Kurzbeschreibung

Wie sein Vorläufer Immanuel Kant hinterließ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) der neueren deutschen Geistes- und Politikgeschichte ein reiches und komplexes Vermächtnis. Von seiner ausgereiften Philosophie lässt sich sagen, dass er die Vernunft der Aufklärung historisierte und dabei das vernunftbegabte Individuum durch Kulturen im herderschen Sinn als entscheidendem Gegenstand der Geschichte ersetzte. Es war der Staat, der Kulturen und die Einzelpersonen in ihnen mit „objektivierter“ Sittlichkeit und einer ihrer historischen Entwicklung angemessenen Freiheit ausstattete. Im geschichtlichen Prozess verwirklichten Menschen, die durch Kulturen und Staaten wirkten, die Fülle ihrer eigenen Freiheit, die zudem die Verwirklichung des Gottesgedankens selbst darstellte. In diesem Text, der zu Lebzeiten Hegels unveröffentlicht blieb, erklärt sein Verfasser – damals ein junger Professor völlig im Bann der Französischen Revolution und ihrer umwälzenden Auswirkungen in Deutschland – das Heilige Römische Reich für leb- und geistlos und beschwört einen „deutschen Theseus“ herauf, der (wie Napoleon zu dieser Zeit) mit dem Schwert in der Faust handelnd Deutschland unter einer starken Zentralregierung vereinigt. Dennoch müsste angesichts des Freiheitssinns der Deutschen das liberale Prinzip der Volksvertretung ebenfalls zufrieden gestellt werden. Wenngleich es im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts Bismarck war, der die Rolle des Theseus zu spielen schien, übt Hegel in dieser Abhandlung scharfe Kritik an Preußens Versäumnis, für breitere deutsche Interessen einzutreten.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Kritik der Verfassung Deutschlands“, unveröffentlichtes Manuskript (1800-1802)

  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Quelle

„Kritik der Verfassung Deutschlands“

Deutschland ist kein Staat mehr. Die ältern Staatsrechtslehrer, welchen bey der Behandlung des deutschen Staatsrechts [], von der deutschen Verfassung einen Begriff festzusetzen, konnten über diesen Begriff nicht einig werden, biß die neuern es aufgaben, ihn zu finden, []. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle, was nicht mehr begriffen werden kann ist nicht mehr; sollte Deutschland ein Staat seyn, so könnte man diesen Zustand der Auflösung des Staats nicht anders als mit einem auswärtigen Staatsrechtsgelehrten Anarchie nennen; wenn nicht die Theile sich wieder zu Staaten constituirt hätten, denen weniger ein noch bestehendes als vielmehr die Erinnerung eines ehmaligen Bandes noch einen Schein von Vereinigung läßt; [].

Die Gesundheit eines Staats offenbahrt sich im allgemeinen nicht sowohl in der Ruhe des Friedens als in der Bewegung des Kriegs; jene ist der Zustand des Genusses, und der Thätigkeit in Absonderung; die Regierung eine weise Hausväterlichkeit, die nur gewöhnliches an die Beherrschten fodert; im Kriege aber zeigt sich die Krafft des Zusammenhangs Aller mit dem Ganzen, wie viel von ihnen fodern zu können er sich eingerichtet hat, und wie viel das taugt, was aus eigenem Triebe und Gemüthe für ihn sie thun mögen. So hat in dem Kriege mit der französischen Republik Deutschland an sich die Erfahrung gemacht, wie es kein Staat mehr ist, [] und dessen handgreiffliche Resultate sind der Verlust einiger der schönsten deutschen Länder, einiger Millionen seiner Bewohner [Frankreich hatte 1802 im Frieden von Luneville das linke Rheinufer annektiert], eine Schuldenlast [] und daß []noch viele Staaten dasjenige verlieren werden, was ihr höchstes Gut ist, eigene Staaten zu seyn. []

Es würde aber derjenige, der das was in Deutschland zu geschehen pflegt, nach den Begriffen dessen was geschehen soll, nemlich nach den Staatsgesezen, kennen lernen wollte, aufs höchste irren; denn die Auflösung des Staats erkennt sich vorzüglich daran, wenn alles anders geht, als die Gesetze; []denn eben um ihrer Begriffe willen erscheinen die Deutschen so unredlich, nichts zu gestehen, wie es ist, [] sie bleiben ihren Begriffen, dem Rechte und den Gesetzen getreu, aber die Begebenheiten pflegen nicht damit übereinzustimmen, [] der Begriff aber, der die übrigen in sich schließt, ist, daß Deutschland überhaupt noch itzt ein Staat sey, weil es ehmals ein Staat gewesen; und noch die Formen, aus denen das belebende derselben entflohen ist, vorhanden sind.

