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Ausländerhaß zerstört den inneren Frieden
„Integration“ ist ein Bildungsproblem und Ziel für die hier aufwachsende zweite Ausländergeneration
Es ist eine alte Erfahrung, daß sich Versäumnisse der Gesellschaftspolitik erst Jahre später bemerkbar machen. Die Politik reagiert aber erst, wenn die Krise da ist. Plötzlich werden unter Zeitdruck unreife und unüberlegte Entscheidungen getroffen und unzureichende und ungeeignete Lösungen versucht. Die Gesellschaftspolitik für Ausländer ist Abfallprodukt der wirtschaftlichen Sachzwänge und ordnet sich dem Krisenmanagement der Wirtschaft unter, wo die Probleme entstanden sind.
Ab Mitte der sechziger Jahre diktierte der dringende Arbeitskräftemangel der deutschen Industrie den Import ausländischer Arbeitskräfte im Schnellverfahren. Die deutsche Arbeitsverwaltung richtete ihre Zweigstellen gleich in der Türkei ein. Die türkischen Bewerber wurden an Ort und Stelle auf ihren Gesundheitszustand, ihre Muskelkraft, ja sogar die Intaktheit der Zähne untersucht und in Scharen in die Bundesrepublik geschickt. Dabei machte sich niemand Gedanken über eine mittelfristige, geschweige denn eine langfristige Planung, wie die Grundbedürfnisse der eilig importierten Menschen erfüllt werden könnten, zum Beispiel: Wo und wie sollen diese Menschen wohnen? Wie sollen sie sich mit ihrer sozialen Umwelt verständigen? Welche Konsequenzen entstehen, wenn sie ihr Grundrecht auf Familienleben geltend machen, im Bereich der Familienpolitik, der Bildungspolitik usw.?
Als die „Fremdkörper“ in der deutschen Gesellschaft anfingen, unangenehm aufzufallen, erfand man die Zauberformel „Integration“, die nicht einmal realistisch und konkret definiert wurde. Die Anpassung einer Minderheit an die Mehrheit durch die Mehrheit ist ein langwieriger Erziehungsprozeß auf beiden Seiten und geschieht weder von heute auf morgen noch von alleine.
Die Integration muß im Gefühl des Menschen stattfinden
Es ist eine Illusion und unfair, von den Türken, die in der Mehrzahl aus den ländlichen Gebieten Anatoliens kommen und schätzungsweise 200 Jahre vom sozialen und ökonomischen Entwicklungsstand einer großen Industriestadt entfernt sind, zu erwarten, sich innerhalb von zehn bis 15 Jahren soweit anzupassen, daß sie sich wie Deutsche verhalten und wie Deutsche denken. Die Lebensbedingungen in der Türkei waren kein Geheimnis. Es ist genauso unfair, pauschal zu behaupten, daß die Türken sich nicht integrieren wollen, bloß weil es mit dieser Zauberformel nicht geklappt hat.
Die Fähigkeit sich anzupassen – eine Sprache zu erlernen, eine neue Kultur zu erfassen – ist weitgehend abhängig vom Bildungsniveau. Deshalb ist das Integrationsproblem für mich in erster Linie ein Bildungsproblem. Sonst kann keine Integration stattfinden. Wenn die deutsche Mehrheit nicht bereit ist, die Minderheit der Ausländer aufzunehmen, zu fördern und in diesem Erziehungsprozeß (Sozialisationsprozeß) sogar eine führende Rolle zu übernehmen, kann auch keine Integration stattfinden.
„Integration“ kann für die erste Generation der Ausländer nur bedeuten: die „Spielregeln“ der Gesellschaft erlernen, solange sie in der Bundesrepublik leben. Ich bin der Überzeugung, daß ein erheblicher Teil der ersten Ausländergeneration spätestens im Rentenalter in ihre Heimat zurückkehren wird.
Für die zweite Ausländergeneration der hier geborenen oder im Kleinalter eingereisten Kinder der ausländischen Arbeitnehmer muß aber eine wahre Eingliederung angestrebt werden in diesem Sinne: Entstehung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit und Schicksalsgemeinschaft; denn eine tatsächliche Integration muß im Gefühlsbereich der Menschen stattfinden. Das ist nur dann erreichbar, wenn der heranwachsenden Ausländergeneration ein Gefühl der Gerechtbehandlung und Gleichbehandlung vermittelt werden kann – vor allem im Bildungsbereich, durch die Gesetzgebung und durch die Gesellschaft.
