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Ulrike K. und das Chaos in der Bildungspolitik. Tausende von Abiturienten werden nie eine Chance haben, ein Studium zu beginnen.
Ulrike K. bestand ihr Abitur in diesem Jahr mit der Durchschnittsnote 1,7. Die Chance, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen, verpaßte sie knapp mit 0,1 Punkten. Ihr Pech verdankt sie dem pädagogischen Rat ihrer Lehrer. Die Siebzehnjährige übersprang zweimal eine Klasse.
Im Düsseldorfer Wissenschaftsministerium rätselten die Verwalter der „Studienplatz-Guillotine“, der Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund, ob Ulrike ein „sozialer Härtefall“ ist. Die gutgemeinten Entscheidungen der Lehrer verbauten einer ungewöhnlich begabten Schülerin praktisch die Chance, zwei Jahre später einen noch besseren Notendurchschnitt zu erreichen. Da im Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen ein solcher Fall aber nicht vorgesehen ist, gingen die Juristen auf diese Argumentation nicht ein. Sichtlich berührt und betroffen stellt Staatssekretär Herbert Schnoor (SPD) fest: „So geht ein Volk mit seinen Hochbegabten um.“
Für Ulrike rückt jetzt der Medizin-Studienplatz in weite Ferne. Der Andrang ist so groß, daß die Note immer tiefer sinkt: 1,5, 1,4... 1,0. Die Abgelehnten rutschen auf die sogenannte Wartezeitliste. Sie ist so lang, daß diejenigen, die im nächsten Jahr mit einer mehrstelligen Nummer darauf gesetzt werden, erst in zehn Jahren an die Reihe kämen. Zehnjährige Wartezeiten aber sieht der Staatsvertrag überhaupt nicht vor, weil das Abiturzeugnis der Bewerber nicht älter als acht Jahre sein darf. „Das ist aus ökonomischen, menschlichen und sozialen Gründen nicht anders möglich“, meint Schnoor.
Der Staatsvertrag, den die Kultusminister der Länder 1972 eilig zusammenbastelten, um dem Bund zu zeigen, wie gut man solche Probleme lösen kann, läuft heute bereits ins Leere. Die ZVS in der Dortmunder Sonnenstraße wird, je mehr sie die Studiengänge sämtlicher Universitäten, Fachhochschulen, Gesamthochschulen zentral verwaltet, zur „Steuerungsstelle des bundesdeutschen Bildungswesens“ (Schnoor). Der Gang dorthin „wird ein Gang zum Schafott“ (Wissenschaftsminister Johannes Rau).
Immer mehr Jugendliche, die nach mehr oder weniger mühevollen Jahren ein Papier in der Hand haben, das zum Studium berechtigt, merken enttäuscht, daß sie mit dem Abiturzeugnis oder einem gleichwertigen Abschluß eine Berechtigung erhielten, die nicht eingelöst wird. Weder Bundesländer noch Bildungspolitiker erwägen, die Hochschulen so auszubauen oder vollzustopfen, daß alle zugelassen werden können. Landauf, landab wird gedrosselt, gestrichen und gekürzt. Und nach welchem Verfahren auch immer Studienplätze verteilt werden: Ihre Zahl wird in den nächsten Jahren nicht steigen. Tausende von Berechtigten haben keine Chance, zu studieren.
„Die Auswirkungen auf die Schule, tief in die Familien der einzelnen Jugendlichen hinein, in die Gesellschaft und das Beschäftigungssystem sind katastrophal“, warnt Schnoor eindringlich. Nicht nur er, sondern auch seine Kollegen aus den meisten anderen Bundesländern und alle anderen Experten quer durch die parteipolitischen Fronten wissen, was an Enttäuschungen und politischem Hader bevorsteht, wenn der Übergang von der Schule zur Hochschule, die Stellung der Schule zur Hochschule nicht so schnell wie möglich geregelt wird. Aber fast alle Kultusminister der Länder (Bayern tanzt aus der Reihe) wissen, daß eine Neufassung des Staatsvertrages, der alle elf Länder mehrheitlich zustimmen müßten, „politisch einfach nicht drin ist“ (Johannes Rau).
Der Kraftakt aus dem Jahre 1972 ist nicht wiederholbar: Damals saß den Ministern auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli im Nacken, das den Bund, ersatzweise die Länder, verpflichtete, „baldmöglichst“ eine einheitliche Regelung der Zulassung zum Studium zu erarbeiten. Für diese Regelung setzte das höchste deutsche Gericht fast unüberwindliche Schranken: Eine begrenzte Zahl von Studienplätzen, Zulassungsbeschränkungen, knüpften die Richter an strenge Bedingungen: Volle Nutzung der Kapazitäten, keine staatliche Bedarfslenkung. Niedersachsens Hochschulstaatssekretär Günter Wichert dazu: „Wir dürfen erst eingreifen, wenn die Hochschulen zu Tode gewachsen sind.“ Ferner forderten die Richter „eine Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber“. Praktisch heißt das: Wer die vom Staat geregelte Berechtigung hat, verfügt über ein „Teilhaberecht“.
In umfangreichen Erlassen, Vereinbarungen und dicken Büchern rankten die Kultusminister diese Berechtigung um das Abitur. Zweiter Bildungsweg, Fachoberschule, Abendgymnasium messen sich daran. Soziales Prestige, Aufstiegsmöglichkeiten und das Laufbahnrecht der Beamten sind unverändert mit dem Abitur verbunden. Das Zeugnis aber verliert immer mehr seinen Wert und den Kultusministern brennt es auf den Nägeln, denn sie werden für die Folgen verantwortlich gemacht.