Die Organisation dieses Körpers, welche die deutsche Staatsverfassung heißt, hatte sich in einem ganz anderen Leben gebildet, als nachher und itzt in ihm wohnte; die Gerechtigkeit und Gewalt, die Weisheit und die Tapferkeit verflossener Zeiten, die Ehre und das Blut, das Wohlseyn und die Noth längst verwester Geschlechter und mit ihnen untergegangener Sitten und Verhältnisse, ist in den Formen dieses Körpers ausgedrückt; der Verlauff der Zeit aber und der in ihr sich entwickelnden Bildung hat das Schicksal jener Zeit, und das Leben der itzigen von einander abgeschnitten; das Gebaüde, worin jenes Schicksal haußte, wird von dem Schicksal der itzigen nicht mehr getragen, und steht [], isolirt von dem Geiste der Welt; wenn diese Gesetze ihr altes Leben verlohren haben, so hat die itzige Lebendigkeit sich nicht in Gesetze zu fassen gewußt; [] und das Ganze ist zerfallen, der Staat ist nicht mehr. []

Diese Form des deutschen Staatsrechts …

Diese Form des deutschen Staatsrechts ist tief in dem gegründet, wodurch die Deutschen sich am berühmtesten gemacht haben, nemlich in ihrem Trieb zu Freyheit; dieser Trieb ist es, der die Deutschen, nachdem alle andre europäischen Völker sich der Herrschafft eines gemeinsamen Staates unterworfen haben, nicht zu einem gemeinschafftlicher Staatsgewalt sich unterwerfenden Volke werden ließ. Die Hartnäkkigkeit des deutschen Charakters hat sich nicht bis dahin überwinden lassen, daß die Einzelnen Theile ihre Besonderheiten der Gesellschafft aufgeopfert, sich alle in ein Allgemeines vereinigt, und die Freyheit in gemeinschafftlicher freyer Unterwürfigkeit unter eine oberste Staatsgewalt gefunden hätten.

[] Die oberste Staatsmacht war unter den Europäischen Völkern eine allgemeine Gewalt, an der jedem eine Art von freyem und persönlichem Antheil zukam. Diesen freyen persönlichen von Willkühr abhängigen Antheil haben die Deutschen nicht in den freyen, von Willkühr unabhängigen Antheil verwandeln wollen, der in der Allgemeinheit und Kraft von Gesetzen besteht, sondern sie haben sich ihren spätesten Zustand ganz auf die Grundlage jenes Zustandes der nicht gesetzwidrigen, aber gesetzlosen Willkühr erbaut. Der spätere Zustand geht unmittelbar von jenem Zustand aus, worin die Nation, ohne ein Staat zu seyn, ein Volk ausmachte; in dieser Zeit der alten deutschen Freyheit, stand der Einzelne in seinem Leben und Thun für sich, er hatte seine Ehre und sein Schiksal, nicht auf dem Zusammenhang mit einem Stand, sondern auf ihm selbst beruhend;[] zum Ganzen gehörte er durch Sitte, Religion, einen unsichtbaren lebendigen Geist, und einige wenige grosse Interesse, sonst in seiner Betriebsamkeit und That, ließ er sich nicht vom Ganzen beschränken, [].

Aus diesem eigenwilligen Thun, das allein Freyheit genannt wurde, bildeten sich Kraise von Gewalt über andere, nach Zufall und Charakter ohne Rüksicht auf ein Allgemeines, und mit wenig Einschränkung von dem, was man Staatsgewalt nennt; denn diß war im Gegensatz gegen die Einzelne fast gar nicht vorhanden.

