Kurzbeschreibung

Der ausgebürgerte Jenaer Dissident Roland Jahn erläutert in einer linken Westberliner Tageszeitung die Motive, Aktivitäten und Zukunftsvisionen der ostdeutschen Friedensbewegung, deren Ziel es war, das atomare Wettrüsten zu beenden und Raum für politische Alternativen innerhalb der DDR zu schaffen.

Ein ausgebürgerter ostdeutscher Dissident erläutert die Friedensbewegung (21. Juli 1983)

  • Roland Jahn

Quelle

„Ich persönlich bin kein Pazifist“

Warum reagiert die DDR-Bürokratie so allergisch auf die autonome Friedensbewegung, daß sie, wie in deinem Fall, selbst vor gewaltsamer Ausweisung nicht halt macht? Die Jenaer Friedensgemeinschaft unterstützt doch auch die offiziellen Regierungsvorschläge. Wo liegt das Problem für die DDR?

Jahn: Das Problem besteht darin, daß wir nicht haltmachen, daß wir weitergehen auf die Praxis, auf das, was sich im täglichen Leben abspielt. Und da sehen wir eben die Widersprüche zwischen dem Militarismus im gesellschaftlichen Leben und dem offiziell bekundeten Friedenswillen. Die staatlichen Stellen begreifen das so, daß sich aus dieser Bewegung dann was entwickeln könnte, was die ganzen gesellschaftlichen Strukturen infrage stellt. Das System ist so aufgebaut, daß es die Menschen diszipliniert und entmündigt, so wie es beim Militär funktioniert: Befehl – Gehorsam. Es existiert keine Demokratie, sondern ein despotischer Militarismus. Und wir wenden uns gegen Militarismus, Militarismus überall in der Welt, und da fangen wir natürlich bei uns an, da, wo wir das täglich spüren und zeigen das auf. Dadurch entlarven wir die offiziellen Friedensbekundungen und werden damit gefährlich. Überall wird Bedrohung, Einengung empfunden, aber es äußerst sich nicht immer nach außen. Die Bewegung selbst ist überall in den Menschen drin. Aber indem jemand öffentlich austritt, finden immer mehr Menschen den Mut und erkennen plötzlich, wie eingeengt, wie entmündigt sie sind, und sie beginnen sich zu äußern und sich Dingen zu verweigern. Daraus entsteht Bewegung und da will man entgegenwirken. Es ist aber nicht so, daß wir da als Opposition um der Opposition willen auftreten. Wir wollen ganz einfach ein friedliches Zusammenleben unter Achtung der Persönlichkeit und der Würde des Menschen, Bedingungen, unter denen sich die Persönlichkeit auch entfalten kann.

Welche Rolle spielt für euch die Kirche?

Die evangelische Kirche der DDR trägt entscheidend dazu bei, daß die autonome Friedensarbeit sich überhaupt entwickeln kann. Allerdings gibt es sehr viele Probleme, die man aber ausführlicher abhandeln müßte. Kurz bemerkt: Bei uns in Jena haben Konflikte dazu geführt, daß wir erstmals als eine Friedensgemeinschaft unabhängig von Staat und Kirche in die Öffentlichkeit getreten sind.

Ich denke an das Pfingsttreffen der FDJ, eindrucksvolle Bilder im Fernsehen. Was ist das, was sich da als 'offizielle' Friedensbewegung darstellt, sind das nur bürokratisch verordnete Mobilisierungen?

Ja, einerseits sind sie das. Aber ich spreche den Leuten, die dabei sind, nicht ihre ehrlichen Emotionen ab. Es ist ganz natürlich, sich gegen den NATO-Raketenbeschluß zu wenden.