So fielen die Bemühungen einiger SPD-Bildungspolitiker in Bonn, die Zulassung zur Hochschule im Hochschulrahmengesetz neu zu regeln – bei der CDU zögernd – auf fruchtbaren Boden. Klaus von Dohnanyi und sein Nachfolger Helmut Rohde setzten auf die Zulassung, auch um der vierjährigen Misere um dieses Gesetz endlich ein Ende zu bereiten. Doch der Text, über den die Bundestagsabgeordneten am Donnerstag und Freitag in zweiter und dritter Lesung beraten, verrät nicht nur bildungspolitische Einfallslosigkeit, sondern auch die Unfähigkeit, ein Problem bis zum Ende durchzudenken.
Wie der Staatsvertrag geht auch die neue Regelung von drei Eckdaten aus: „Soziale Härtefälle“, „Leistung“ und „Wartezeit“. Im Düsseldorfer Wissenschaftsministerium hält man die Praxis für „völlig absurd“, wie über die soziale Härte entschieden wird: Die Universitäten befinden über die Anträge, entscheiden, ob ein Bewerber wegen Krankheit oder Familienumständen einen Zuschlag von 0,1 oder mehr erhält. Dann wandert der Kandidat in den Dortmunder Computer. Da aber nur 15 Prozent der Bewerber mit „Härtezuschlag“ angenommen werden, reduzieren sich die Chancen der jungen Menschen schlicht darauf, ob der Computer ihnen das Glück zuspielt oder nicht. „Es widerspricht völlig dem Sinn, einem einzelnen zu helfen, wenn wir gezwungen sind, Härte zu normieren“, meint der Staatssekretär.
Den Stein der Weisen glaubten die Bonner Experten bei der Wartezeit gefunden zu haben. Abiturienten sollen nicht mehr in der Hochschule auf den ersehnten Studienplatz warten, sondern arbeiten. Das Schlagwort vom „Warten im Beruf“ fand Anklang in der Öffentlichkeit. Das hört sich praktisch an, volksnah und wählerstimmenfreundlich. Die „Dauer der Berufstätigkeit oder Berufsausbildung“ soll bei der Bewerbung um einen Hochschulplatz besonders bewertet werden.
Was heißt das bei ungefähr 20 000 Berufen und Tätigkeiten? Dazu Schnoor: „Wir müssen eine Rangliste für die rund 100 Studiengänge machen und sagen, wessen Warten qualifizierter ist.“ Alle denkbaren Berufe vom „Pflastermaler im Tessin“ (so die Bonner Berufsbildungsexperten sarkastisch zu diesem Vorschlag) bis zum Zahntechniker müßte der Computer speichern. Sie meinen zwar, daß sie das „hinkriegen“. Für sinnvoll halten sie es jedoch nicht. Die Bewerber werden sich darauf einstellen, welche Berufe hoch bewertet sind. Auch die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind folgenreich. Die Berufsbildungsfachleute vermuten, daß die wartenden Abiturienten auf Kosten der ausländischen Arbeitnehmer vom Markt aufgesogen werden. Andere Experten befürchten noch weniger Lehrstellen, noch weniger Möglichkeiten für Praktikanten, für die nie ein Hochschulstudium in Frage kommt. Keine dieser Auffassungen ist zur Zeit jedoch belegbar.
Einen Ausweg sehen die ZVS-Verwalter im „besonderen Eingangsverfahren“, einer Lieblingsidee des früheren Bildungsministers Klaus von Dohnanyi. Er und heute auch die Freien Demokraten möchten dieses Verfahren nur bei den medizinischen Fächern anwenden. Anstelle von guten Durchschnittsnoten sollen mit Hilfe von Tests und Interviews die Fähigkeiten eines Bewerbers geprüft werden, damit – so CDU-Kultusminister Bernhard Vogel – „auch ein Dreikommanuller noch eine Chance hat“.
Die Düsseldorfer halten nicht viel von dieser Idee, weil sie sich nur auf medizinische Fächer konzentriert. Bewerber, die in diesen Fächern trotz guter Noten abgewiesen werden, drängen logischerweise in andere Studiengänge und werden dort das gleiche Chaos verursachen. Deshalb meint Schnoor unmißverständlich, das Abitur dürfe nur noch Abschluß sein und keine Berechtigung verleihen. „Wir müssen einen dicken Riegel zwischen Schule und Hochschule ziehen, um die Schule zu schützen, und um in der Schule möglichst viele, möglichst weit zu bringen.“
Schnoor wehrt sich gegen den enormen Druck, der jetzt durch den Staatsvertrag auf die Schule übertragen wurde. Er und die übrigen sozialdemokratischen Kultusminister wehren sich dagegen, daß die Schule die Studentenzahl steuert, daß sie Siebe einzieht und Sozialchancen zuteilt. „Wir brauchen auch den Handwerksmeister mit einem qualifizierten Schulabschluß. Wir müssen allen Jugendlichen mehr mitgeben und können nicht nur auf die zwanzig Prozent Studenten starren, die uns bei der Verteilung auf die Plätze Probleme machen.“
Quelle: Jutta Roitsch, „Ulrike K. und das Chaos in der Bildungspolitik“, Frankfurter Rundschau, 12. Dezember 1974. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.