Diese Kreise von Gewalt fixirte die fortgehende Zeit; die Theile der allgemeinen Staatsmacht wurden eine Mannichfaltigkeit von ausschliessendem vom Staate selbst unabhängigem und nach keiner Regel noch Grundsatz vertheiltem Eigenthum, diß mannichfaltige Eigenthum bildet nicht ein System von Rechten, sondern eine Sammlung ohne Princip, [].

[] Die politische Gewalten und Rechte sind nicht nach einer Organisation des Ganzen berechnete Staatsämter, die Leistungen und Pflichten des Einzelnen sind nicht nach dem Bedürfnisse des Ganzen bestimmt; sondern jedes einzelne Glied der politischen Hierarchie jedes Fürstenhaus jeder Stand, jede Stadt, Zunft u.s.w. alles, was Rechte oder Pflichten in Bezug auf den Staat hat, hat sie sich selbst erworben, und der Staat hat bei solcher Schmälerung seiner Macht keine andere Verrichtung als es zu bestätigen, daß seine Macht ihm entrissen wurde; so daß wenn der Staat alle Gewalt verliert, und doch der Besitz der Einzelnen auf der Macht des Staats beruht, – der Besitz derjenigen nothwendig sehr schwankend seyn muß, die keine andre Stütze haben als die Staatsmacht, die gleich Null ist.

Die Grundsätze des deutschen öffentlichen Rechts, sind daher nicht aus dem Begriffe eines Staats, oder dem Begriffe einer bestimmten Verfassung, einer Monarchie u.s.w. abzuleiten, und das deutsche Staatsrecht ist nicht eine Wissenschafft nach Grundsätzen, sondern ein Urbarium von den verschiedensten der nach Art des Privatrechts erworbenen Staatsrechten. Gesezgebende, gerichtliche, geistliche, militärische Gewalt sind auf die regelloseste Art und in den ungleichartigsten Portionen gemengt, getheilt und verbunden, gerade so mannichfaltig als das Eigenthum der Privatleute.

Durch ReichstagsAbschiede, FriedensSchlüsse, Wahlkapitulationen, Hausverträge, Reichsgerichtliche Entscheidungen u.s.w. ist das politische Eigenthum eines jeden Gliedes des deutschen Staatskörpers aufs sorgfältigste bestimmt. Die Sorgsamkeit dafür hat sich mit der pünktlichsten Religiosität auf alles und jedes erstrekt, und auf scheinbar unbedeutende Dinge, z. B. Titulatur, Ordnung im Gehen und Sitzen, Farbe mancher Meubles u.s.w. jahrelange Bemühungen verwandt. [] Das deutsche Reich ist im Recht, wie das Reich der Natur in seinen Produktionen, unergründlich im Grossen, und unerschöpflich im Kleinen, und dise Seite ist es, welche die Eingeweihten in die unendliche Details der Rechte mit jenem Staunen vor der Ehrwürdigkeit des deutschen Staatskörpers, und mit jener Bewunderung für diß System der durchgeführtesten Gerechtigkeit erfüllt.

Diese Gerechtigkeit jeden Theil in seiner Trennung vom Staat zu erhalten und die nothwendigen Ansprüche des Staats an das einzelne Glied desselben stehen in dem vollkommensten Widerspruche. Der Staat erfodert einen allgemeinen Mittelpunkt, (einen Monarchen und Stände) worin sich die verschiedenen Gewalten, Verhältnisse zu auswärtigen Mächten, Kriegsmacht, Finanzen die hierauf Bezug haben u.s.w. vereinigten, einen Mittelpunkt [der] zu der Direktion auch die nothwendige Macht hätte, sich und seine Beschlüsse zu behaupten und die einzelne Theile in der Abhängigkeit von sich zu erhalten. [] Das deutsche Staatsgebaüde ist nichts andres als die Summe der Rechte, welche die einzelnen Theile dem Ganzen entzogen haben. []

Für diß Rechtsgebaüde des deutschen Staats gibt es deßwegen vielleicht keine passendere Innschrifft, als die:

Fiat justitia, pereat Germania.

