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Die politischen Bedingungen der deutschen Europapolitik von heute
Meine Damen und Herren!
Ich glaube, man kann die Entwicklung der heute zentral gewordenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit dem Vertragsnetz, mit dem die deutsche Außenpolitik unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik es unternommen hat, wieder in die Familie der Nationen als ein leidlich geachtetes Mitglied einzutreten, und sich mit ihr so zu verflechten, daß dadurch für uns nützliche Interessenverbindungen entstanden. Es sind dabei zwei Typen von Verträgen abgeschlossen worden, Verträge des mehr klassischen Stils, also eines mehr lockeren Typus: nicht organisiert, ohne eigene Persönlichkeit, die durch Organe vertreten wird. Ich meine die OEEC, den Europarat, die Westeuropäische Union und die NATO. Alle diese Bindungen waren von Anfang an zeitlich begrenzt und eher dem traditionellen Typus der Allianz zugehörig. Das eigentlich Neue der Nachkriegsentwicklung war der Typus der integrierten Gemeinschaften: die Kohle- und Stahl-Gemeinschaft zunächst, die der Bahnbrecher war, die Europäische Atomgemeinschaft, die einen energie- und wissenschaftspolitischen Sonderfall betrifft, und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
Sodann, sie waren auf Dauer angelegt, irreversibel strukturell aufgebaut, wenn Sie pathetisch sein wollen, sollten sie eine ewige Verbindung föderalen Typs werden. Sie waren nur aus sechs Mitgliedern zusammengesetzt, weil sich eben nicht mehr als sechs Staaten bereit fanden, dieses große Abenteuer, das es ja damals war, einzugehen. Alle diese sechs Länder waren durch den Krieg an den Rand ihrer Existenz geführt worden. Das erklärt es auch, daß in diesen Ländern, und nur in ihnen, Männer aufstanden, die den Entschluß aufbrachten, es mit radikal neuen Lösungen zu versuchen. Es half zu dieser Vereinigung außerdem, daß die wirtschaftliche Interessenlage der sechs Länder leidlich homogen war, soweit sie es nicht war, daß sie in einem genügenden Maße komplementär war, um das Ganze mit der Chance auszustatten, ein dauerhaftes Gleichgewicht zu gewährleisten. Hinzu kam die Erkenntnis, daß eine moderne Volkswirtschaft auf lange Sicht nur noch als Großraumwirtschaft oder eingebettet in eine Großraumwirtschaft prosperieren kann. In Europa war nicht ein Staat übriggeblieben, der mehr als eine Mittelmacht gewesen wäre, der ein Machtsubstrat besessen hätte, das dazu ausreichte, Großmacht zu spielen. Demgegenüber standen zwei Mächte von kontinentalen Dimensionen: die Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen und die Sowjetunion auf der andern Seite. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, zu erkennen, daß man nur überleben konnte, wenn man den Versuch mit Erfolg unternahm, es ihnen gleich zu tun. Im Zentrum dieser ganzen Bildung stand und steht und wird immer stehen die deutsch-französische Aussöhnung.
Das waren die inneren Gründe, dazu kam die äußere Lage, die sehr geholfen hat, und ohne die, sagen wir es offen, es unmöglich gewesen wäre, in der sehr kurzen Zeit von acht Jahren (1949–1957) – auf dem Höhepunkt des Handelswerts des deutschen politischen Potentials – das Vertragsnetz der Nachkriegszeit zu knüpfen. Es waren die Jahre des kalten Krieges und damit eines stark ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses der freien Welt, das sich des Rückhalts auch dieses deutschen Potentials bemächtigen wollte. Deshalb hat man viele Bedenken, die überall bestanden haben, damals zurückgestellt.
Diese Zeiten haben aufgehört. Die neue Situation, die nicht die Gewähr der Dauerhaftigkeit in sich birgt, zeichnet sich seit der Kennedy-Administration, seit dem Bau der Mauer in Berlin 1961, seit Kuba 1963 ab. Diese Situation hat aufgehört in dem Augenblick, in dem man anfing, das Ende des kalten Krieges, ich sage nicht festzustellen, denn das wäre irrig, aber zu antizipieren in einer Art von außenpolitischem Wunschdenken. Die einen nennen das, was da eingetreten ist, Polyzentrismus; sie haben plötzlich entdeckt, daß der Ostblock ja auch aus Staaten besteht. Und die andern, weniger wissenschaftlich in ihrer Terminologie, nennen es schlicht Entspannung.
