die Produktionskapazitäten ruiniert.

DDR Wirtschaftsminister Günter Mittag erklärt das Scheitern der Planwirtschaft (1991)

  • Günter Mittag

Quelle

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Erich Honecker hatte wenige Grundsätze, die sein Denken in ökonomischen Fragen bestimmten. Höhere Arbeitsproduktivität ja, aber ohne spürbare Anforderungen an den einzelnen im Sinne von Mehrarbeit. Schulterklopfen anstelle von Disziplin. Im Zweifelsfalle lieber Geld für gesellschaftliche Bereiche als für die Produktion. Er verstand nicht die Wechselwirkung von Akkumulation und Konsumtion.

Gleichzeitig verkannte er aber auch den veränderten Stellenwert der Konsumtion. Seine Auffassung war, neue Erzeugnisse seien zwar wünschenswert, aber letztlich wäre doch entscheidend, daß die Menschen ein Dach über dem Kopf und satt zu essen hätten. Das hing mit seinen persönlichen Lebenserfahrungen in der Vergangenheit zusammen. Daß die Bedürfnisse eine ganz andere Qualität angenommen hatten und daß, bedingt durch den Generationswechsel, die Menschen nicht aus einer ihnen weitgehend unbekannten Vergangenheit, sondern nach der ihnen vorgeführten Gegenwart in der BRD ihr Bedürfnisniveau bestimmten, hat sich in seinem Denken nicht verinnerlicht.

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Jetzt weiß ich besser, warum es oft so unendlich schwer war, in manchen wesentlichen Fragen seine Zustimmung zu erreichen, warum es so oft Ablehnung gab. Er hat zwar, geht man von manchen Formulierungen aus, Forderungen nach höherer Arbeitsproduktivität usw. erhoben. In dem Moment aber, wo es um praktische Konsequenzen ging, das heißt also darum, die produktive Akkumulation zu ungunsten der Konsumtion – und hier wäre es um die gesellschaftliche Konsumtion gegangen – zu erhöhen, gab es keine Zustimmung. Oberflächlich hat er sich neuen Fragen gegenüber nicht ablehnend verhalten. Wenn es dann aber um grundsätzliche Entscheidungen ging, orientierte er sich in der Regel an seinen vereinfachten Leitsätzen.

In wesentlichen Fragen der Ökonomie machte sich bei Erich Honecker leider das statische Denken bemerkbar. Er wollte in wohlverstandenem Sinne des Wortes Stabilität um jeden Preis und verstand nicht, daß gerade dieses Beharren auf Stabilität im Sinne des Festhaltens an eingefahrenen Strukturen das Gegenteil von Stabilität, nämlich Instabilität bewirken mußte. So war es weder möglich, Korrekturen in der Verteilung der Mittel zugunsten von Industrieinvestitionen zu erreichen noch durch Änderung der Politik der Verbraucherpreise die unerträglich gewordene Subventionslast zu mindern.

So kam es zu einem schematischen, um nicht zu sagen sturen Festhalten an der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in jedem ihrer Details. Es war nicht einmal möglich, die Preise für Blumen zu verändern, obwohl dadurch nachweislich die Versorgung verschlechtert wurde, weil es bei den Gärtnern und Händlern kein Interesse an mehr und schöneren Blumen gab. Wie viele Versuche hatte ich hier, unterstützt durch andere, unternommen und wie oft scheiterten sie. Das brachte mich selbst in eine schwierige Lage, da ich dann immer verpflichtet war, die Linie des Generalsekretärs offiziell zu verteidigen. Zugleich habe ich jedoch in einem großen Kreis von Personen drängende Probleme diskutiert und immer wieder zu den verschiedensten Zeitpunkten dafür gesorgt, daß entsprechende Veränderungsvorschläge ausgearbeitet werden. Das betraf insbesondere Fragen der Subventionen, der Kostenbelastung der Betriebe durch von ihnen nicht zu vertretende „gesellschaftliche Kosten“, den Abbau des Verwaltungspersonals und die Umverteilung von Verteidigungslasten zugunsten der Wirtschaft. Das waren immer die „heißen Eisen“ und das waren auch die „Dauerbrenner“, da diese Fragen zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich zur Lösung gebracht werden konnten.

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Insgesamt wurde versäumt, zu den grundlegend veränderten Entwicklungsbedingungen der Produktivkräfte Stellung zu nehmen, sich vorbehaltlos und umfassend der Frage zu stellen, wie die DDR darauf zu reagieren hatte.