Es ist ein wenn nicht vernünftiger, doch gewissermassen edler Zug im deutschen Charakter, daß das Recht überhaupt, sein Grund und seine Folgen mögen auch beschaffen seyn wie sie wollen, ihm so etwas heiliges ist; wenn Deutschland als eigner unabhängiger Staat, wie es allen Anschein hat, und die deutsche Nation, als Volk, vollends ganz zu Grunde geht, so gewährt es immer noch einen erfreulichen Anblik, unter den zerstörenden Geistern, die Scheue vor dem Recht voran zu erblikken.

Eine solche Ansicht würde der politische Zustand und das Staatsrecht Deutschlands gewähren, wenn Deutschland als ein Staat anzusehen wäre; sein politischer Zustand müßte als eine rechtliche Anarchie [] betrachtet werden. Allein alles stimmt zusammen, daß man Deutschland nicht mehr als ein vereinigtes Staatsganzes, sondern als eine Menge unabhängiger und dem Wesen nach souveräner Staaten anzusehen habe. Aber, sagt man, Deutschland ist ein Reich, ein Staatskörper, es steht unter einem gemeinschafftlichen Reichsoberhaupt, steht im Reichsverband; diesen Ausdrükken kan als gesetzlichen Titeln schlechterdings nicht zu nahe getreten werden; aber eine Betrachtung in der es um Begriffe zu thun ist, hat mit jenen Titeln nichts zu schaffen, sondern aus der Bestimmung der Begriffe kan erhellen, welche Bedeutung etwa jene Titel haben. []

[Hegel führt weitere Beispiele an, aus denen hervorgeht, wie Gesetzesformeln den offenbaren Schlussfolgerungen zu entfliehen suchen, indem sie mit verbalen Kunstgriffen hantieren und mit dem Begriff „Reich“ spielen als ob dies eine Lösung des Problems darstellen würde.]

Auf wissenschafftlichem und geschichtlichem [Felde] sind solche nichts bedeutende Ausdrükke zu vermeiden, []. Bei der Hartnäkkigkeit des deutschen Wesens nemlich, auf seinem Willen durchaus zu bestehen, [] gibt es kein besseres Mittel, als einen allgemeinen Ausdruck zu finden, der beyde befriedigt, und der doch beyde Theile bei ihrem Willen läßt, [] wenigstens das Geständniß des Nachgebens vermieden ist.

Wenn sich die Deutschen Jahrhunderte lang mit solchen allgemeinen Ausdrükken,, hingehalten haben, so muß die Reflexion hierüber, vollends wenn sie wissenschafftlich seyn soll, die Begriffe festhalten, und in dem Urtheil, ob ein Land einen Staat ausmache, ,den Umfang der Macht in Erwägung ziehen, der dem gelassen ist, was Staat heißen soll []. So wird sich zeigen, daß Deutschland eigentlich kein Staat mehr genannt werden kan. []

I. Begriff des Staats.

Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemeinschafftlichen Vertheidigung der Gesammtheit ihres Eigenthums verbunden ist; es versteht sich hiebey eigentlich von selbst, aber es ist nöthig angemerkt zu werden, daß diese Verbindung nicht bloß die Absicht hat, sich zu vertheidigen, sondern daß sie, die Macht und Gelingen mag seyn welches es will, durch wirkliches Wehren sich vertheidigt; denn es wird niemand laügnen können, daß Deutschland zu seiner gemeinschafftlichen Vertheidigung nach Gesetzen und Worten vereinigt ist; [] denn das Eigenthum und seine Vertheidigung durch eine Staatsverbindung sind Dinge die sich ganz und gar auf Realität beziehen. []

Daß eine Menge einen Staat bilde, dazu ist nothwendig, daß sie eine gemeinsame Wehre und Staatsgewalt bilde; [] die besondere Verfassung ist dafür, [] gleichgültig. [] und wir müssen in der Betrachtung beydes von einander trennen, dasjenige, was nothwendig ist, daß eine Menge ein Staat und eine gemeinschafftliche Gewalt sey, und dasjenige, was nur eine besondere Modification dieser Gewalt ist, [].

