Quelle
Paris, den 9. August 1789
Das Glück, mein lieber T., gerade jetzt in Frankreich, und zwar in der Hauptstadt dieses Landes, dem Geburtsorte und der Wiege der neugeborenen französischen Freiheit, zu sein, gerade jetzt, da aller Welt Augen auf diesen Mittelpunkt der größten und merk-würdigsten dermaligen Weltbegebenheiten voll Bewunderung und Erstaunen gerichtet sind, gerade jetzt, da man hier aus dem dumpfen Zustande eines in langer schmählicher Knechtschaft verträumten Daseins zu einem Leben erwacht ist, welches die Brutusse und die Catos selbst mitzuleben sich nicht weigern würden, gerade jetzt, da alle Geister dieses Volkes, bis in die niedrigsten Stände hinab, die Schranken ihrer ehemaligen kleinlichen und elenden Existenz wie Spinngewebe zerrissen und von Stund an sich zu einer Höhe der Empfindung und der Begriffe erhoben haben, zu welcher das blinzelnde Auge des Ausländers sie kaum begleiten kann – dieses Glück rechne ich dankbar und gerührt zu den vielfältigen unverdienten Begünstigungen, wodurch die Vorsehung mein unbedeutendes Leben, fast in jeder Periode desselben, auszuzeichnen für gut befunden hat. Man fühlt sich hier, auch als bloßer Zuschauer schon, in allen seinen Empfindungen, an allen seinen Kräften und Fähigkeiten – ich weiß nicht wie – zugleich erhöht, zugleich mit veredelt, und wenn ich nicht merklich besser, nicht mit einem merklichen Zuwachs an Gemeingeist, an Mut, Kraft und Trieb zu jeder Handlung, welche Selbstvergessenheit und Aufopferungen erfordert, zu Euch zurückkehre, so hat die Schule, in der ich mich jetzt befinde, keine Schuld daran.
Schon der bloße Anblick einer ungeheuern, aus Menschen aller Stände, jeglichen Alters und beiderlei Geschlechts zusammengeflossenen Volksmasse, welche von einerlei patriotischen Freude wie von einerlei freundschaftlichen, brüderlichen und schwesterlichen Gesinnungen beseelt zu sein scheint, hat etwas menschlich Großes und Herzerhebendes. Aber wenn man nun vollends auf den öffentlichen Versammlungsplätzen dieser Stadt, den Tuilerien, dem Palais-Royal, den Boulevards und so weiter, in die sanftwallenden Wogen dieses menschlichen Ozeans sich selbst hineinstürzt, wie hier jeder, auch der fremdeste Fremdling, ungescheut und ohne alle Bedenklichkeit tun darf, und nun jene Vermischung und Zusammenschmelzung aller Stände, besonders des Militär- und Bürgerstandes, zu einer einzigen großen Bürgerfamilie in der Nähe beobachtet; sieht, wie nunmehr der gemeinste Bürger und der Mann, den Band und Stern bezeichnen, überall, wo beide als Menschen und nicht in ihren Amtsverhältnissen auftreten, zu völlig gleichen Paaren gehen, ohne Unverschämtheit auf der einen, ohne beleidigenden Stolz auf der anderen Seite zu verraten; sieht, wie der Soldat des Vaterlandes – dies ist der Ehrentitel, den man hier jetzt der zur Bürgerschaft übergetretenen französischen Garde gibt – und der bewaffnete Bürger an Großmut und Dankbarkeit wie an gemeinschaftlicher Bemühung, öffentliche Ruhe und Ordnung nicht durch Bajonette, sondern durch Bitten und freundliches Zureden zu erhalten, miteinander wetteifern; sieht, wie dieses Zureden und jenes Bitten vollkommen hinreichend sind, einen vermischten Haufen von hunderttausend exaltierten Menschen in den Schranken der Ordnung und der Sittsamkeit zu erhalten; sieht, wie sogar die kleinsten Knaben, von dem hohen Bürgersinn und dem Freiheitsenthusiasmus ihrer Väter ergriffen, nach ihrer Weise bewaffnet und mit Fahnen und Trommeln versehen, in großen Scharen durch die Straßen ziehen und an der Erhaltung der Ordnung und Ruhe teilzunehmen scheinen; sieht, wie zu einer Zeit, da alle Gemüter in aufbrausender Gärung sind, da beinahe eine völlige Anarchie durchs ganze Reich herrscht und da die große, aus mehreren tausend Rädern zusammengesetzte furchtbare Maschine der ehemaligen Pariser Polizei gänzlich zertrümmert ist, gleichwohl überall, sogar beim größten Volksgedränge, alles so ruhig, so friedlich, so anständig und sittlich zugeht, daß man stundenlang dastehen und die wimmelnde Menge von lebhaften Empfindungen beseelter Menschen unverrückt im Auge behalten kann, ohne auch nur ein einziges Mal eine einzige unanständige