Quelle
Jugendleben und Wanderbilder
Johanna Schopenhauer
[…]
[Unterricht in der Schule, beim Privatlehrer und beim Nachbarn]
[Im Nachbarhause wohnte der Prediger der englischen Kolonie Danzigs, Dr. Jameson.]
[…]
Als ich heranwuchs, wurde Jameson mein Lehrer, mein Führer, mein Berather, und blieb mir zur Seite, und wachte über meine junge Seele, und ließ nicht von mir, bis die Zeit herangekommen war, in welcher ein Anderer die Verpflichtung, für mich Sorge zu tragen, mit meiner Hand am Altare übernahm […]
Kaum hatte ich das dritte Jahr meines Lebens zurückgelegt, als ich schon täglich zweimal, Vormittags und Nachmittags, in eine kaum zweihundert Schritt von meinem elterlichen Hause entfernte Schule auf ein Paar Stunden geschickt wurde.
[…]
Stillsitzen lernen war Alles, was fürs erste von mir gefordert wurde; anfangs protestirte ich sehr laut gegen diese Zumuthung, doch Niemand kehrte sich daran. Ich mußte den saueren Weg zur Schule gehen, und ging schon am zweiten Tage ihn gern, denn außer mir waren noch zwanzig Kinder aus der Nachbarschaft, Knaben und Mädchen, zu dem nämlichen Zweck dort versammelt, von dem ich aber nicht rühmen kann, daß er dadurch sonderlich gefördert worden wäre […]
Fast sechs Jahre war ich alt, hatte von Anfang bis Ende Weissens damals Epoche machendes A, b, c-Buch durchstudirt, diesen ersten erfreulichen Verkündiger der unabsehbaren Reihe von Kinderbüchern, die bis auf den heutigen Tag ihm gefolgt sind, und noch folgen werden; ich hatte die schönen bunten Bilderchen in demselben nachgemalt, so gut es gehen wollte, und war folglich der Schule völlig entwachsen, die ich bis dahin besucht hatte.
[…]
Damit denn doch etwas geschähe, wurde einstweilen ein Sprachmeister für mich angenommen, der beste in der Stadt, denn er war der einzige; ein alter, stumpfer Franzose, der seine Muttersprache halb vergessen und keine andere gelernt hatte. Der Unterricht währte nur einige Monate, mein Vater wurde bald gewahr, daß ich bei dem guten Alten nur retrograde Fortschritte machen könne, und beschränkte sich einstweilen darauf, so viel möglich französisch mit mir zu sprechen, um nur das Wenige, das ich spielend mit aus der Schule gebracht, mich nicht ganz verlernen zu lassen.
Indessen bedurfte ich doch einer ernsteren Beschäftigung, als meine übrigens zärtlich geliebten Puppen mir gewähren konnten, obwohl ich deren Haushalt auf sehr anständigen Fuß eingerichtet hatte, und mit großem Eifer ihm vorstand; und so mußten sich meine Eltern doch entlich entschließen, dem damaligen allgemeinen Gebrauch Folge zu leisten, und unerachtet meiner großen Jugend einen von allen Seiten ihnen empfohlenen Kandidaten der Theologie mir zum Lehrer zu geben, der die Verpflichtung übernahm, jeden Morgen eine Stunde mit mir zuzubringen. Die Anordnung des Unterrichts, den er mir ertheilen sollte, blieb dabei ihm völlig überlassen. Als ich ihm vorgestellt wurde, blickte er freilich das kleine sechsjährige Ding verwundert an, das man zur Schülerin ihm aufbürden wollte, doch er hatte sein Wort gegeben; der Versuch wurde gewagt, und es ging besser damit, als wir alle Beide erwarteten.
Kandidat Kuschel, so hieß mein neuer Lehrer, war der Sohn eines nicht bemittelten, aber sehr rechtlichen Handwerkers
[…]
[Im beinahe täglichen Umgang mit Dr. Jameson] lernte ich nach und nach Englisch, fast ohne es gewahr zu werden; ich lernte es wie meine Muttersprache, für’s erste nur plaudern, dann aber auch lesen und schreiben.
Ein Mädchen und Englisch lernen! Wozu in aller Welt sollte das ihr nützen? Die Frage wurde täglich von Freunden und Verwandten wiederholt, denn die Sache war damals in Danzig etwas Unerhörtes. Ich fing am Ende an, mich meiner Kenntniß der englischen Sprache zu schämen, und schlug deshalb einige Jahre später es standhaft aus, auch Griechisch zu lernen, so sehr ich es innerlich wünschte, und so freundlich auch Jameson deshalb in mich drang.