Diese Unterscheidung hat eine sehr wichtige Seite für die Ruhe der Staaten, die Sicherheit der Regierungen und die Freyheit der Völker; denn wenn von dem Einzelnen die allgemeine Staatsgewalt nur dasjenige fodert, was für sie nothwendig ist, und die Anstalten, daß diß nothwendige ihr geleistet werde, darauf einschränckt, so kann sie im übrigen die lebendige Freyheit und den eigenen Willen der Bürger gewähren und ihm noch einen grossen Spielraum lassen so wie die Staatsgewalt, welche in der Regierung als einem nothwendigen Mittelpunkt concentrirt ist, von den einzelnen die in der Peripherie sind, [] um so weniger scheel angesehen wird. []

In Rücksicht auf eigentliche bürgerliche Gesetze und die Gerechtigkeitspflege, würde weder die Gleichheit der Gesetze und des Rechtsgangs Europa zu Einem Staate machen, sowenig als die Gleichheit der Gewichte, Maasse und des Geldes, noch hebt ihre Verschiedenheit die Einheit eines Staats auf; wenn es nicht schon im Begriffe des Staats läge, daß die nähern Bestimmungen der Rechtsverhältnisse über das Eigenthum Einzelner gegen Einzelne ihn als Staatsgewalt nicht berühren, die nur das Verhältniß des Eigenthums zu sich zu bestimmen hat, so könnte das Beispiel fast aller europäischen Staaten es uns lehren, unter welche die Mächtigsten der wahrhafften Staaten durchaus ungleichförmige Gesetze haben; Frankreich hatte vor der Revolution eine solche Mannichfaltigkeit von Gesetzen, daß ausser dem römischen Rechte, das in vielen Provinzen galt, in andern Burgundisches, Britannisches u.s.w. herrschte, und fast jede Provinz ja fast jede Stadt, ein besonderes herkommliches Gesetz hatte, und ein französischer Schrifftsteller mit Wahrheit sagte, daß wer durch Frankreich reise ebenso offt die Gesetze als die Postpferde wechsle.

Nicht weniger liegt der Umstand, ausser dem Begriffe des Staats, von welcher besondern Macht oder nach welchem Verhältnisse des Antheils verschiedener Stände oder der Staats-Bürger überhaupt, die Gesetze gegeben werden; ebenso der Charakter der Gerichtshöfe ob er in den verschiedenen Instanzen der Rechtspflege, in Beziehung auf die Mitglieder ein ererbter, oder von der obersten Gewalt ausgehender, oder von den Bürgern nach ihrem freyen Zutrauen, oder den Gerichtshöfen selbst ertheilter ist [].

Gleich unabhängig vom Staat ist und ebenso ungleichförmig kann [seyn] die Form der Verwaltung überhaupt; alsdenn die Einrichtungen der Magistrate, die Rechte der Städte, und Stände u.s.w. alle diese Umstände sind nur relativ wichtig für den Staat, und für sein wahres Wesen ist die Form ihrer Organisation gleichgültig.

Die Ungleichheit der Abgaben der verschiedenen Klassen, nach ihrem materiellen Werthe noch mehr aber die Ungleichheit der ideellen Seite, nemlich der Rechte Pflichten hierin und ihres Ursprungs findet sich in allen europäischen Staaten; sowenig die durch die Ungleichheit des Reichthums entspringende Ungleichheit der Beyträge zu den Staatsausgaben den Staat sogar nicht hindert, daß die neuern Staaten darauf vielmehr beruhen [].

In unsern Zeiten mag unter den Gliedern ein ebenso loser oder gar kein Zusammenhang statt finden, in Rücksicht auf Sitten, Bildung und Sprache; und die Identität derselben, dieser ehmalige Grundpfeiler der Verbindung eines Volks ist itzt zu den Zufälligkeiten zu zählen, deren Beschaffenheit eine Menge nicht hindert, eine Staatsgewalt auszumachen; Rom oder Athen und auch jeder moderne kleine Staat könnte nicht bestehen, wenn die vielen Sprachen, die im russischen Reiche gangbar sind, in seinem Umkreis gesprochen würden; ebenso wenig, wenn unter seinen Bürgern die Sitten so verschieden wären, als sie in jenem Reiche, oder sie und die Bildung es schon in jeder Hauptstadt eines grossen Landes sind. Die Verschiedenheit der Sprache und der Dialekte, [] die Verschiedenheit der Sitten und der Bildung in den getrennten Ständen,[] solche heterogene [] Elementevermag [] in den modernen Staaten Geist und Kunst der Staatsorganisationen zu überwältigen und zusammenzuhalten,

[].

