Quelle
Die Unfähigkeit zu trauern
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Der Krieg ging verloren. So gewaltig der Berg der Trümmer war, den er hinterließ, es läßt sich nicht verleugnen, daß wir trotzdem diese Tatsache nicht voll ins Bewußtsein dringen ließen. Mit dem Wiedererstarken unseres politischen Einflusses und unserer Wirtschaftskraft meldet sich jetzt mehr und mehr unbehindert eine Phantasie über das Geschehene. In etwas vergröberter Formulierung ließe sich sagen, daß durch die Verleugnung der Geschehnisse im Dritten Reich deren Folgen nicht anerkannt werden sollen. Vielmehr will man die Sieger auf Grund ihrer eigenen moralischen und politischen Maßstäbe zwingen, die Konsequenzen der Naziverbrechen so zu handhaben, als ob es sich um einen belanglosen kriegerischen Konflikt gehandelt hätte. Nach dieser Interpretation des Weltgeschehens haben wir dann natürlich auch „Ansprüche“, zum Beispiel auf die verlorenen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie. Zwar hat uns das Beharren auf diesen Phantasien in der politischen Realität keinen Schritt weitergebracht; die Kluft zwischen den beiden deutschen Staaten hat sich unnötig vertieft; wir bestehen jedoch auf der Idee eines Rechtsanspruches, den wir in einem Friedensvertrag zur Geltung zu bringen hätten. Zwar ist ein solcher Vertrag nicht in Aussicht, und oft genug hat in der Geschichte der Menschheit die Regel gegolten, daß, wer einen Krieg zur völligen Vernichtung des Gegners begann, bei einer Niederlage mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen hatte. Denn es ist leicht abzusehen, in welcher Weise ein nationalsozialistischer Staat, wenn ihm der Sieg zugefallen wäre, die östlichen Staaten behandelt hätte—wir aber bringen nach all dem „Rechtsansprüche“ vor, Rechtsansprüche, die wir selbst, wären wir die Mächtigen geblieben, nie als verbindlich anerkannt hätten. In den zwanzig Jahren seit Kriegsende und insbesondere seit Stalins Tod hat sich die definitive Festigung der Sowjetunion als Weltmacht vollzogen. Dessen ungeachtet beharren wir auf der Erwartung, ein Friedensvertrag werde uns die Rückkehr nur „provisorisch unter fremder Verwaltung stehender Gebiete“ bringen—also eine restitutio ad integrum. Das Dritte Reich, Hitlers Krieg nur ein Traum.
Mit dieser Einsicht in eine illusionär begründete Politik wird dem Vorwurf, wir betrieben „Revanchismus“, nicht das Wort geredet. Denn unsere Politik hat nicht die Mittel, das Weltgeschehen derartig zu beeinflussen, daß irgendwer mit uns auszöge, um mit Waffengewalt uns unsere verlorenen Ostgebiete „heimzuholen“. Diese Spekulation mag auf der Höhe des Kalten Krieges hier und da ernstlich gepflegt worden sein. Seit dem Sputnik sind solche Hoffnungen erkaltet. Unsere Politik ist nicht revanchistisch, sie ist illusionär—aber auch deshalb nicht ungefährlich. Weder unseren Regierungen noch unseren Parteien noch sonstigen Gruppen unserer Öffentlichkeit ist es gelungen, uns alle von einer einfachen, logisch verknüpften Kette von Tatsachen zu überzeugen: Wir haben die Sowjetunion mit Krieg überzogen, haben dem Land unendliches Leid gebracht und dann den Krieg verloren. Das hat zu einer Verschiebung der machtpolitischen Einflußzonen geführt. Nach der bedingungslosen Kapitulation müssen wir uns realpolitisch in die Tatsache schicken, daß der Sieger—der seinerseits den Sieg nur unter größten Opfern erreichte—seine Bedingungen so stellt, wie er sie für seine Interessen glaubt stellen zu müssen. Daß Rußland, ob bolschewistisch oder zaristisch, nach einem gewonnenen Krieg Gebietsforderungen stellen und eine Ausweitung seiner Einflußzone mit Nachdruck verfolgen würde, konnte man im vorhinein wissen. Indem wir in Rußland einmarschierten, waren wir dieses kalkulierbare Risiko eingegangen; aber wir sind jetzt nicht fähig, die Forderungen Rußlands als Kriegsfolge anzuerkennen, als ob die ganze Auseinandersetzung ein Kabinettskrieg und nicht ein ideologischer Kreuzzug gewesen wäre.
Man kann natürlich, wenn man so schroff formuliert—wir seien nicht bereit, hinzunehmen, den Krieg gegen Rußland ohne Einschränkung verloren zu haben—, leicht überführt werden, die Dinge zu übertreiben. Die Formulierung zielt auch nicht auf den rationalen Vordergrund, in dem man gezwungenermaßen mit einem schwer beweglichen machtpolitischen Koloß zu tun hat, sondern auf die dahinterliegenden Phantasien. Es geht um die Hintergedanken und ihren nicht geringen, wenn auch nicht leicht in einer einfachen Beweisführung darstellbaren Einfluß auf unser faktisches Verhalten.
Ein Tabu ist entstanden, ein echtes Berührungstabu. Es ist verboten, die Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen beider deutscher Staaten als ein Faktum zu diskutieren, von dem man zunächst einmal auszugehen hat. Im Berührungstabu ist der Traum enthalten, es könnte sich doch noch durch unabsehbare Glücksfälle fügen, daß zurückzuholen ist, was sträflich Hybris aufs Spiel gesetzt und vertan hat. Es ist tatsächlich ein gefährlicher Traum, statt der Anstrengung, nationale Grenzen ihres Charakters der Barrieren vor einem freien Verkehr zu entkleiden—so daß es uns erlaubt wäre, an die Kurische Nehrung zu fahren wie in die Vogesen—den „Alleinvertretungsanspruch“ höher einzuschätzen und während zwanzig Jahren sich nicht um eine vernünftige Koexistenz zu bemühen. Dabei enthüllt sich die Macht der Hintergedanken, denn sie sind es, die den erträglichen Kompromiß zugunsten der unerträglichen Rechthaberei auf beiden deutschen Seiten verwerfen ließen.
Dementsprechend müssen auch für fremde Ohren unsere Versicherungen, bei der Verfolgung unserer Rechtsansprüche auf Einsatz von Machtmitteln zu verzichten, etwas Unverbindliches enthalten. Diese deutsche Art, das schier Unerreichbare kompromißlos so zu lieben, daß das Erreichbare darüber verlorengeht, wiederholt sich in der deutschen Geschichte seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Die Orientierung am Unwirklichen war einer der Anlässe der folgenden Untersuchung. Da wir es mit Phantasien zu tun haben, die im scheinbar logisch geordneten Verhalten aufzufinden sind, kompliziert sich die Darstellung, und wir können es nicht verhindern, daß unsere Beobachtungen oft schwerfällig formuliert und vielleicht peinigend um die Sache bemüht sind. Trotzdem erhoffen wir vom Leser, daß er seine Unlust angesichts dessen, was wir ausbreiten, zunächst aushält, ehe er zum Urteil schreitet.
Quelle: Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München, 1967, S. 1ff. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.