Die Formen, in denen das passiert, die sind vorgeschrieben. Aber da spielt auch noch anderes mit hinein. Das ist ein Pfingsttreffen der Jugend, da kommt alles mit hin, was erleben und so... Man kann sagen, daß sicher manche dabei manipuliert werden, aber der Großteil tritt erst mal für die Sache des Friedens ein. Das Problem besteht darin, daß dann keiner über die Losungen, die offiziell vorgeschrieben sind, hinausgehen darf. Vom Westen wird es manchmal so dargestellt, als sei alles verordnet, so ungefähr: Vielleicht sind die gar nicht dagegen. Das ist Unsinn. Ich kenne niemanden in der DDR, der für den NATO-Raketenbeschluß ist, denn wenn ein Gewehr auf dich gerichtet ist, dann wirst du nicht dafür sein, daß es auf dich gerichtet ist. Und die Pershing II sind auf uns in der DDR gerichtet.

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Inwiefern sind die autonomen Friedenskreise eine isolierte Gruppe in der DDR? Gibt es eine Ausstrahlung in die übrige Gesellschaft, in Organisationen wie die FDJ zum Beispiel?

Das, was als autonome Friedensarbeit verstanden wird, wird vorwiegend von der evangelischen Kirche getragen. Und von da aus gibt es eine Ausstrahlung in die Bevölkerung, es sind ja viele Christen.

Wenn man das nun auf uns in Jena bezieht, die wir auch außerhalb der Kirche gearbeitet haben, war die Reaktion sehr unterschiedlich. Erst mal wird es wahrgenommen. Ich möchte drei Aktionen benennen: Die Schweigeminute Weihnachten, die Kundgebung zum Jahrestag der Bombardierung Jenas und die FDJ-Friedenskundgebung zu Pfingsten waren öffentlich (Für uns ist darüber hinaus auch die inhaltliche Arbeit wichtig, aber das erkläre ich gleich). Bei den öffentlichen Aktionen ist eine Ausstrahlung in die Bevölkerung da. Bevölkerung ist eigentlich schon zu weit gegriffen, denn zu den offiziellen Kundgebungen gehen hauptsächlich die Jubler, die breite Masse ist kaum dort, außer bei der FDJ, weil es da Pflicht ist. Aber viele von den 15- bis 16-jährigen FDJlern sind auf der Suche nach Neuem, bereit, sich auseinanderzusetzen mit allen möglichen Gedanken.

Bei der Schweigeminute zu Weihnachten hat die Bevölkerung durch das große Angebot an Sicherheitskräften etwas mitgekriegt. Einige sagen dann, das sind Spinner, andere beteiligen sich an der Verleumdung gegen uns: das sind Asoziale. Aber ein großer Teil weiß, worum es geht, wogegen wir uns wenden. Sie wissen es, sagen aber, es hat sowieso keinen Zweck – das ist ja die Oppositionshaltung in der DDR: zu sagen, es hat keinen Zweck. Und ein anderer Teil der Leute sagt wieder: das muß unterstützt werden, das ist gut, was sie machen.

Reden die Leute darüber, zum Beispiel im Betrieb?

Ja sicher, dann, wenn es publik wird. Immer dann, wenn die Sicherheitsorgane zugeschlagen haben. Man kann das ganz deutlich machen. Im November hat eine Schweigeminute stattgefunden. Da sprachen dann im Anschluß Passanten mit den Teilnehmern, es gab kleinere Diskussionsgruppen. Dann wars wieder weg. Dann sollte am 24. Dezember noch eine Schweigeminute stattfinden: Riesenaufgebot an Sicherheitsorganen, Kampfgruppen usw. Obwohl die Schweigeminute dann nicht stattgefunden hat, weil sie verhindert wurde, war das sofort Stadtgespräch in Jena. Oder die Kundgebung am 18. März. Wir kamen mit Plakaten rein und sind zusammengeschlagen worden. Sofort war das überall bekannt.