Daß in der Religion, in demjenigen, worin sich das innerste Seyn der Menschen ausspricht, und [] über die Ungleichheit Wandelbarkeit der übrigen Verhältnisse und Zustände Zutrauen zu einander zu haben und einer des andern sicher zu seyn, daß hierin wenigstens Identität sey, ist ebenfalls in neuern Staaten entbehrlich erfunden worden.

So wenig vorher und nachher bey der Absonderung in Völker die Gleichheit der Religionen die Kriege hinderte, und sie in Einen Staat band, so wenig reist in unsern Zeiten die Ungleichheit der Religion einen Staat auseinander. Die Staatsgewalt hat als reines Staatsrecht sich von der religiösen Gewalt und ihrem Rechte zu sondern, und für sich Bestand genug zu erhalten und sich so einzurichten gewußt, daß er der Kirche nicht bedarf und sie wieder in den Zustand der Trennung von sich gesetzt, den sie in ihrem Ursprunge von dem römischen Staate hatte.

Nach den Staatstheorieen freylich, welche in unsern Zeiten theils von seynwollenden Philosophen und Menschheitrechtelehrern aufgestellt, theils in ungeheuern politischen Experimenten realisirt worden sind, wird – nur das allerwichtigste, Sprache, Bildung, Sitten und Religion ausgenommen, – das übrige alles was wir von dem nothwendigen Begriff der Staatsgewalt ausgeschlossen haben der unmittelbaren Thätigkeit der höchsten Staatsgewalt unterworfen, und [zwar so,] daß es von ihr bestimmt, daß alle diese Seiten bis auf ihre kleinsten Fäden hinaus von ihr angezogen werden.

Daß die höchste Staatsgewalt die oberste Aufsicht über die angeführten Seiten der innern Verhältnisse eines Volks und ihrer nach Zufall und alter Willkühr bestimmten Organisationen tragen müsse, daß sie die Hauptthätigkeit des Staats nicht hindern dürfen, sondern diese vor allen Dingen sich sichern, und zu diesem Zweckke die untergeordneten Systeme von Rechten und Privilegien nicht zu schonen habe, versteht sich von selbst; aber es ist ein grosser Vorzug der alten Staaten Europa’s, daß indem die Staatsgewalt für ihre Bedürfnisse und ihren Gang gesichert ist, sie der eignen Thätigkeit der Staatsbürger im Einzelnen der Rechtspflege, der Verwaltung u.s.w. einen freyen Spielraum läßt, theils in Rücksicht auf die Besetzung der hierinn nöthigen Beamten, theils auf die Besorgung der lauffenden Geschäffte, und Handhabung der Gesetze und Gewohnheiten; es ist bey der Größe der itzigen Staaten die Realität des Ideals, nach welchem jeder freye Mann an der Berathschlagung und Bestimmung über die allgemeinen Staatsangelegenheiten, Antheil haben soll, durchaus unmöglich; die Staatsgewalt muß sich sowohl für die Ausführung, als Regierung, als auch für das Beschliessen darüber in einen Mittelpunkt concentriren; wenn dieser Mittelpunkt für sich selbst durch die Ehrfurcht der Völker sicher und in der Person des nach einem Naturgesetz und [durch] die Geburt bestimmten Monarchen in seiner Unwandelbarkeit geheiligt ist, so kan eine Staatsgewalt ohne Furcht und Eifersucht den untergeordneten Systemen und Körpern frey einen grossen Theil der Verhältnisse, die in der Gesellschafft entstehen, und ihre Erhaltung nach den Gesetzen überlassen; und jeder Stand, Stadt, Dorf Gemeine u.s.w. kann der Freyheit geniessen, dasjenige, was in ihrem Bezirke liegt, selbst zu thun und auszuführen.

In den neuen zum theil ausgeführten Theorieen aber ist es das Grundvorurtheil, daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mittheilt; von der obersten Staatsgewalt sollen alle Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschafft mit sich bringt, ausgehen, regulirt, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden.