Der Widerwille gegen den Gedanken für ein gelehrtes Frauenzimmer zu gelten, lag schon damals, wie eben noch jetzt, in meiner jungen Seele, so viel Rühmliches mir auch mein Kandidat von Madame Dacier und Frau Professorin Gottsched sagte, die obendrein meine Landsmännin war […]
An schönen Sommerabenden, wenn die Kinder zu Bette geschickt waren, mein Vater unter dem Kastanienbaum, der unsern Beischlag beschattete, sein Abendpfeifchen rauchte, meine Mutter still freundlich neben ihm saß, dann zeigte Jameson, der nie versäumte, sich ebenfalls einzufinden, mir die Sterne, soweit der beschränkte Horizont sie zu übersehen uns erlaubte.
[…]
Auch die Längen und Breiten der Lagen der verschiedenen Länder mußte ich berechnen, ich wußte auf ein Haar ihm zu sagen, wie viel um drei Nachmittags bei uns, in Paris oder Archangel die Uhr sei. Von jedem Schmetterlinge, jedem Käfer, der vorübersummte, wußte er mir etwas zu erzählen. So lernte ich immerfort; vergessen habe ich das Meiste, aber ich gewöhnte mich dabei doch auf das zu merken, was um mich her vorging, und nicht gedankenlos in die Welt hineinzustarren. […]
Der englischen Sprache war ich inzwischen ganz unvermerkt fast eben so mächtig geworden, als der mir angebornen deutschen, ich las und verstand und sprach sie mit großer Fertigkeit. Vom Spectator, den tales of the genii und den Briefen der Lady Montague ging Jameson nun mit mir zu den Poeten über, und eine Welt voll warmen entzückenden Lebens öffnete sich mir.
[…]
Römer, Griechen, Shakspeare, Homer, welchen Wirrwarr mußte das alles in einem so sehr jungen Mädchenkopfe anrichten! Gewiß war ich, obgleich Kuschel und Jameson alles dagegen thaten, in eminenter Gefahr, ein unerträglich überspanntes und verschrobenes Persönchen zu werden, so eine Art von gebildetem jungen Frauenzimmer. Doch eine neue Erscheinung bewahrte glücklicher Weise mich davor; eine Erscheinung, der ich, meine damaligen Zeitgenossen, unsere Kinder, und sogar noch theilweise unsere Enkel, unendlich viel verdanken.
Weissens Kinderfreund, der erst vor Kurzem ans Licht getreten war, dieses vortreffliche, in seiner Art noch immer unübertroffene Werk war es, das, wenn meine poetische Exaltation gar zu überschwenglich zu werden drohete, mich immer wieder in das Element zurückführte, in welches ich eigentlich noch gehörte, in die stille, freundliche Kinderwelt, die eben damals von dem schweren Joche der trübsinnigsten Pedanterie und unverständiger Härte langsam befreiet wurde, unter welchem sie bis dahin geseufzt hatte […]
[Die Gesellschaft der jungen Damen]
[…] Ich hatte das neunte Jahr erreicht, ich bedurfte anhaltender Beschäftigung und hatte noch vieles zu lernen, so trefflichen Händen ich auch anvertraut war, was weder meine Mutter, noch Jameson noch Kuschel mich lehren konnten.
[…]
Pensionsanstalten gab es damals bei uns nicht, und konnte keine geben; ja ich glaube sogar, daß man kaum einen eigentlichen Begriff von dem Wesen einer solchen Treibhausanstalt hatte. Von seinem Kinde sich trennen, um es in einem fremden Hause von Fremden erziehen zu lassen, war damals den Müttern noch ein Undenkbares; […]
Gegen den Vorschlag, eine Gouvernante anzunehmen, hatte meine sonst immer zum Nachgeben geneigte Mutter sich gleich auf eine Weise erklärt, die deutlich bezeigte, wie wenig sie Willens sei, sowohl in der Liebe als in der Leitung ihrer Kinder mit einer Fremden zu theilen: Lernen mögen sie von Andern, denn ich weiß zu wenig ihnen zu lehren, doch erziehen soll Niemand sie als ich, hatte sie meinem Vater erwiedert, was er später, wenn wir irgend eine Unart uns zu Schulden kommen ließen, ihr zuweilen vorhielt.
Und wäre sie auch andrer Meinung gewesen, eine Gouvernante finden, wie mein Vater sie wollte, wäre immer ein schwer zu erfüllender Wunsch geblieben […]
Doch der Zufall […] begünstigte […] die Wünsche meines Vaters für das Wohl seiner Kinder; plötzlich und unverhofft führte er die Erfüllung derselben ihm zu, und zwar aus einer Stadt, aus welcher man es nimmer erwartet hätte, aus Stockholm.