oder gesetzwidrige Handlung zu bemerken, ohne auch nur ein einziges Mal ein beleidigendes, scheltendes oder zankendes Wort zu hören; wenn man, sage ich, dies alles, was jedem Abwesenden übertrieben und unglaublich klingen muß, hier mit eigenen Augen sieht, so oftmals wiedersieht, daß man es am Ende für kein Blendwerk, für keinen Traum mehr halten kann, so müßte man, meine ich, unter allen menschlichen Klötzen der stumpfeste und fühlloseste sein, wenn man sich über dieses Erwachen der Menschheit zu einem so schönen, neuen und edlen Leben nicht oft bis zu Freudentränen gerührt fühlte. Welch ein Schauspiel für den, der für Menschenveredelung und Menschenbeglückung noch unverdorbene Sinne und ein warmes teilnehmendes Herz für alles hat, was das Emporkommen der großen Adamsfamilie angeht! Welch ein Beispiel für das ganze übrige Europa und für alle ihrer menschlichen Rechte und des göttlichen Ebenbildes, das ist der menschlichen Würde und Selbständigkeit, beraubten Menschen in allen fünf Weltteilen! Wahrlich, der ärgste Despot, wäre er hier, um ein Augenzeuge von dem allen zu sein, und wäre sein von selbstsüchtigen und ehrgeizigen Begierden zusammengeschrumpftes und ausgedörrtes Herz noch der geringsten menschlichen und edelmütigen Aufwallung fähig – er würde, glaube ich, von einer unwiderstehlichen sympathetischen Gewalt ergriffen, sich geneigt fühlen, auf seine unrechtmäßige willkürliche Herrschaft – denn wo gab es jemals eine rechtmäßige – freiwillig Verzicht tun, um des großen Anblicks, den ein frei gewordenes und dadurch auch zugleich moralisch wiedergeborenes, veredeltes und beglücktes Volk gewährt, noch einmal, und zwar mit dem Zusatze von Vaterfreude zu genießen, den das Bewußtsein, der Urheber davon zu sein, notwendig mit sich führen müßte.
Sie sagen, ich schwärme. Gut, mein Lieber; ich freue mich, daß ich bei einer solchen Veranlassung noch erwärmt werden kann, und bedaure den, der dazu nicht mehr fähig ist. Sie selbst, wie ich Sie kenne, würden, wenn Sie hier wären, mit mir in die Wette schwärmen.
Abschied von Paris
Paris, den 26. August 1789
Ich halte Ihnen Wort, guter St.! Diese letzte nächtliche Stunde, die ich in Paris – wo ich das Schlafen beinahe verlernt hätte – durchwache, soll für Sie sein.
Je länger ich hier bin, je aufmerksamer ich die Knospen, die Blüte und die Früchte der jungen französischen Freiheit betrachte und je länger ich das hier angefangene Kreißen des von praktischer Philosophie geschwängerten menschlichen Geistes beobachte, welcher gerechte und weise Staatsverfassungen, allgemeine Aufklärung und Völkerglück gebären zu wollen verheißt, desto inniger und fester wird meine Überzeugung, daß diese französische Staatsumwälzung die größte und allgemeinste Wohltat ist, welche die Vorsehung seit Luthers Glaubensverbesserung der Menschheit zugewandt hat, und daß daher das ganze weiße, schwarze, braune und gelbe Menschengeschlecht, rund um den Erdball herum, ein allgemeines feierliches »Herr Gott, dich loben wir« dafür anstimmen sollte. Alle ehemaligen Revolutionen entstanden in Zeiten und in Ländern, wo der menschliche Verstand noch nicht zu hinlänglicher Reife gekommen war, um eine Konstitution zu schaffen, welche auf die lautersten Grundsätze der Vernunft, des Rechts und der Billigkeit gegründet wäre; alle anderen Völker, welche das Sklavenjoch abschüttelten, sahen sich von dem Augenblicke an, da sie diesen kühnen Schritt getan hatten, in langwierige und blutige Kriege verwickelt, unter denen ihre ersten provisorischen Einrichtungen, mit den in solchen Fällen unvermeidlichen Übereilungsfehlern, schon eine gewisse Konsistenz erhielten, die sich nachher, auch bei besseren Einsichten, nicht füglich wieder umstoßen ließ. Hier ist nun zum erstenmal eine Revolution, die in jeder Betrachtung unter glücklicheren Vorbedeutungen angefangen ward, die also auch natürlicherweise eine Konstitution verspricht, wie bisher noch keine war, eine Konstitution, die alle Vollkommenheiten der englischen in sich fassen und alle Mängel und Unvollkommenheiten derselben ausschließen wird. Hier ist ein Volk, so aufgeklärt, so edel und mild, als es je eins gegeben hat; ein König, so