Die pedantische Sucht, alles Detail zu bestimmen, die unfreye Eifersucht, auf eigenes Anordnen und Verwalten eines Standes, Korporation u.s.w. diese unedle Mäckeley alles eigenen Thuns der Staatsbürger, das nicht auf die Staatsgewalt, sondern nur irgend eine allgemeine Beziehung hätte, ist in das Gewand von Vernunftgrundsätzen gekleidet worden, nach welchen kein Heller des gemeinen Aufwands, der in einem Lande von 20, 30 Millionen für Arme gemacht wird, [ausgegeben werden darf,] ohne [daß er] von der höchsten Regierung erst nicht [nur] erlaubt, sondern befohlen, kontrollirt, besichtigt worden wäre; in der Sorge für die Erziehung soll die Ernennung jedes Dorfschulmeisters, die Ausgabe jedes Pfennigs für eine Fensterscheibe der Dorfschule, – so wie der Dorfrathsstube, die Ernennung jedes Thorschreibers, und Gerichtsschergen, jedes Dorfrichters – ein unmittelbarer Ausfluß und Wirkung der obersten Regierung seyn, im ganzen Staate jeder Bissen vom Boden der ihn erzeugt, zum Munde in einer Linie geführt werden, welche durch Staat und Gesetz und Regierung, untersucht, berechnet, berichtigt und befohlen ist.

Es ist hier der Ort nicht, weitlaüffig auseinanderzusetzen, daß der Mittelpunkt als Staatsgewalt, die Regierung, was ihr nicht für ihre Bestimmung, die Gewalt zu organisiren und zu erhalten, welche für ihre aüssere und innre Sicherheit nothwendig ist, nothwendig ist, der Freyheit der Bürger überlassen und daß ihr nichts so heilig seyn müsse, als das freye Thun der Bürger in solchen Dingen gewähren zu lassen und zu schützen, ohne alle Rücksicht auf Nutzen, denn diese Freyheit ist an sich selbst heilig; [].

[Hegel führt diesen Gedanken im Folgenden weiter aus und betont, dass im Hinblick auf den Nutzen, eine lokale Autonomie einen finanziellen Nachteil für die Zentralmacht erzeugen würde, weil sie sie ihrer Einkünfte berauben und in die Kohärenz eingreifen würde, während andererseits die Gemeinde einen Zuwachs an Zufriedenheit und Vitalität erfahren würde. Er widerlegt die ersten beiden Argumente mit dem Kommentar, dass die Zentralmacht sowohl Ausgaben als auch Einnahmen hätte, und das zweite mit der Meinung, dass Reglementierung nicht nur die Initiative begräbt, sonder auch die Moral untergräbt. Danach resümiert er:]

Der Unterschied ist unendlich, ob die Staatsgewalt sich so einrichtet, daß alles, worauf sie zählen kann, in ihren Händen ist, und daß sie aber eben deßwegen auch auf nichts weiter zählen kann, oder ob sie ausser dem, was in ihren Händen ist, auch [auf] die freye Anhänglichkeit, das Selbstgefühl, und das eigne Bestreben des Volks zählen kann, einen allmächtigen unüberwindlichen Geist, den jene Hierarchie verjagt hat, und der allein da sein Leben hat, wo die oberste Staatsgewalt so viel als möglich der eignen Besorgung der Bürger läßt. Wie in einem solchen modernen Staat, worin alles von oben herunter geregelt ist, nichts, was eine allgemeine Seite hat, der Verwaltung und Ausführung der Theile des Volks, die dabey interessirt sind, anheimgestellt ist, – wie sich die französische Republik gemacht hat, [sich] ein ledernes, geistloses Leben erzeugen wird, ist, wenn dieser Ton der Pedanterey des Herrschens bleiben kann, in der Zukunft erst zu erfahren, aber welches Leben und welche Dürre in einem andern ebenso geregelten Staate herrscht, im preussischen, das fällt jedem auf, der das erste Dorf desselben betritt, oder seinen völligen Mangel an wissenschafftlichem und künstlerischem Genie sieht oder seine Stärke nicht nach der ephemerischen Energie betrachtet, zu der ein einzelnes Genie ihn für eine Zeit hinaufzuzwingen gewußt hat.