Eine schöne schwedische Prinzessin […]hatte gerade in jener Zeit ihre letzten Kinderschuhe ausgetreten. […] eine französische Untergouvernante, welche viele Jahre lang in der nächsten Umgebung der Prinzessin gelebt hatte, ließ von dem sehr bescheidnen Zuge ihres Herzens nach der ihr ganz unbekannten Stadt Danzig sich führen, […]
Auch war dieses fast bis zum Uebermaße geschehen; Jameson, Kuschel, der Tanzmeister und eine gute alte Frau, die im feine Wäschenähen und Stopfen mich zu unterrichten kam, nahmen bis Mittag meine Morgenstunden in Anspruch, um zwei Uhr Nachmittags wurde ich zur Mamsell Ackermann gebracht, bei der wir bis sieben Uhr verweilten, und bei meiner Zuhausekunft fand ich oft noch meinen freundlichen Jameson auf mich wartend, bei dem ich denn noch das letzte Abendstündchen vor dem Nachtessen recht vergnügt zubrachte.
Kaum hatte meine neue Lehrerin sich einige Monate mit mir beschäftigt, als ich schon anfing, zu aller Welt Erstaunen, so fertig französisch zu plaudern, als hätte ich zeitlebens nichts anderes gethan; bei meiner frühen, mit Hülfe meines Vaters fortgesetzten, wenngleich sehr unvollkommenen Bekanntschaft mit dieser Sprache war dieses aber nichts Außerordentliches, doch das bedachte Niemand. Mamsell Ackermann wurde durch mich kleinen Papagaien bald so bekannt und berühmt, daß sie in Kurzem unter den heranwachsenden Töchtern der bedeutendsten Danziger Familien die Wahl hatte. In weit weniger als Jahresfrist war die Zahl ihrer Zöglinge vollständig, deren nie mehr als zwölf anzunehmen sie meinem Vater versprochen, was sie auch immer redlich gehalten. Auch hatte sie, in der That, mit uns vollauf zu thun.
[…]
Erziehungsinstitute kannte man bei uns damals unter diesem Namen noch nicht; ein Ort, wo Kinder zum Unterricht hingeschickt wurden, hieß schlechtweg eine Schule, aber die Exgouvernante einer schwedischen Prinzessin schauderte vor dem plebejen Worte ängstlich zurück. Eine Schule! Quelle horreur! quelle platitude! Eine Societé des jeunes dames war es, die sie fünfmal in der Woche Nachmittags bei sich empfing. Sie war die gutmüthigste Seele, aber dem Unglücklichen, der sich erkühnt hätte, ihren Namen mit jenem erniedrigenden Ausdruck in Verbindung zu bringen, hätte sie weder im Leben noch im Tode verziehen.
[…]
Natürlicher Weise mußte auch unser Betragen nach diesen Umgebungen gemodelt werden; auch nicht der kleinste Verstoß gegen konvenzionellen Anstand und gesellige Sitte wurde, ohne auf der Stelle gerügt zu werden, uns durchgelassen. Ungeschicktes Auftreten, ein schwerfälliger Gang, Thürenwerfen, überhaupt unnöthiges Geräusch, zogen lange Strafpredigten nach sich, die eine sehr harte Strafe uns dünkten, weil sie die gräßlichste Langeweile uns erregten. Auch der damals beim Eintritt ins Zimmer noch üblige Knicks an der Thür durfte nicht unterlassen werden; wer ihn vergaß, mußte ihn auf der Stelle nachholen, wer in der Eile ihn nachlässig hinschleuderte, mußte ihn nochmals so lange einüben, bis es gelang, ihn graziöser auszuführen.
Leicht obenhin betrachtet, sieht das Alles zwar ungemein lächerlich aus, wird aber weniger so erscheinen, wenn man einige sechzig Jahre sich zurück zu versetzen im Stande ist; zwar heißt es: andre Zeiten, andre Sitten, doch nur die Form ändert sich, der Grund aber bleibt. Frühe Gewöhnung an das, was Anstand und gesellschaftliche Konvenienz von uns verlangen, so daß wir uns durch sie weder gefesselt noch verlegen fühlen, weder aus linkischer Blödigkeit verstummen, noch in jene zu warme Zutraulichkeit verfallen, die anfangs als köstliche Naivetät bewundert, dann als zu täppische Dreistigkeit verspottet wird, ist jetzt wie damals beim Eintritt in die frisch erblühende Rosenzeit des Frühlingslebens ein großer Gewinn. Auch in späterer Zeit kommt der ernsteren Hausfrau eine gewandte Sicherheit des Betragens im häuslichen wie im geselligen Verhältniß wohl zu Statten, und hilft ihr über ihrem eignen, wie über dem Leben der Ihrigen einen Hauch von Ruhe und Anmuth zu verbreiten, der sich empfinden, doch nicht analysiren läßt.