Pfingsten war es dann so, daß wir teilweise geduldet wurden, die Leute haben sich dann auch mit uns auseinandergesetzt. In einer ganz vorsichtigen Form natürlich, aber sie haben es erst mal versucht. Dann wurden wieder unsere Plakate heruntergerissen und da entstanden ein paar Diskussionen, es standen große Massen von ganz jungen FDJlern drumherum und einige von denen meinten dann: ja, wir sind auf eurer Seite. Und in Schwerin haben FDJler heruntergerissene Plakate wieder aufgehoben. Da spürt man die Bewegung, spürt man, was in den Leuten drin steckt und daß es hauptsächlich darum geht, diese Sachen nach Außen zu tragen. Uns gings ja genauso. Wir sind nicht stehengeblieben bei der Forderung nach Abrüstung, sondern haben die Widersprüche im täglichen Leben gesehen. Die werden zur Hauptsache in dem Moment, in dem man tiefer kommt, indem man nicht einfach sagt, es sind Raketen da, die sie gegen uns wenden, sondern indem man alles genau analysiert, was bedroht. Man sieht, daß das, was in der Armee abläuft, nicht der Friedenserziehung dient, genauso das, was in der Schule an militärischer Erziehung abläuft, bis hin zum Kriegsspielzeug, da muß man ansetzen. Aber sichtbar sind natürlich die Raketen. Man kommt aber dann soweit, zu erkennen, daß diese Militarisierung bestimmte Lebensabläufe kennzeichnet, die Unterordnung, die Entmündigung – und dann entwickelt man sich weiter. Es steht nicht mehr nur die Frage nach Abrüstung da, sondern die nach demokratischen Freiheiten, nach Menschenrechten.

Welche Rolle spielt die Forderung nach einseitiger Abrüstung für euch in der DDR?

Es gibt unterschiedliche Auffassungen. Ich persönlich sehe es so, daß Abrüstung beidseitig sein muß, daß man aber in den einzelnen Schritten beispielgebend sein muß, daß man Schritte machen muß, die dazu dienen, daß der andere nachzieht.

Würdest du das, was du jetzt sagst, in der DDR fordern? Obwohl du eine ganz bestimmte Position zur NATO-Nachrüstung hast?

Ja, man muß Schritte machen, die beispielgebend sind. Die ganze Rechnerei um die Waffenpotentiale ist sinnlos, deshalb mache ich mir um die Aufrechnungen nicht so viele Gedanken. Die Verhandlungen in Genf halte ich zwar nicht für sinnlos, aber für ergebnislos. Deshalb ist die blockübergreifende Abrüstung von unten her immer wichtiger, und da müssen Wege gesucht werden. Da ist der Austausch wichtig und da ist die Verweigerungshaltung der einzelnen Menschen wichtig. Die Machthaber in Ost und West haben kein Interesse an Abrüstung. Die einen machen ihre Profite in der Rüstungsindustrie, die anderen brauchen den Militarismus und die Rüstung dazu, die Machtstrukturen zu erhalten. Nicht nur die Macht um der Macht willen im psychologischen Sinne, sondern ganz materiell, weil alle verankert sind in diesem militärischen System bei uns. Die Offiziere oder diejenigen, die in der Rüstungsindustrie einen guten Posten haben, verdienen gut. Sie ziehen Profite heraus, zwar in einer anderen Form als der Kapitalist, nämlich durch ihre Stellung in der Hierarchie des Systems. Der Offizier, der General, der das Schwert trägt, golden blitzend, und der dabei ein gutes Leben hat, der drängt nicht danach, den Pflug zu ziehen und zu schwitzen. Deswegen wendet er sich gegen die Losung Schwerter zu Pflugscharen.

Aus diesen Gründen muß die Friedensbewegung von unten her immer weiter vorangetrieben werden. Die Leute müssen sich weigern, mitzuspielen. Ganz naiv gesagt: Wenn keine Raketen produziert werden, dann sind keine da. Und wer machts? Arbeiter. Da muß man ansetzen und da finde ich die Frage nach der einseitigen Abrüstung gut. Einseitig bei sich selbst anfangen, nicht zur Armee gehen, keine Rüstungsgüter produzieren, kein Kinderspielzeug usw., beitragen zu einer Erziehung zum Frieden, angefangen bei ganz primitiven Dingen. Kriege kann man nicht verhindern, indem man sich darauf vorbereitet, sondern indem man zum Frieden erzieht.