Was sind die Folgerungen dieser Veränderungen für uns, für Deutschland und für seine Europapolitik? Sind sie von der Art, daß sie auch die Europäischen Gemeinschaften in Frage stellen? Nun, das bleibt kühl und gnadenlos gegenüber uns selbst zu prüfen. Wir müssen dieses ganze Gebäude der Nachkriegsverträge abklopfen, daraufhin, ob das noch hält, oder ob es brüchig ist. Wir müssen uns auch Rechenschaft darüber ablegen, was eigentlich hinter dem steckt, was die andern als Polyzentrismus und Entspannung denken und empfinden. Auch soweit wir ihnen nicht folgen, sind diese subjektiven Tatsachen doch Gegebenheiten des politischen Geschehens, und wir haben sie in Rechnung zu stellen. Bei unserer Prüfung haben wir als entscheidendes und durchaus legitimes Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem, was brauchbar ist, und dem, was nicht brauchbar ist, die Frage zu stellen, ob und inwieweit diese Verträge auch heute noch unseren Interessen dienen. Das schließt die Frage ein, welches sind denn unsere Ziele? Eine Frage, die vielfach verabsäumt wird; Gott sei es geklagt.
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Ich komme zu den integrierten Gemeinschaften. Jedermann weiß heute, daß der Kohle- und Stahl-Gemeinschaftsvertrag sich kasuistisch auf materielle Regeln für bestimmte Tatbestände beschränkt. Er hat also weniger Verfassungscharakter. Die beiden neuen, auf die Römischen Verträge gegründeten Gemeinschaften haben einen stärkeren politischen Gehalt, weil sie in die Hände einmal eingesetzter Verfassungsorgane die weitere Entwicklung dieser Gemeinschaften legen. Das ist der entscheidende Fortschritt, den wir über den Vertrag von Paris hinaus gemacht haben. Auch Euratom ist aus verschiedenen Gründen, auf die ich nicht eingehen will, in der Krise.
Und nun die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft: Wirtschaftlich hat sie alle Erwartungen übertroffen. Wenn mir einer sagt, daß er 1958 vorausgesehen habe, wo wir in diesem Jahr stehen würden, so zweifle ich an der Qualität seines Gedächtnisses. Wirtschaftlich ist also die Gemeinschaft für alle Beteiligten ein einträgliches und unverzichtbares Geschäft geworden. Daß es unverzichtbar war, das ist erwiesen, seit der Teilbeendigung der Krise 1965 durch die Luxemburger Konferenz, denn die hat die übereinstimmende Einsicht aller Hauptstädte ans Licht gefördert, daß die Zerstörung der Gemeinschaft jedem Partner bedeutende und anderweitig nicht ersetzbare wirtschaftliche Einbußen eintragen würde. Immerhin, dieses Werk ist noch nicht vollendet. Ich werde über das, was noch zu tun ist, im zweiten Teil meiner Ausführungen noch sprechen und aufzuzeigen versuchen, daß eine besonders aktive deutsche Europapolitik, die von vornherein langfristig angelegt sein muß, um richtig zu sein, auch in Zukunft vonnöten ist. Das ist das Wirtschaftliche.
Politisch, das wird viel zu wenig beachtet, sind die Integrationsverträge, und das gilt jetzt für alle, die einzigen Nachkriegsverträge, in denen keinerlei ausdrückliche oder stillschweigende Diskriminierung Deutschlands zu finden ist. Das ist der große politische Wert, den diese Bildungen haben. Politisch ist ihre Verfassung, ich habe es schon erwähnt, die immerhin auch eine Gewähr für eine gleichberechtigte deutsche Teilnahme an diesem ja doch wahrscheinlich großen wirtschaftspolitischen Machtzentrum in Europa bedeutet. Es ist deshalb ganz logisch, daß die Angriffe der Gegner dieser Bildung, die hier auf dem Kontinent entstanden ist, sich in erster Linie gegen die Institutionen richten. Daß in der Luxemburger Konferenz diese Institutionen gerettet worden sind, macht ihre größte Bedeutung aus, und daneben sei erwähnt, daß das erste Mal nach dem Krieg, in einer großen politischen Frage sich mehrere Staaten mit Deutschland zu einem begrenzten Bündnis zusammengefunden haben. Politisch ist weiter an diesem Geschehen, daß durch die Verbindung mit den Nachbarn und durch den politischen Einfluß, den Deutschland in den Institutionen dieser Gemeinschaft hat, es politisches Gewicht auch außerhalb der Gemeinschaft gewinnt, nicht nur innerhalb. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß ein in eine blühende und machtvolle Gemeinschaft eingebundenes Deutschland auch in Washington, auch in London, auch in Moskau mehr Gewicht hat als ein isoliertes im Format eines europäischen Mittelstaates. Und schließlich, und das ist das Wichtigste vom deutschen Standpunkt aus, ist die wirtschaftliche Integration in Europa nicht ein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für jene Wiedervereinigung in Etappen, die sich als neuer Stil einer Wiedervereinigungspolitik abzeichnet. Nur innerhalb einer gesamteuropäischen Wiederannäherung der Europäer des Ostens und des Westens haben wir eine Chance, dieses große nationale Bedürfnis befriedigt zu sehen. Der Erfolg dieser Lösung hängt von dem Vertrauen ab, das auch die Ostvölker in uns setzen, und dieses Vertrauen wird, vielleicht etwas paradoxerweise, mitbestimmt durch das Vertrauen, das wir in der Gemeinschaft unseren Partnern einflößen durch das gute Beispiel, das wir im Umgang mit ihnen geben; denn durch dieses Vertrauen machen wir sie zu Interpreten und zu Advokaten unserer eigenen nationalen Sache. Das ist die ansehnliche Liste der politischen Wirkungen der sogenannten wirtschaftlichen Integration.