sanft, so lenksam und ehrgeizlos, als je einer gewesen ist; eine aus zwölfhundert Köpfen bestehende Versammlung von Stellvertretern der Nation, deren größere Hälfte wenigstens aus sehr helldenkenden, geistvollen, kraftbegabten und mutigen Patrioten besteht, und, was das beste ist, diese drei Hauptfiguren in dem großen interessanten Gemälde – Volk, König und Nationalversammlung – umschlingen sich in schönster Harmonie und gehen, Hand in Hand gelegt, dem erhabenen Ziele zu. Noch mehr: hier sind – wer weiß wieviel tausend denkende und wohlunterrichtete Bürger, welche durch ihre Debatten am Palais-Royal, hier sind unzählige wachsame Schriftsteller, welche durch fliegende Blätter, kleine Abhandlungen und Werke den Beratschlagungen der Volksvertreter zu Hilfe kommen, das Nachdenken derselben leiten, sie vor möglichen Fehlern warnen und ihnen ebensoviel Enthusiasmus fürs Gute als Vorsicht und Behutsamkeit zur Vermeidung des Bösen einflößen. Hier ist zum erstenmal eine Volksversammlung, die, obgleich die Hälfte ihrer Mitglieder aus Edeln und Priestern besteht, doch in ihrer Mehrheit die Greuel der Hierarchie und des aristokratischen Despotismus – von denen die Menschheit von jeher noch viel mehr als von der monarchischen Alleingewalt gelitten hat – verabscheut, verwünscht und mit Stumpf und Stiel auszurotten entschlossen zu sein scheint. Hier wird alles öffentlich – welch eine Schutzmauer wider Übereilungen und eigennützige Absichten – verhandelt, bestritten, festgesetzt. Hier treffen endlich so ungemein glückliche Konjunkturen in ganz Europa zusammen, daß man mit der Vollendung und Begründung der neuen Konstitution hoffentlich früher zustande kommen wird, als irgendeine bedeutende Macht den Einfall oder das Vermögen haben dürfte, ihnen dabei Hindernisse in den Weg zu legen. Welch ein glücklicher Zusammenfluß von Umständen, die, solange die Welt steht, in gleichem Maße noch nie zusammentrafen! Und was läßt sich davon nicht alles hoffen, erwarten, als unausbleiblich vorhersagen! Mein Herz erwärmt und erweitert sich beim Anschauen dieser herrlichen Perspektive. Wir werden zum erstenmal ein großes Reich sehen, worin das Eigentum eines jeden heilig, die Person eines jeden unverletzlich, die Gedanken zollfrei, das Glauben ungestempelt, die Äußerung desselben durch Worte, Schriften und Handlungen völlig frei und keinem menschlichen Richterspruch mehr unterworfen sein wird; ein Reich, worin keine privilegierten, keine geborenen Volksbedrücker, keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden, keine Hierarchie und kein Despotismus mehr stattfinden, wo vielmehr alle gleich, alle zu allen Ämtern, wozu ihre Verdienste sie fähig machen, fähig sein und nur Kenntnisse, Geschicklichkeiten und Tugenden einen Vorzug geben werden; ein Reich, wo Recht und Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise und ohne alles Ansehen der Person werden verwaltet, und zwar unentgeltlich verwaltet werden und wo jeder, auch der armseligste Landmann, nicht etwa nur dem Scheine nach, wie in anderen Ländern, sondern wirklich in der gesetzgebenden Versammlung repräsentiert werden, also jeder, auch der armseligste Landmann, Mitregent und Mitgesetzgeber seines Vaterlandes sein wird. Wer kann bei dieser entzückenden Aussicht, die jetzt doch wahrlich schon mehr als bloße Hoffnung ist, verweilen, ohne daß ihm das Herz für alle die süßen menschlichen Gefühle, die sich seiner dabei bemächtigen, zu enge wird und ihm aus dem Busen springen möchte! Und nun die Folgen, die das alles für Europa, für die Welt haben wird! Ich möchte, indem ich sie überdenke, aufschreien vor Freude und wie Asmus ein Knospenreis der Freiheit brechen und mit diesem, wie mit einem Thyrsus, in der Hand dem herannahenden Frühling des allgemeinen Völkerwohls entgegentaumeln.
Quelle: Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris. Brauschweig: in der Schulbuchhandlung. 1790. Nachdruck herausgegeben von Helmut König. Berlin: Rütten & Loening, 1961, S. 134–39, 274–77; abgedruckt in Jost Hermand, Hrsg., Von deutscher Republik 1775–1795. Texte radikaler Demokraten. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1968, S. 101–04, 118–21.