Kurzbeschreibung

Der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung (Leipzig), Walter Friedrich, entwarf eine Denkschrift für Egon Krenz, den Vorsitzenden der staatlichen Jugendorganisation FDJ, in der er den allmählichen Entfremdungsprozess der ostdeutschen Jugendlichen vom Staat nachzeichnet und konstruktive Gegenmaßnahmen, wie das Zugeständnis größerer Freiheiten, fordert.

Der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung (Leipzig) äußert sich zur zunehmenden Entfremdung der Jugendlichen von der DDR (1988)

  • Walter Friedrich

Quelle

Einige Reflexionen über geistig-kulturelle Prozesse in der DDR

1. Vorbemerkungen

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Ich glaube, daß wir am Beginn einer kulturellen Umbruchsphase (vielleicht einer „geistig-kulturellen Umgestaltung“, „Kulturrevolution“) stehen, die weite Teile der Welt erfaßt. Vieles spricht dafür, daß die SU, ausgehend vom Perestroika-Kurs der KPdSU, zu einem wesentlichen, vielleicht sogar entscheidenden Faktor dieser globalen kulturellen Reformation wird (Neues Denken, Aufbruchsstimmung, Durchsetzung humanistischer Ideale, russisches Kulturerbe etc.).

Jedenfalls leben wir in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase, die gerade auch im Bereich des kulturell-geistigen Lebens von großer Intensität und Tiefe geprägt ist.

Das wird auch bei uns zu einer Umwertung zentraler gesellschaftlicher Werte und Zielfunktionen führen, vor allem zu einer Neubewertung unserer Gesellschaft als eines „dynamischen Systems“. Wir werden unsere sozialistische Gesellschaft viel stärker (und nicht bloß theoretisch-deklarativ) in ihrer tiefreichenden strukturellen Veränderung, Entwicklung, in ihren objektiven Erfordernissen und Zwängen zur Neuanpassung an die veränderte Wirklichkeit bewerten müssen. Nur so können wir die auf verschiedenen Gebieten dringend notwendige Erhöhung ihrer sozialen Effektivität - und unser Überleben sichern.

2. Über einige Hintergründe der Unterschätzung geistig-kultureller Prozesse in unserem Lande

Ich habe den Eindruck, daß wir Umfang und Tiefgang der sich gegenwärtig vollziehenden Prozesse im Denken, Fühlen und Verhalten der Menschen, der Jugend wie der gesamten Bevölkerung, politisch nicht klar genug zur Kenntnis nehmen, nicht ernsthaft genug bewerten. Offensichtlich wird die große Bedeutung dieses Mentalitätswandels, dieses Wandels von Grundhaltungen der Persönlichkeit (dieses Charakterwandels) weithin unterschätzt.

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– Wir brauchen ein ganz realistisches Verhältnis zur Wirklichkeit der geistigkulturellen Erscheinungen und vor sich gehenden Prozesse.

Ich glaube, daß wir besonders auf hoher Leitungsebene unsere Wirklichkeit nicht genügend mit ihren Widersprüchen und neuen Erscheinungen sehen wollen.

Nach wie vor werden die Berichte „nach oben“ hin schöngefärbt, Informationen werden selektiert weitergegeben.

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5. Über den Mentalitätswandel in der DDR

Seit längerer Zeit beschäftigen uns die Veränderungsprozesse im Bewußtsein und Verhalten unserer Jugend. Diese sind gewiß auch bei der erwachsenen Bevölkerung vorhanden, vielleicht sogar stärker ausgeprägt, aber uns nicht genau bekannt.

Ich habe gelegentlich diese Prozesse als Mentalitätswandel bezeichnet und will diesen Ausdruck interpretieren.

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Ich gehe von der Hypothese aus, daß es ein Achsensyndrom des Mentalitätswandels gibt: das sind Veränderungen im Selbstbewußtsein der Menschen in Richtung eines höheren Selbstwerterlebens, einer stärkeren Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Ein solcher (epochaler) Trendprozeß muß zwangsläufig zu folgenreichen Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur, im Gefüge der Wertorientierungen und Verhaltensweisen der Menschen führen.

Ich sehe (im 1. Hypothesen- Entwurf, die Sache muß empirisch weiter verifiziert werden) folgende Komponenten dieses Achsensyndroms „Selbstbewußtsein“:

– Entwicklung des Selbstwerterlebens, des Selbstanspruchs. []

– Entwicklung der Selbstbestimmung. []

Teilweise kommt es zu übertriebenen antiautoritären Verhaltensweisen. Die Folgen sind: Zusammenstöße mit Autoritäten aller Art (Eltern, Lehrer, selbstgerechte Funktionäre, unglaubwürdige, nicht realistisch, sondern plakativ informierende Medien/Medienakteure. Ablehnung der Beweihräucherung von Politikern, Künstlern, Sportlern (so leider auch Katharina Witt!) u. a. Personen. Man ist gegen alle Formen der Besserwisserei und des Personenkults.

