Kurzbeschreibung

Anlässlich der Liberalisierung des Sexualstrafrechts wurde der Paragraph 175 weiter reformiert und nur noch homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter Strafe gestellt. Dieser Spiegel-Artikel analysiert die nach wie vor bestehende Tabuisierung der Homosexuellen in der Bundesrepublik, die auch die Organisation homosexueller Gruppen erschweren würde.

Trotz Reform weiterhin ein Tabuthema (12. März 1973)

Quelle

„Bekennt, daß ihr anders seid“

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Seit Jahren bemüht sich der Sonderausschuß des Bundestages für die Strafrechtsreform um eine noch weitergehende Liberalisierung des Paragraphen 175. Das sogenannte Schutzalter soll von 21 auf 18 Jahre gesenkt, die Straffreiheit auf Strichjungen ausgedehnt werden. An diesem Mittwoch wird der Ausschuß über die Neuformulierung des Paragraphen-Textes beraten.

Aber weit mehr als die langjährige Strafreform-Debatte beschäftigte in den letzten Wochen eine Sendung des Deutschen Fernsehens die Homosexuellen. Mitte Januar hatte das Erste Programm (außer Bayern) spät nachts den Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ ausgestrahlt. Der Berliner Jung-Filmer und Namens-Transvestit Rosa von Praunheim (bürgerlich: Holger Mischwitzky), 30, hatte das Werk „als Schwulen-Schocker“ angelegt — mit Erfolg.

Nicht nur fast alle Homosexuellen, auch die meisten anderen TV-Zuschauer waren schockiert — trotz einer anschließenden Marathondiskussion zwischen Homosexuellen, Gelehrten, Politikern und Journalisten. Das militante Auftreten des sich betont ideologisch gebenden kleineren Teils der Minderheit verschreckte die Bürger nur noch mehr.

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Nur eine winzige Minderheit innerhalb der Homo-Minderheit unter den Deutschen engagiert sich für die öffentlichen Auftritte. Die Mehrheit hält sich weiterhin zurück und verbirgt ihr Anderssein soweit wie möglich, oft sogar vor Eltern und Geschwistern.

Was noch vor einem Jahr fast undenkbar schien, erlebten die Bürger mehrerer Großstädte in den letzten Monaten. Homosexuelle demonstrierten für ihre Forderungen. Doch einstweilen sind es noch wenige, und die wenigen wissen nicht recht, was sie eigentlich wollen, aber sie wollen es mit Entschiedenheit.

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Mit der Darstellung einer zur Karikatur verfremdeten „Welt der Schwulen“ (Praunheim) wollte der Regisseur „die Homosexuellen aufrufen, ihre unmäßige Angst zu überwinden und selbst für ihre Rechte zu kämpfen“.

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Die sogenannte Modifizierung des Paragraphen 175, die in der deutschen Justiz sieben Jahrzehnte hindurch erörtert, aber nie erledigt wurde, kam 1969 nur als Kompromiß zustande. Eile schien geboten, weil in Europa fast nur noch die Bundesrepublik die Homosexualität unter Männern bestraft.

Daher ist auch der jetzt geltende Paragraph 175 mit allen aus Kompromiß und Eile gezeugten Mängeln behaftet: Nunmehr ist zwar nicht mehr strafbar, wenn Männer über 21 Jahren miteinander „Unzucht treiben“ (was immer das auch bedeuten mag), aber dafür werden Heranwachsende mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht: „Ein Mann über 18 Jahre, der mit einem anderen Mann unter 21 Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt.“

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Daß in der Bundesrepublik das Schutzalter von 21 Jahren auf 18 Jahre gesenkt wird, ist im Strafrechts-Sonderausschuß schon so gut wie sicher.

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Empfindlicher als jedes Strafgesetz trifft die Homosexuellen das ungeschriebene Gesetz der Gesellschaft, das sich nicht mit einem Federstrich beseitigen läßt. Geerds: „Auch bei Straflosigkeit bleibt der Homosexuelle ein Gegenstand unverhohlener Verachtung und gesellschaftlicher Ächtung. Er hat daher weiter viel, sehr viel Anlaß, seine andersartige Veranlagung nicht zur Schau zu stellen, sondern sie im Gegenteil so sehr wie irgend möglich zu verbergen.“

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Quelle: „Bekennt, daß ihr anders seit“, Der Spiegel, Nr. 11, 12. März 1973, S. 46–62. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/politik/bekennt-dass-ihr-anders-seid-a-a1cc8fc1-0002-0001-0000-000042645559?context=issue. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.