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Was sind nun zusammenfassend die Folgerungen aus dieser notgedrungen summarischen und etwas holzschnittartigen Analyse für die deutsche Politik, namentlich für die deutsche Europapolitik:
1. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist wirtschaftspolitisch eine unverzichtbare Errungenschaft, die mit allen Kräften fortentwickelt werden muß. Die Probleme der Schwestergemeinschaften sind Probleme ihrer Verträge und der Fusion.
2. Für die Wiedervereinigung ist die Integration der Sechs nicht ein Hindernis, sondern die Voraussetzung ohne Alternativen. Gleiches gilt für die anderen Ziele der deutschen Politik, Sicherheit, Friede und eine respektable und bündnisfähige Rolle Deutschlands in der Welt.
3. Die sogenannte politische Union ist im Augenblick nicht erreichbar, bleibt aber mittelfristig das Ziel der deutschen Europapolitik. Sie ist nicht die Bedingung, sondern sie ist die Folge der wirtschaftspolitischen Integration, die bereits die sozial- und wirtschaftspolitische Teilverwirklichung des politischen Europas ist.
4. Der politische Angelpunkt des langfristigen Erfolgs der Integration bleibt das deutsch-französische Verhältnis. Es muß infolgedessen trotz aller Widrigkeiten daran gearbeitet werden. Das Gespräch mit Paris darf niemals abreißen. London ist als Schiedsrichter zwischen Bonn und Paris ungeeignet, so wie Bonn als Schiedsrichter zwischen London und Paris ungeeignet ist. Damit will ich nichts sagen gegen gemeinsame deutsch-französische Bemühungen in der Frage des Beitritts Großbritanniens zu den Gemeinschaften.
5. Die Integration in der EWG ist unerläßliche Voraussetzung für eine konstruktive Ostpolitik, die ja eine der Bedingungen für eine realistische Wiedervereinigungspolitik ist. Ich verstehe darunter eine Ostpolitik, mit der langfristig und evolutionär Schritt für Schritt vielleicht auch die Ergebnisse von Jalta korrigiert werden können.
6. Die NATO bleibt für die Sicherheit Westeuropas und der Bundesrepublik unentbehrlich, zumal leider die französische Haltung gemeinsame Verteidigungsanstrengungen der Europäer für absehbare Zeit ausschließt.
7. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist nicht vollendet, es sind viele Probleme ungelöst, deren Schwierigkeiten durch deutsch-französische Spannungen eher verschärft werden. Alle diese Probleme sind aber lösbar, wenn die stetige Europapolitik der vergangenen Jahre fortgesetzt wird. Zu diesen Problemen gehört auch das der geographischen Erweiterung der Gemeinschaft.
Also, die Europapolitik ist heute vielleicht das tauglichste Mittel überhaupt, um allen legitimen deutschen nationalen Interessen zu dienen. Jedenfalls ist eine deutsche Europapolitik weder von der Wiedervereinigungspolitik noch von der Ostpolitik noch von der Sicherheitspolitik zu trennen. Und daher sollte eine konstruktive Europapolitik ein Schwerpunkt deutscher Politik überhaupt sein.
Quelle: Walter Hallstein, „Die politischen Bedingungen der deutschen Europapolitik von heute“ (24. Oktober 1966); abgedruckt in Thomas Oppermann unter Mitarbeit von Joachim Kohler, Hrsg., Walter Hallstein. Europäische Reden. Stuttgart, 1979, S. 641–49.