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Bei Nacht und Nebel
Es waren fünfzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg vergangen, als die Jahreszahl 1933 in das Buch der Geschichte einging. Heute sind es siebzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und wir schreiben das Jahr 1962. Wir wissen, die Geschichte wiederholt sich niemals in den alten Formen; auch sollen hier keine falschen Vergleiche angestellt werden. Sicher aber sind wir, daß es heute und hier in diesem Lande ernsthaft um die Frage geht, wie lange die Deutschen die Freiheit, die ihnen geschenkt wurde, vertragen können.
Wer das Vorgehen der im Auftrage der Bundesanwaltschaft handelnden Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes gegen den Herausgeber und die Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel verfolgt hat, konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß in der Nacht vom Freitag zum Samstag das Kapitel „Zweite Nachkriegsdemokratie“ der neuesten deutschen Geschichte im festen Griff einer zackigen deutschen Polizeiaktion zugeknallt werden sollte. Es ist mehr als ein Zufall, es ist ein Zeichen, daß der entscheidende Akt dieses Dramas, die Verhaftung des Redakteurs Conrad Ahlers, auf deutschen Antrag ausgerechnet von der Polizei des faschistischen Spaniens vollzogen wurde.
Wenn es also morgens in aller Frühe bei uns klingelt, können wir uns nicht weiterhin in dem beruhigenden Gefühl strecken, daß es nur der Milchmann oder der Junge mit den Brötchen sein kann; wenn um Mitternacht jemand an unsere Türe schlägt, wissen wir nicht mehr genau, daß es sich schlimmstenfalls um einen Telegrammboten oder einen betrunkenen Weggenossen handeln kann, der sich in der Türe geirrt hat. Wir müssen damit rechnen, daß es die politische Polizei ist, die bei Nacht und Nebel nach Landesverrätern sucht. Wenn wir hören, daß Kinder weinen, weil zu später Stunde ihre Zimmer nach Belastungsmaterial gegen ihre Eltern durchstöbert wurden, daß man Redakteuren die Abzugsfahnen ihrer Artikel beschlagnahmte und der Zensur zuführte, wenn es heißt, daß die Spiegel-Redaktionen in Hamburg und Bonn schlagartig von bewaffneten Kommandos besetzt worden sind und der Kollege den Kollegen in der Nachbarredaktion telefonisch nicht mehr erreichen konnte, dann dürfen wir nicht mehr sicher sein, daß es sich um eine Geschichte aus Moskau, Prag oder Leipzig oder aber aus dem Berlin des Jahres 1944 handelt. Doch wir sollen beruhigt sein. Das alles geschieht im Namen und zur Sicherung der Freiheit.
Diese Schilderung mag übertrieben klingen. Viele werden sagen: Das ist doch ein Einzelfall. Es wird sogar ganz Kurzsichtige geben, die sich hämisch die Hände reiben, weil es den bei manchen Stellen wenig beliebten Herrn Augstein getroffen hat, dessen journalistische Methoden nicht immer den Beifall auch kritischer Köpfe finden konnten. Im Schatten der Kuba-Krise werden andere wiederum meinen, mit Landesverrätern sollte man kurzen Prozeß machen. Wir aber sagen: Wehret solchen Anfängen! Niemals dürfen wir uns im Kalten Krieg den Methoden des totalitären Gegners so anpassen, daß wir gefährden, was allein verteidigungswürdig ist.
