Kurzbeschreibung

Elizabeth Pond zeichnet die Entwicklung der Rolle Westdeutschlands im Nachkriegseuropa nach. Ihr zufolge wurde das Land in der vierten Phase dieser Entwicklung, die mit dem Ende der sozialliberalen Koalition begann, in die Rolle einer „Mittelmacht im Herzen Europas“ katapultiert. Es sei unwahrscheinlich, dass die neue Regierung unter Helmut Kohl die Außenpolitik der Bundesrepublik ändern werde, argumentiert Pond.

Der Beginn der Ära Kohl in Westdeutschland (4. Oktober 1982)

Quelle

Wunder, Entspannung, jetzt Normalität; Deutschlands 4. große Nachkriegszeit beginnt
Elizabeth Pond, Bonn-Korrespondentin für The Christian Science Monitor

Als die neue Mitte-Rechts-Koalition am 1. Oktober den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt abwählte, beendete sie eine 13-jährige Ära, in der Westdeutschland endlich die Schatten der Nazi-Vergangenheit vertrieben hatte und in seine europäische Führungsrolle hineinwuchs. Sie beendete aller Wahrscheinlichkeit nach die politische Karriere zweier bemerkenswerter Staatsmänner, Helmut Schmidt und Willy Brandt. Sie entmythologisierte – und festigte zugleich – die Entspannung im Herzen Europas. Sie beauftragte die konservativen Architekten des deutschen „Wirtschaftswunders“ erneut – dieses Mal mit der Verwaltung einer schwierigen wirtschaftlichen Rezession.

Alle sprechen von einer historischen Wende. Und das ist sie auch. Aber im Rückblick ist das Historischste daran vielleicht, dass damit der Vorhang über ein Dritteljahrhundert historischer Veränderungen fällt und Westdeutschland in die normale, alltägliche Politik eintritt.

Die 13 Jahre unter sozialdemokratischen Kanzlern bildeten das dritte Zeitalter im Leben der Bundesrepublik Deutschland. Das erste gehörte dem konservativen Kanzler Konrad Adenauer, der aus den physischen, institutionellen und emotionalen Trümmern eines verlorenen Krieges eine Nation aufbaute und diese neue Nation fest im Westen verankerte.

Die zweite Ära gehörte den konservativen Nachfolgern Adenauers, die das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre leiteten, das Westdeutschland zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa machte.

Auf dieser Grundlage wandte sich die dritte, sozialdemokratische Ära schließlich der Bewältigung des unvollendeten Hitler-Erbes zu, sowohl im Inland als auch im Ausland.

Innenpolitisch bedeutete die Machtübernahme der Sozialdemokraten im Jahr 1969 endlich einen sauberen Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Adenauer hatte sich persönlich nichts zuschulden kommen lassen; er hatte sich in den 1930er und 1940er Jahren geweigert, mit den Nazis zusammenzuarbeiten. Aber die Konservativen als Ganzes waren nicht so wählerisch gewesen. Und in den späten 1940er Jahren hatten die westlichen Besatzungsmächte in ihrem Bestreben, ein westdeutsches Bollwerk gegen jede sowjetische Expansion zu errichten, ihr „Entnazifizierungsprogramm“ schnell fallen gelassen und begonnen, mit alten Wirtschaftsmagnaten, Politikern und einigen Militärs zusammenzuarbeiten, ohne sich allzu sehr um die Vergangenheit der Zusammenarbeit mit den Nazis zu scheren.

Unter den westdeutschen konservativen Regierungen gab es also eine peinliche Fortsetzung (und Förderung) von Überbleibseln der mittleren Ebene aus der Hitlerzeit, insbesondere in den Gerichten, im Bildungswesen, in der Wirtschaft, im Geheimdienst und im öffentlichen Dienst.

Mit der Machtübernahme der Sozialdemokraten änderte sich dies alles. Sozialdemokraten waren in Nazi-Deutschland selbst inhaftiert und getötet worden. Brandt war aus Deutschland geflohen und hatte sich dem Widerstand in Norwegen angeschlossen. In den Geheimdiensten und im öffentlichen Dienst wurden nun konservative Überbleibsel ersetzt.