Im Zusammenhang damit steht ein kritisches Verhältnis (das bis zur Ablehnung gehen kann) von formellen Institutionen und Verbänden (Schule, FDJ) bei Jugendlichen, wenn sie deren Selbstansprüche (d. h. spezielle Interessen, Bedürfnisse, Vorstellungen, Vorschläge) nicht berücksichtigen.

Umgekehrt erklärt sich daraus die Bevorzugung und Neigung zu informellen Gruppen, Cliquen, Bewegungen (Kirche, Umweltschutz, Freizeitgruppierungen aller Art).

Auch bestimmte Formen devianten Verhaltens, Jugendkrawalle, die Ablehnung der Polizei und anderer Ordnungshüter, autoritärer Erwachsener erklären sich wesentlich so. Zum Teil auch Aussteigeverhalten, Ausreisewillige u. a.

Hier ist wohl auch ein ganz anderes Gebiet einzuordnen. Der Freiheitsanspruch in der Partnerwahl, sicher auch das Phänomen der Lebensgemeinschaften, der hohen Scheidungsraten bei uns. Auch die höheren Ansprüche nach Selbstbestimmung der Frauen, besonders der jüngeren, sollten unter diesem Aspekt betrachtet werden, bis hin zu feministischen Postulaten. Ebenso der Anspruch, selbst bestimmen zu wollen, wohin man reist, was man sich gern ansehen möchte. Es ist vielversprechend, dies unter diesem Aspekt zu versuchen. Leider wird das auch unter Gesellschaftswissenschaftlern bei uns gar nicht diskutiert.

– Entwicklung der Selbstverwirklichung. []

Von daher versteht sich das Drängen nicht nur der jungen Menschen nach echter gesellschaftlicher Mitverantwortung, nach „selbstgewollter“ Teilnahme an demokratischen Prozessen im großen wie besonders im kleinen. Nur diese wird positiv erlebt. Das Engagement in Umweltschützergruppen, kirchlichen Gruppierungen u. a. informellen Gruppen, die Ablehnung der formalen FDJ-Arbeit sollen hier nochmals erwähnt werden. Wäre der Austritt aus der FDJ folgenlos, würden die Jugendlichen heute gewiß massenhaft den Jugendverband verlassen. Er entspricht in seinen Organisationsformen, teilweise auch in den Inhalten und Sprache, zu wenig der veränderten Mentalität der gegenwärtigen Jugend. Sie fühlen sich hier zu sehr fremdbestimmt.

– Eine weitere Komponente/Symptom des Achsensyndroms „verändertes Selbstbewusstsein“ ist das starke Verlangen/Bedürfnis nach Lebensverwirklichung. Das ist wohl nur als ein anderer Aspekt der Selbstverwirklichung zu interpretieren. Wahrscheinlich muß man dafür noch einen besseren Terminus finden.

Ich meine damit das zunehmende Streben/die Tendenz nach Lebensfreude, Lebensgenuß, nach mehr Sich-Ausleben.

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– Auch die Leistungsmotivation ist durch diesen Mentalitätswandel in charakteristischer Weise verändert. Ich-periphere Motive, d. h. auf die Gesellschaft oder auf abstrakte Werte gerichtete Wertorientierungen, treten weiter zurück, verlieren an Motivkraft, dagegen treten ich-zentrale Motive stärker hervor.

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– Nach wie vor gibt es eine Identifikation mit den großen allgemein-humanistischen Werten wie Frieden, Menschlichkeit, Solidarität, anderen Menschen helfen wollen (Hilfsbereitschaft), Gleichheit, Demokratie, soziale Sicherheit.

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Speziellere sozialistische Werte und Ziele verlieren jedoch gegenwärtig stark an Attraktion. Das Identifikationspotential nimmt ab; z.B. Sozialismus als überlegenes Gesellschaftsmodell, Elemente des Klassenbewußtseins, kommunistische Überzeugungen und Ideale, Anerkennung des Marxismus-Leninismus als Lebensphilosophie, das Feindbild, die Verteidigungsbereitschaft etc.

Darauf wurde in unseren Berichten sehr ausführlich hingewiesen, viele Belege wurden erbracht.

Kritik wird an Institutionen (Partei, FDJ), an Gruppen, besonders an einzelnen Personen (Politikern, Kommentatoren, Journalisten, Funktionären, Genossen, Leitern, Erwachsenen) dann geübt, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß, nicht normgerecht verhalten. Wenn sie autoritär, nicht-partnerschaftlich auftreten, sich privilegiert geben, Wasser predigen und Wein trinken, gegen sozialistische Normen verstoßen, als Obertanen kommen.