Ein Jahr Deutschunterricht vor Berufsausbildung und Schule
Je mehr deutsche Bürger mit türkischer, griechischer usw. Abstammung mit gleichen Rechten und Pflichten im juristischen und politischen Bereich hier leben, der deutschen Sprache mächtig sind und den Durchbruch zu einem höheren sozialen Status und zu höheren Berufen geschafft haben, desto schneller wird sich das „Image“ der ausländischen Minderheit in der deutschen Gesellschaft verändern.
Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich auf einen Grundsatz hinweisen: Weg von Provisorien und Sondermaßnahmen, die die Benachteiligung und Sonderstellung der ausländischen Jugendlichen eher fortsetzen als aufheben, weil sie keine anerkannten Abschlüsse oder berufliche Qualifikationen erreichen, zum Beispiel die Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausländer (MBSE).
Ein einjähriger Intensivdeutschkursus unter der Aufsicht des Kultusministeriums vor dem Berufsvorbereitungsjahr (und vor dem Eintritt in die Hauptschulklassen) ist nach meiner Überzeugung die einzig realistische Lösung des Sprachproblems. Das Ziel sollte sein: erst das Erlernen der deutschen Sprache, dann ein gezielter Übergang zu der normalen Schullaufbahn. Das könnte wie bei den deutschen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß erfolgen: nämlich erst Berufsvorbereitungs-, dann Berufsgrundbildungsjahr, dessen erfolgreicher Abschluß den Erwerb des Hauptschulabschlusses ermöglicht. Die beträchtlichen Summen für solche Sondermaßnahmen hätten nach meiner Überzeugung einen viel wirkungsvolleren gesellschaftlichen Nutzen, wenn sie in überbetriebliche Ausbildungsplätze für deutsch-ausländische gemischte Gruppen investiert worden wären.
Ich halte die gutgemeinten Empfehlungen für Ausländer, ihre kulturelle Identität zu wahren und zu fördern, für unrealistisch. Nirgendwo gibt es Beispiele dafür, daß Minderheiten über Generationen hinweg ihre kulturelle Identität in einer Majorität intakt gewahrt haben. Eine bewußte gesteuerte Fortführung der national-kulturellen Identität halte ich langfristig nicht für sinnvoll.
Für die zweite Ausländergeneration gilt dagegen: Ein krasser Abbruch vom Kultur- und Gemeinschaftsleben des eigenen Volkes würde die sozialen und psychologischen Probleme dieser Jugendlichen weiter verschärfen, weil sie keinen Ersatz, keinen Rückhalt und keine Aufnahme in der deutschen Gesellschaft finden können. Sie sollten nicht gezwungen werden, ihre Abstammung abzulehnen. Nur dann kann eine „Selbstdynamisierung“ des Integrationsprozesses erreicht werden, weil die ausländischen Jugendlichen, die den sozialen Durchbruch geschafft haben, selbst als Problemlöser und Integrationsführer wirken können: als ausländische Sozialarbeiter, ausländische Meister am Arbeitsplatz usw.
Maßnahmen und Institutionen zur Gewinnung einer neuen Identität in diesem Sinne zu entwickeln und einzuführen ist jedoch unser Problem und erfordert unsere Initiative als Ausländer und nicht die Initiative der Deutschen. Ich halte die Schulmodelle, die das doppelte Ziel verfolgen: die Integration in die deutsche Gesellschaft und gleichzeitig Reintegration in die türkische Gesellschaft ermöglichen wollen, für unrealistisch und irreführend.
Was haben wir Ausländer bisher versäumt? Wir haben versäumt, gemeinschaftliche Selbstinitiativen zu entwickeln und Problemlösungen durch eigene Kraft anzustreben:
• Wir haben versäumt, uns in großen Institutionen zu organisieren, die als Bildungsstätten im weitesten Sinne fungieren und die Mängel der bestehenden deutschen Institutionen auszugleichen, Konflikte mit der Umwelt zu lösen, die türkische Bevölkerung zu mobilisieren und eine neue Identität zu erzeugen versuchen.
• Wir haben die Richtung der politischen Betätigungen verfehlt. Die Aktivisten der türkischen Bevölkerung haben eine politische Szene von unzähligen politischen, religiösen und stammesmäßigen Splittergruppen geschaffen, die sich fast ausschließlich nach dem Muster der türkischen politischen Kultur richten, sich mit den politischen Problemen der Türkei befassen und eine eher integrationshemmende Wirkung haben.