In der Außenpolitik gab es eine parallele Entwicklung. Als Ausdruck der Reue für die deutschen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg hatte Adenauer bereits „Wiedergutmachungszahlungen“ an jüdische Überlebende des Holocaust und an den neuen Staat Israel veranlasst. Außerdem hatte er zum ersten Mal in den Jahrhunderten der feindlichen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn eine enge französisch-(west)deutsche Partnerschaft begonnen. Das Misstrauen der ehemaligen Opfer von Hitlers Aggression in Ost- und Westeuropa konnte er jedoch nicht zerstreuen. Diese Menschen waren nicht davon überzeugt, dass die Westdeutschen sich vollständig von der Vergangenheit losgesagt hatten.

Willy Brandt hat sie überzeugt, durch seine Person und durch seine Worte. Vor allem besuchte er das schlimmste Vernichtungslager der Nazis, Auschwitz, in Polen – und fiel dort vor Reue über die begangenen Grausamkeiten auf die Knie.[1]

In der konkreten Politik war die Amtszeit Brandts von der Sozialreform im Inland und der Ostpolitik im Ausland geprägt. In guter sozialdemokratischer Tradition zielte die Sozialreform darauf ab, Chancengleichheit für alle Schichten herzustellen, konservative Orthodoxien und recht starre Institutionen zu erschüttern.

Noch umstrittener war Brandts Ostpolitik, die Entspannung der Beziehungen zwischen Westdeutschland und den Ländern des Ostblocks. Sie wurde unter dem Dach der breiteren amerikanisch-sowjetischen Entspannung praktiziert – aber sie weckte dennoch konservative westdeutsche Befürchtungen, dass sie eine Schwächung der westdeutschen Treue zum westlichen Bündnis und einen gefährlichen Flirt mit dem Osten bedeuten würde. Darüber hinaus verärgerte sie die Konservativen, weil sie die Akzeptanz der geschrumpften deutschen Nachkriegsgrenzen und die Anerkennung Ostdeutschlands bedeutete – ein Schritt, den die Konservativen in den zwei Jahrzehnten ihrer Amtszeit abgelehnt hatten.

Willy Brandt setzte sich jedoch durch. Der Vier-Mächte-Vertrag von Berlin wurde 1971 von den ehemaligen Besatzungsmächten unterzeichnet und garantierte die Beziehungen zwischen Westdeutschland und der Enklave West-Berlin in Ostdeutschland, einschließlich des Zugangs zu Land zwischen den beiden politischen Einheiten. Das polnisch-westdeutsche Abkommen wurde ratifiziert. Die Ostdeutschen erklärten sich bereit, ihre Grenzen für Besucher aus dem Westen und dem Osten wieder zu öffnen.

Vor allem aber überzeugte Brandt die Öffentlichkeit davon, dass die praktische Sicherung menschlicher Kontakte zwischen West- und Ostdeutschen den Preis (durch die Akzeptanz der Existenz zweier deutscher Staaten) einer unbefristeten Aufschiebung der deutschen Wiedervereinigung wert war. Mit diesem Programm gewann er die Wiederwahl mit Leichtigkeit.

Das politische Mandat war so überzeugend, dass die Konservativen nun mit dem Versprechen angetreten sind, alle bisherigen Verträge zu erfüllen. Sie werden die Beziehungen zum Osten nicht ausbauen, und sie werden die Entspannung mit dem Osten nicht verherrlichen. Sie werden jedoch den Grad der Zusammenarbeit, der jetzt besteht, bewahren.

Der Wechsel von Brandt zu Schmidt erfolgte, nachdem ein ostdeutscher Spion in Brandts Kanzleramt enttarnt worden war. Brandt wurde von seiner Partei fallen gelassen (nicht nur wegen des Spions, sondern weil die Ölkrise neue wirtschaftliche Probleme aufgeworfen hatte, denen Brandt nicht gewachsen war). Helmut Schmidt, ehemaliger Finanz- und Verteidigungsminister und Wirtschaftsexperte, übernahm das Ruder.