Ich bin davon überzeugt, daß es sehr wichtig ist, die Vielfalt dieser und anderer hier (noch) nicht genannter Oberflächenphänomene mit dem Achsensyndrom „verändertes“ Selbstbewußtsein in Zusammenhang zu bringen. Das ist zwar kein Universalschlüssel zu ihrer Erklärung, aber doch ein fundamentaler Zugang. Dieser Zugang eröffnet für Politik, Leitung, Erziehung, Propaganda bedeutende Erkenntnisse, Möglichkeiten, Chancen und Perspektiven.

Wir sollten die Problematik weiter im Auge behalten und vertieft empirisch untersuchen.

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6. Einige Bemerkungen zu den Ursachen des Mentalitätswandels

Der sich gegenwärtig in der DDR vollziehende Mentalitätswandel ist außerordentlich komplex und vielschichtig determiniert. Dieser Ursachenkomplex kann von mir nicht befriedigend aufgeklärt werden (Literatur, die nicht im Abstrakten stehen bleibt, gibt es nicht).

Also kann ich nur auf einige, mir wesentlich erscheinende Ursachenschichten/ Determinationsstrukturen verweisen.

Man muß unbedingt zwischen globalen und DDR-spezifischen Determinanten unterscheiden.

Der Mentalitätswandel in der DDR ist sowohl durch allgemeine wie auch durch zahlreiche DDR-spezifische Faktoren determiniert, die miteinander strukturell verflochten sind. Weder das Allgemeine noch das DDR-Spezifische darf übersehen werden.

Der Mentalitätswandel hat seine unverwechselbare DDR-Charakteristik. Er kann nicht mit dem „postmaterialistischen Wertwandelschub“ in den westlichen kapitalistischen Ländern einfach identifiziert werden, obwohl er einige dieser Merkmale, teilweise jedoch in anderen strukturellen Zusammenhängen, einschließt.

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Abschließend soll noch betont werden: Wir brauchen ein anderes Verhältnis zum selbständigen, zum schöpferischen (das impliziert auch zum nonkonformistischen) Denken.

Wir dürfen Gesellschaft und Politik nicht so stark [gegen] das selbständige Denken immunisieren. Dabei plädiere ich nicht für die Grenzenlosigkeit, sondern nur für eine bedeutende Erweiterung der Toleranzgrenzen.

Inhumanes, menschengefährdendes, fortschrittfeindliches Denken (z. B. faschistisches Denken) ist nicht erlaubt, muß bekämpft werden. Ich bin jedoch mehr für die schöpferische Diskussion verschiedener politischer Thesen, Hypothesen im Sinne der Suche nach immer besseren Wegen der sozialistischen Gesellschaft – unter den sich stets wandelnden Existenzbedigungen unserer Gesellschaft.

Wir sollten unsere sozialistischen Gesellschaft mehr „auf dem Wege“, mehr in ihrer ständigen Entwicklung, mehr in ihrer Unvollkommenheit, damit in ihrer notwendigen Veränderung und Optimierung sehen. Wir sollten den Status quo unserer Gesellschaft mehr relativieren. Das ist aus verschiedenen Gründen notwendig. Einer davon ist der gravierende Mentalitätswandel unserer Bevölkerung, besonders der Jugend.

Die Identifizierung der Bevölkerung mit unseren Zielen und Werten, mit der Politik unserer Partei, kann nur erhöht werden, wenn wir zu bedeutenden neuen Formen im Umgang (Information, Offenheit, demokratische Mitgestaltung) mit den Menschen finden. Anderenfalls werden sich die Menschen in den nächsten 1–3 Jahren weiter, und zwar in einem bedrohlichen Ausmaß von uns entfernen. Wenn wir in unserer Leitung, Erziehung, Propaganda, ja in unserer Politik nicht erkennen und berücksichtigen, daß die DDR-Bürger (nicht nur der jüngere!) heute eine ganz andere Mentalität, ein ganz anderes Bewußtsein besitzt als vor 10/20 Jahren, dann können unsere Reden, Appelle, politischen Informationen in den Medien keineswegs die erwartete Wirkung erzielen. Die Menschen nehmen sie dann gar nicht erst zur Kenntnis, immunisieren sich ihnen gegenüber immer mehr (haben viele Gegenargumente, Alltagsbeobachtungen parat), reagieren immer mehr aus einer Position der Konfrontation, Enttäuschung, Opposition – oder resignieren.

Quelle: Walter Friedrich, „Einige Reflexionen über geistig-kulturelle Prozesse in der DDR“ (21. November 1988), SAPMO-BArch, SED, ZK, IV 2/2039/246; abgedruckt in Gerd Rüdiger Stephan, Hrsg., Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Interne Dokumente zum Zerfall der SED und der DDR. Berlin, 1994, S. 39–53.