[…]
Schriftlich oder mündlich aus dem Französischen ins Deutsche, oder auch umgekehrt, übersetzen, Leseübungen auswendig lernen, Hersagen des Gelernten nahm die ersten Stunden in Anspruch; bis die Reihe an sie kam, ihre Lektion herzusagen, beschäftigte jede von uns sich still vor sich mit der ihr zugetheilten Aufgabe, und dieser Wechsel unsrer Arbeiten erhielt uns in stets reger Aufmerksamkeit. Aufgaben zu Hause auszuarbeiten wurden uns nie zugetheilt. Uebung im Schönschreiben, und wenn noch etwas Zeit dazu übrig war, etwas Geographie, brachten gegen fünf Uhr die Theestunde herbei, und wie durch einen Zauberspruch waren wir nun aus Schülerinnen in eine wirkliche Societé des jeunes dames umgewandelt.
Der Theetisch wurde servirt, wie es eine solche Gesellschaft erfordert. Mamsell Ackermann präsidirte dabei auf dem Sopha und ließ unter ihrer Leitung die Aeltesten von uns wechselsweise die Rolle der Wirthin übernehmen; die Uebrigen ordneten sich um den Tisch, oder standen und gingen im Zimmer umher, lachten und plauderten nach Belieben, Alles was sich ziemte war erlaubt, als wäre es wirklich eine zur geselligen Unterhaltung geladene Damengesellschaft, nur Deutsch reden war und blieb hoch verpönt.
[…]
[Was dem »in Arbeit und Ehrenstellen ergraueten Geschäftsmann und Gelehrten« seine] akademische Zeit war, ist mir, obgleich es fast lächerlich klingt, jene Societé des jeunes dames gewesen. Freilich fehlten mir damals wenigstens noch zehn Jahre an dem Alter, in welchem Eltern ihre Söhne die Universität beziehen lassen, aber mein Geschlecht läuft immer dem männlichen um zehn Jahre voraus […]
Jene Societé wird und muß in der Erinnerung mir immer werth bleiben, weil sie einen neuen, reichhaltigen Freudequell mir eröffnete; durch sie gerieth ich sowohl aus dem eng beschränkten Kreis des Familienlebens, als aus meiner zu weit ausgedehnten Ideenwelt, in den fröhlichsten geselligen Verkehr mit Mädchen meines Alters, und kam doch immer wieder aus unserm frischen jugendlichen Treiben zu allem, was von frühester Kindheit an mir lieb gewesen, mit unverkümmertem Genuß zurück […]
[Die Kaufmannstochter will Malerin werden.]
[Im Alter von 10 Jahren entstand bei Johanna der Wunsch, Malerin zu werden.]
Da erwachte […] ein tröstender Gedanke in meiner Seele, ich bedachte, daß kein Meister vom Himmel fällt, und folglich selbst Angelika [Kaufmann] ohne allen Unterricht keiner geworden wäre. Lernen will ich; was Andere können, kann mir nicht unmöglich bleiben, und eine Malerin, eine zweite Angelika will ich werden; dieser Entschluß stand mit jedem Tage fester in meinem Gemüth; auch den Weg, die Ausführung desselben möglich zu machen, glaubte ich nach vielem Nachsinnen darüber endlich gefunden zu haben.
Die Zeit nahete heran, in welcher mein Vater verabredeter Maßen mit seinen russischen Handelsfreunden in Leipzig zusammentreffen wollte, als ich mir endlich ein Herz faßte, und zu einer mir sehr gelegen scheinenden Stunde meinen Eltern meinen Wunsch entdeckte. Inniger, herzlicher als ich je etwas erbeten, zitternd, glühend, kaum fähig, meine Worte verständlich herauszubringen, beschwor ich meinen Vater, mich mit sich zu nehmen, mich von Leipzig nach Berlin zu bringen, und mich dort bei Chodowiecki, dem größten Maler, der meiner Meinung nach in der Welt, oder doch wenigstens in Deutschland existirte, förmlich in die Lehre zu geben […]
Die Art, wie diese meine Bitte aufgenommen wurde, war die erste recht bittre Erfahrung meines Lebens. Mein bei aller ihm eignen Heftigkeit dennoch gegen Unerfahrenheit und Unverstand seiner Kinder sonst so nachsichtiger Vater, – ich erkannte ihn nicht wieder!