Vielleicht hat die Bundesanwaltschaft Beweismaterial für landesverräterische Tätigkeit von Angehörigen der Spiegel-Redaktion in der Hand, das wir nicht kennen. Vielleicht sieht sie die Gründe, die ein Vorgehen gegen ein Organ der freien Presse gestatten, das höchstens bei Zerschlagung eines umfassenden Spionageringes und gefährlichen Agentennetzes gerechtfertigt sein könnte. Darüber wird der verantwortliche Bundesjustizminister Stammberger der Öffentlichkeit und seinen Wählern Rede und Antwort stehen müssen. Der inkriminierte Artikel allein kann jedenfalls nicht Rechtfertigung eines solchen Vorgehens sein. Er mag rein formell den Tatbestand des Landesverrates erfüllen. Auch das wird noch zu klären sein. Es wird aber kaum einen Schüler oder Lehrling geben, den man ernsthaft glauben machen kann, daß durch diesen Artikel die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet worden ist. Es stand nichts darin, was der Vorstellung des Durchschnittsbürgers von der Kriegslage einer atomaren Auseinandersetzung im dichtbesiedelten Mitteleuropa nicht ohnehin entspricht. Bundesinnenminister Höcherl hat sich auch vor aller Öffentlichkeit ähnlich geäußert.
Doch es gibt merkwürdige Zufälle im Leben. Die Polizeiaktion erfolgte fast drei Wochen nach Erscheinen des betreffenden Artikels, aber zwei Tage nach Beendigung der Fibag-Affäre im Bundestag, die durch Spiegel-Veröffentlichungen ausgelöst worden war. Wenn dieser Artikel entgegen unserer Meinung die Sicherheit der Bundesrepublik wirklich ernsthaft gefährdet hat, wird zu untersuchen sein, ob Agenten Pankows oder unheimliche Schlamperei daran schuld sind, daß seine Auslieferung an Hunderttausende nicht rechtzeitig vereitelt worden ist. Es hat bisher mehr Landesverräter unter Beamten und Offizieren gegeben als unter Journalisten. Doch niemals wurde bekannt, daß die Tätigkeit einer Behörde oder der Dienst einer militärischen Einheit in das Getriebe einer Polizeiaktion gerieten wie nun die Redaktion des Spiegel. Ähnlich ging es nur bei der Aktion „Vulkan“ in den fünfziger Jahren zu, doch es stellte sich damals schnell heraus, daß viele der Verhafteten unschuldig waren. Der Bund war der Blamierte – und mußte Schadenersatz zahlen.
Wenn die Behauptung des Spiegel stimmt – und wir zweifeln nicht daran –, daß die entscheidenden Passagen dieses Artikels zuständigen Angehörigen des Bundesverteidigungsministeriums vorher vorgelegen haben, dann müßten alle Journalisten als Konsequenz dieser Aktion den Beschluß fassen, kein Wort mehr über die Bundeswehr zu berichten, solange diese Rechtsunsicherheit andauert. Auch wenn man voraussetzt, daß es einwandfreie rechtliche Begründungen für die Polizeiaktion gegen den Spiegel gibt, so ist dazu zu sagen, daß das formale Recht in Deutschland noch nie versagt hat, wenn es darum ging, die Freiheit zu beschneiden.
Wir rufen alle Journalisten und Verleger und mit ihnen die gesamte demokratische Öffentlichkeit auf, sich der Herausforderung bewußt zu sein, vor die sie durch die Ereignisse der Nacht vom Freitag zum Samstag gestellt sind. Die Freiheit in diesem Volke ist so stark wie der Wille des Menschen, sie nach innen und außen zu verteidigen. Jede Demokratie erleidet das Schicksal, welches ihre Bürger mit ihr geschehen lassen. Noch ist es Zeit, nicht nur dem Wortlaut der Gesetze, sondern auch dem Geist des Grundgesetzes dieses Staates durch eine machtvolle Demonstration aller wahrhaft freiheitlichen Kräfte wieder zur Geltung zu verhelfen.
Quelle: Karl-Hermann Flach, „Bei Nacht und Nebel“, Frankfurter Rundschau, 29. Oktober 1962; abgedruckt in Irmgard Wilharm, Hrsg., Deutsche Geschichte 1962–1983. Dokumente in zwei Bänden, Bd. 1. Frankfurt am Main, 1989, S. 36–38.