Schmidt stand in der Tradition der Sozialdemokraten. Doch er war ein Hamburger Sozialdemokrat, ein ganz besonderer Typ. Manchmal wurde er nur halb im Scherz als der beste konservative Kanzler bezeichnet, den Deutschland je hatte. Er führte die westdeutschen Wirtschaftsangelegenheiten souverän und mit dem Vertrauen der Wirtschaft. Er wurde zu einer wichtigen Stimme in den westlichen Wirtschaftsräten und half, den jährlichen Wirtschaftsgipfel der sieben führenden Industriedemokratien ins Leben zu rufen. Er war ein Bollwerk gegen protektionistische Bestrebungen im Handel. Gemeinsam mit dem konservativen französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing initiierte er die derzeitige europäische Währungsbindung.

Darüber hinaus bewies Schmidt ein Talent für das Weltgeschehen im weiteren Sinne, das ihm die manchmal widerwillige Bewunderung seiner Verbündeten einbrachte. Selbst als die Entwicklung hin zu einem vereinten Europa ins Stocken geriet, waren Schmidt und sein französischer Partner in wirtschaftlicher Hinsicht weiterhin führend in Europa.

Unter Schmidt war Westdeutschland eindeutig das wirtschaftliche und militärische Kraftzentrum Westeuropas. Bei amerikanisch-europäischen Konflikten war Schmidt oft der Wortführer für ganz Europa. In Zeiten, in denen die Europäer über die amerikanische Führung des Bündnisses verärgert waren – oder auch nur perplex über die unberechenbaren amerikanischen Richtungswechsel von einer Administration zur nächsten – wurde Schmidt immer wieder aufgefordert, die Führung der westlichen Welt zu übernehmen.

In zwei Bereichen der Außenpolitik hat Schmidt besondere Spuren hinterlassen: Verteidigung und Ost-West-Beziehungen. Es war seine Besorgnis über ein wachsendes Ungleichgewicht im nuklearen Gleichgewicht in Europa, die den NATO-Beschluss zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen Mitte der 1980er Jahre vorantrieb. Gleichzeitig war es seine Besorgnis über ein Scheitern des Dialogs zwischen den Supermächten, die ihn dazu veranlasste, darauf zu bestehen, dass die Stationierung von echten Bemühungen um die Aushandlung von Rüstungskontrollen mit der Sowjetunion abhängig gemacht wird.

Schmidts Entschlossenheit, so viel wie möglich von der Entspannung in Mitteleuropa – und von den menschlichen Kontakten zwischen Ost- und Westdeutschen – zu retten, brachte ihn in der Zeit der getrübten Entspannung nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und dem sowjetischen Druck für ein hartes Durchgreifen in Polen wiederholt in Konflikt mit Washington. Zahlreiche US-Beamte verdächtigten Bonn, die Erpressung einer geschwächten Loyalität zum Westen in einem gefährlichen Versuch zu bezahlen, Moskau Milde zu entlocken.

Schmidt hingegen sah seine Aufgabe darin, die Verhärtung der Ost-West-Feindschaft in einem gefährlichen Nuklearzeitalter zu einer hemmungslosen Konfrontation zu verhindern.

Wenn Bundeskanzler Helmut Kohl die vierte Ära in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einleitet, erbt er eine Außen- und Innenpolitik, die er nicht wesentlich ändern wird. Er wird den Sozialstaat in einer Zeit der Rezession abbauen. Er wird die Rolle Westdeutschlands als Mittelmacht im Herzen Europas konsolidieren.

Mehr als alles andere könnte er sich jedoch als Symbol für die Normalität erweisen – die alltägliche Machtverschiebung in einer Demokratie, die nur noch einen Wechsel der Parteien erfordert, um Änderungen an Einzelheiten zu erwirken – und nicht, um historische Beiträge zu leisten, die nur eine Partei leisten kann.

Anmerkungen

[1] Brandts berühmt gewordener Kniefall fand tatsächlich in Warschau vor dem Denkmal des Warschauer Ghetto-Aufstandes statt, nicht in Auschwitz—Hrsg.

Quelle: Elizabeth Pond, „Miracles, detente, now normalcy; Germany’s 4th great postwar era begins“, The Christian Science Monitor, 4. Oktober 1982. © The Christian Science Monitor.

Übersetzung: Insa Kummer