Die notwendige Veränderung der Struktur der Volkswirtschaft in Richtung auf eine umfassende Modernisierung unterblieb. Über Strukturpolitik durfte nicht gesprochen werden. Mit diesbezüglichen Ansätzen bin ich bei Honecker nicht durchgekommen und hätte auch im Politbüro nicht die erforderliche Unterstützung gefunden. Man scheute vor jeder ernsthaften Veränderung der politischen Grundlinie zurück.

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Zunächst möchte ich klarstellen: Wird darunter eine Beendigung dieser Politik insgesamt verstanden, wäre das bereits in den siebziger Jahren eine Beerdigung der DDR geworden. Es wäre zu sozialen Konflikten mit politischen Konsequenzen gekommen, die vermutlich nicht nur die ehemalige DDR berührt hätten. Das konnte zu einem Zeitpunkt, zu dem der kalte Krieg noch nicht einmal in Ansätzen überwunden war, nicht riskiert werden, weil die Konsequenzen nicht absehbar gewesen wären. Man denke nur an die brisante Konstellation wegen der Raketenstationierung. Die geringste Erschütterung im Herzen Europas hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem atomaren Inferno geführt.

Deshalb war damals eine mögliche politische Destabilisierung in der DDR durch Einschränkung sozialpolitischer Maßnahmen mit einem völlig unkalkulierbaren politischen Risiko verbunden. Insofern war die Gewährleistung von ökonomischer und damit auch sozialer Stabilität eine Grundprämisse jeglichen politischen Handelns.

Da es als unumstößliches Axiom galt, daß der Lebensstandard steigen müsse, wurden zur Überbrückung auftretender Versorgungsengpässe Kredite aufgenommen. Mit den dafür gekauften Waren wurde zugleich das Anspruchsniveau erhöht. Zum großen Teil verkaufte man diese Waren zu den gleichen niedrigen und weitgehend gestützten Preisen wie DDR-Waren. Das geschah unter dem Begriff „Grundbedarf“. Waren ursprünglich im wesentlichen die Grundnahrungsmittel damit gemeint, fielen mehr und mehr Erzeugnisse unter diesen Begriff, bis er zuletzt so ziemlich alles, was verkauft wurde, erfaßte. Selbst die PKW wurden teilweise subventioniert, obwohl sich unter der Hand ein ganz anderes Preisniveau herausbildete.

Durch die ständige Betonung, daß die Preise für Waren des Grundbedarfs, daß die Energietarife und Mieten stabil bleiben müssen – dieser Grundsatz war in den Beschlüssen des ZK verankert –, war es prinzipiell nicht möglich, die wirklichen Kosten in den Einzelhandelsverkaufspreisen sichtbar zu machen. Da die Versorgung selbst, gemessen an den wachsenden Ansprüchen, nicht wesentlich besser wurde, engte sich die Politik der Hauptaufgabe faktisch auf das starre Festhalten an nahezu allen Einzelhandelspreisen für jede beliebige Ware ein.

Damit verlor diese im Ansatz durchaus richtige Politik jede Dynamik. Sie löste sich immer mehr von der Leistungsentwicklung und engte auch die Wirkung des Leistungsprinzips ein. Sie förderte ein unberechtigtes Anspruchsdenken. Das war psychologisch sehr negativ. Den Klagen über Mängel im Warenangebot wurde mit dem Argument der „zweiten Lohntüte“ begegnet. Sie enthielt die im Durchschnitt pro Kopf an Hand des Warenverbrauchs errechnete und anfallende Summe der Subventionen. Das jedoch wirkte nicht beim Einkauf, wenn der Werktätige versuchte, seinen erarbeiteten Lohn zu realisieren und dabei auf Warenmangel stieß, sondern taugte im besten Falle als Argument auf Versammlungen.

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Erforderlich und möglich gewesen wäre jedoch spätestens zum Zeitpunkt der achtziger Jahre, als sich die Belastungen akkumulierten, eine scharfe Wende im gesellschaftlichen Verbrauch. Das betrifft die Reduzierung übertriebener Aufwendungen für Verteidigung und Sicherheit, aber auch für gesellschaftliche Bauten sowie die Verminderung der Staatskosten. Hier ist nicht schnell und nicht durchgreifend genug reagiert worden. Diese Fragen hätten prinzipieller gestellt werden müssen. Von dieser Verantwortung nehme ich mich nicht aus.

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Quelle: aus: Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme © Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 1991, 2008. [S. 58–64 (in Auszügen)].