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Welche Rolle haben die Ereignisse in Polen in der DDR gespielt?

Das war sehr vielschichtig, das hat sehr viele Hoffnungen hervorgebracht, gerade bei der jungen Generation. Ein großer Teil der Friedensbewegung versteht sich als gesamtgesellschaftliche Alternativbewegung. Die Leute sind bereit, auf die normale Entwicklung, Karriere usw. zu verzichten, ganz einfach aus der Bedrohung heraus. Das entwickelt sich dann weiter in einem Drang nach Entfaltung der Persönlichkeit, was nur in demokratischen Verhältnissen möglich ist. Und da wird jede Entwicklung in diese Richtung natürlich begrüßt. Polen war wie die DDR: Wahlergebnisse von 99%. Und plötzlich lernen die Menschen, sich selber zu äußern. Das hat viele optimistisch gestimmt, hat Hoffnungen für die DDR möglich gemacht. Auf der anderen Seite wird natürlich gesehen, daß die DDR nicht Polen ist. Noch geht es ihnen gut, materiell meine ich.

Wie wird es jetzt in Jena weitergehen? Die Friedensgemeinschaft hat sehr viele ihrer Mitglieder verloren?

Es gibt genug Leute, die weitermachen. Es ist zwar eine Gemeinschaft, also keine Organisation mit Vorsitzenden usw., aber trotzdem ist eine Struktur da. Wir haben uns eine Konzeption gegeben. Frieden ist für uns nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern Geschehen, lebbar immer in der konkreten Situation. Das heißt auch der Versuch, sich inhaltlich auseinanderzusetzen, einzuwirken in die Gesellschaft. Es ist nicht so, daß wir nur ein Haufen sind, der spektakuläre Aktionen machen will.

Wir begannen in Gruppen zu arbeiten. Themen waren zuerst die Militarismusprobleme. Dann kam die Frage nach den Ursachen auf oder danach, wo das anfängt: in der Erziehung. Also hat sich eine Erziehungsgruppe gebildet. Dann fragten wir uns, was bedroht uns noch? – Natürlich das Verhältnis Mensch-Natur/Umwelt, also hat sich eine Ökologiegruppe gebildet. Dann: Viele kommen in den Knast, sind der Willkür des Staates ausgesetzt, kennen die Gesetze nicht, so kam es zu einer Gruppe, die sich mit rechtlichen Problemen beschäftigt. Oder wir haben uns gefragt: Sind wir allein in der DDR? Überall gibt es solche Gruppen, wir müssen Kontakte aufbauen, Informationen austauschen. Jeder hat in die Arbeit das eingebracht, was er konnte. Das waren auch künstlerische Formen. Wir haben zum Beispiel viel mit Phototechniken gearbeitet, Postkarten erstellt zur Friedensthematik, die wir dann in der DDR verschickt haben.

Das alles besteht nach wie vor. Da sind Leute weggegangen, auch solche, die tragend waren, aber deswegen existiert all das weiter. Auch wenn man zahlenmäßig nicht erfassen kann, wieviele Leute zur Friedensbewegung gehören, weiß man doch, daß etwas in den Leuten drinsteckt, daß zunehmende Aufrüstung und Militarisierung, zunehmende Gewalt des Staates, aber auch ganz konkret z.B. mein Rausschmiß etwas bewirken, so daß die Leute nach Formen suchen, etwas mit anderen zusammen gegen die Bedrohung zu machen. Dadurch entstehen dann solche Gemeinschaften und zu diesen Gemeinschaften werden auch wieder neue Leute finden.

Quelle: Traude Ratsch, Interview mit Roland Jahn: „Ich persönlich bin kein Pazifist“, tageszeitung, 21. Juli 1983, S. 9. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.