Eine der wichtigsten Ursachen derartiger Entwicklung ist sicherlich der Ausschluß der Ausländer von politischer Teilnahme, vom politischen Willensbildungsprozeß und von gesellschaftlichen Entscheidungen.
Die Mehrzahl unserer Intellektuellen und Wohlhabenden, die selbst durch ihren erreichten Sozial- und Bildungsstand eine wichtige Rolle in der Selbstorganisation und Eingliederung hätten spielen können, haben versäumt, sich den Problemen des eigenen Volkes zuzuwenden. Es ist sehr bitter, eingestehen zu müssen, daß sie eher darauf bedacht sind, sich von ihrem Volk zu distanzieren und von ihm nichts mehr wissen wollen.
Erst wenn die entsprechenden Bedingungen in unserer Bevölkerungsgruppe geschaffen sind, sähe ich gute Chancen der Zusammenarbeit mit und Unterstützung von fortschrittlichen deutschen Gruppen.
Mit steigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Arbeitslosigkeit in einem komplexen, für den normalen Bürger undurchschaubaren Wirtschaftssystem sucht ein Teil der deutschen Bevölkerung Schuldige, sozusagen „Sündenböcke“, auf die er seine Aggression richten kann. Türken als von der Zahl her größten und von der deutschen Gesellschaft am meisten sich unterscheidenden Minderheit sind die Zielscheibe der Angriffe geworden. Die neofaschistischen Gruppen sehen ihre große Chance, wieder Fuß zu fassen und in der Manipulation der Existenzangst der Bevölkerung zu gedeihen.
Ich bin der Meinung, daß massive und offensive Maßnahmen gegen die bedrohlich werdende Ausländergegnerschaft längst fällig sind, nicht um die vom Haß befallenen deutschen Bürger, die faschistische Tendenzen zeigen, oder die Anhänger solcher Gruppen umzustimmen, sondern um die noch positive Einstellung der ausländerfreundlichen Bürger (ca. 30 Prozent nach der letzten Infas-Untersuchung) zu bekräftigen und eine sachliche Aufklärung bei den Bürgern zu erreichen, die sich zwar von Ausländern distanzieren, aber emotional noch nicht stark negativ belastet sind (50 Prozent). Und vor allem muß verhindert werden, daß sich bei den jungen Deutschen emotionale Vorurteile gegen die Ausländer einprägen und festsetzen.
In Grundschulbüchern ausländische Ärzte abbilden
Was geschehen sollte, kann ich hier nur kurz mit ein paar Beispielen ansprechen:
• Ein Modell aus den USA, mit dem Vorurteile gegen Farbige abgebaut werden sollten, könnte übernommen und in deutschen Grundschulbüchern Schüler, Lehrer, Ärzte usw. als Ausländer abgebildet werden.
• Zum Abbau von Vorurteilen bei Kindern gegen andere Rassen und ethnische Minderheiten zeigte die Vorschulserie „Sesamstraße“ in der amerikanischen Originalfassung schwarze und puertoricanische Kinder und Figuren. Gerade diese Teile werden in der Bundesrepublik nicht gezeigt! Die Entwicklung solcher Kinderfilme in den deutschen gesellschaftlichen Gegebenheiten wäre dringend erforderlich.
Notwendig wären sachliche Fernsehfilme und -kommentare mit konkreten Zahlen und Darstellungen, etwa über den im Laufe der Jahre angewachsenen Milliardenbeitrag der Ausländer zum Bruttosozialprodukt. (Wieviel Prozent des durchschnittlichen Familieneinkommens wäre das?) Oder über ihren Beitrag zur Rentenversicherung (Was bedeutet das aus der Sicht des einzelnen deutschen Rentners?) Oder über die Beschäftigungsstruktur der Ausländer. (Was wäre die Folge ihrer plötzlichen Rückkehr in die Heimat für den Bergbau, die Gießereien, die Baubranche und Dienstleistungs-, Gastwirtschaftsbetriebe? Dazu Interviews mit Arbeitgebern aus diesen Branchen.)
Gewiß werden diese kurzfristigen, medienpolitischen Maßnahmen die eigentlichen Ursachen der Ablehnung von Ausländern nicht beheben können, wohl aber ein Gegengewicht zum künstlichen Anstieg der Ängste, der Manipulationen der Gefühle und bewußt gesteuerten Zerstörung des inneren Friedens darstellen.
Quelle: Elçin Kürsat, „Ausländerhaß zerstört den inneren Frieden“, Vorwärts, Nr. 20. 13. Mai 1982, S. 15. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.