Wir unterscheiden also nicht nur in einem Staate das nothwendige, was in der Hand der Staatsgewalt liegen und unmittelbar durch sie bestimmt werden muß, und das zwar in der gesellschafftlichen Verbindung eines Volks schlechthin nothwendige, aber für die Staatsgewalt als solche zufällige, sondern halten das Volk auch sowohl für glücklich, dem der Staat in dem untergeordnetern allgemeinen Thun viel freye Hand läßt, als auch eine Staatsgewalt für unendlich stark, die durch den freyern und unpedantisirten Geist ihres Volks unterstützt werden kann. []

Es ist aber sichtbar, daß durch den zehenjährigen Kampf [als Folge der Französischen Revolution], und das Elend eines grossen Theils von Europa, soviel wenigstens an Begriffen gelernt worden ist, um gegen ein blindes Geschrey der Freyheit unzugänglicher zu werden. In diesem blutigen Spiel ist die Wolke der Freyheit zerflossen, []; das Freyheitsgeschrey wird keine Wirkung thun; die Anarchie hat sich von der Freyheit geschieden, und daß eine feste Regierung nothwendig zur Freyheit hat sich tief eingegraben; ebenso tief aber, daß zu Gesetzen, und zu den wichtigsten Angelegenheiten eines Staats das Volk mitwirken muß, die Garantie daß die Regierung nach den Gesetzen verfährt, und die Mitwirkung des allgemeinen Willens zu den wichtigsten das Allgemeine betreffenden Angelegenheiten hat das Volk in der Organisation von einem es representirenden Körper, [].

Ohne einen solchen representirenden Körper ist keine Freyheit mehr denkbar, alle andern Unbestimmtheiten, alle Leerheit des FreiheitsGeschreys ist durch diese Bestimmung verschwunden; [] sondern diese Bestimmung ist Grundsatz der öffentlichen Meinung, er ist ein Theil des gesunden Menschenverstandes geworden. Die meisten deutschen Staaten haben eine solche Representation, [].

Das Interesse dieser deutschen Freyheit sucht natürlicher bei einem Staate Schutz, der selbst auf diesem System der Freyheit beruht. [] Kein Krieg Preussens kan mehr der öffentlichen Meinung für einen deutschen Freyheitskrieg gelten; das wahre Bleibende, in dieser Zeit aufs höchste geschärffte Interesse kan keinen Schutz bei ihm finden.

Das Princip des ursprünglichen deutschen Staats, welches von Deutschland aus auf ganz Europa verbreitet worden ist, war das Princip der Monarchie, eine Staatsmacht unter einem Oberhaupt zur Führung der allgemeinen Angelegenheiten und mit Mitwirkung des Volks, durch seine Abgeordnete, die Form hievon ist selbst an dem was Reichstag heißt, übrig geblieben, aber die Sache ist verschwunden; in dem langen Schwanken Europas zwischen Barbarey und Kultur, in diesem Übergang hat der deutsche Staat diesen Übergang nicht vollbracht, [], der Staat hat sich aufgelöst, die Deutschen haben das Mittel zwischen Unterdrükkung und Despotismus – dem, was [sie] Universalmonarchie hiessen, – und der völligen Auflösung nicht zu finden gewußt. []

Wenn alle Theile dadurch gewinnen würden, daß Deutschland zu einem Staat würde, so ist eine solche Begebenheit und wenn sie auch der allgemeinen Bildung gemäß und das Bedürfniß derselben tief und bestimmt gefühlt würde, nie die Frucht der Überlegung gewesen, sondern der Gewalt. Der gemeine Hauffen des deutschen Volks, nebst ihren Landständen, die von gar nicht anderm als von Trennung der deutschen Völkerschafften wissen, und denen die Vereinigung derselben etwas ganz fremdes ist, müßte durch die Gewalt eines Eroberers in Eine Masse versammelt sie müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten.

Dieser Theseus müßte Großmuth haben, dem Volke, das er aus zerstreuten Völkchen geschaffen hätte, einen Antheil an dem was alle betrifft einraümen []

Quelle: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schriften und Entwürfe (1799–1808), Hrsg. Manfred Baum und Kurt Rainer Meist. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1998, S. 58–66, 149–57, 161–78.