Und noch jetzt, nach mehr als sechzig Jahren, verweile ich ungern bei der Erinnerung, wie unbarmherzig er meinen kindisch-abgeschmackten Einfall, wie er ihn nannte, verlachte
[…]
[In die Reihe der Erwachsenen geschoben]
[…]
Es war zur Dominikszeit; ich hatte im Laufe des vergangenen Monates mein dreizehntes Jahr vollendet, und fing an, mich als ein ziemlich erwachsenes Mädchen zu betrachten, obgleich ich noch nicht allen Umgang mit meinen Puppen abgebrochen hatte: meiner Schwester Lotte zu Gefallen, wie ich mir selbst und Andern weismachen wollte.
[…]
An einem recht heißen sonnigen Vormittage stand demalso auch meine Mutter auf unserm kühlen Hausflur, mit einem böhmischen Glashändler über die Rekrutirung ihrer Tischgläser in eifrigster Verhandlung. Glühend, athemlos, eilend wie ein dem Netz entflatternder Vogel flog ich die Treppe hinunter, ihr in die Arme.
Mutter, keuchte ich ängstlich, der Kandidat will mich heirathen, und klammerte mich fester an sie an; vor Schrecken ließ sie die Gläser, die sie eben in der Hand hielt, fallen. Doch faßte sie sich bald, der Glasmann wurde einstweilen verabschiedet, und zu einer gelegeneren Stunde wieder bestellt, das Töchterchen aber vorläufig in Verhör genommen. Viel kam nicht dabei heraus; was ich ihr Alles vorgeklagt mitunter auch vorgeweint haben mag, weiß ich nicht mehr, aber es bewog sie doch, den Kandidaten in dem Zimmer aufzusuchen, wo ich ihn gelassen, als ich mitten in der Lehrstunde ihm davonlief. Ich aber schlich ganz verschüchtert in die Kinderstube, die noch immer meine eigentliche Heimath, mein Asyl in allen Nöthen war.
Nicht ich, wie meine Mutter im ersten Schrecken wohl gefürchtet haben mochte, sondern mein guter Philoteknos war es, der, um es höflich auszudrücken, ein wenig die Tramontane verloren. Die herzliche Liebe, die ich ganz unverhohlen bei jeder Gelegenheit ihm bewies, die unverstellte Freude, mit der ich Alles vollbrachte, was er mir auftrug, dazu noch meine kindische Art, mich so weit als möglich aus dem Fenster hinauszubeugen, um ihm nachzusehen, wenn er ging, und wo möglich noch einen Gruß ihm nachzuwinken, alles dies zusammengenommen hatte bei seinem Mangel an Weltkenntniß und Lebenserfahrung der gute Kuschel ganz mißverstanden. Es hatte ihn verleitet, zu vergessen, daß ich mit meinen dreizehn Jahren doch noch nichts weiter sei, als ein gutgeartetes, dankbares Kind.
[…]
Von jenem Morgen, der mich in die Flucht jagte, weiß ich nur, daß der Kandidat mich umfassen und an sich ziehen wollen, er, der noch nie auch nur meine Hand berührte! Dazu hatte er gerufen: Sie werden doch noch meine liebe kleine Frau! Doch das war genug und über genug, um wie mit Sturmesflügeln die zwei hohen Treppen hinab in den Schutz meiner Mutter mich zu treiben. […]
Obendrein fühlte ich, als habe mein Lehrer ein ungeheures Verbrechen begangen, meine frühere Liebe zu ihm war verschwunden, mir grauete vor dem Gedanken, ihn wieder sehen zu müssen, und doch weinte ich vor Kummer darüber, ihn auf diese Weise verloren zu haben.
Meine Mutter wußte indessen als eine sehr verständige Frau und ohne alles Aufsehen uns Beide, den Kandidaten sowohl als mich, wieder zur Vernunft zu bringen. Kuscheln sein Unrecht und seine kaum zu entschuldigende Uebereilung begreiflich zu machen, war ihr vermuthlich nicht sehr schwer geworden; […]
Ob mein Vater von dieser tragikomischen Verirrung des guten Kuschel jemals etwas erfahren hat, weiß ich nicht, in meinem Beisein wurde ihrer nie erwähnt, was unstreitig das Vernünftigste war. Auch in seinem übrigen Verhältniß zu unserm Hause, so wie im Betragen meiner Eltern gegen ihn, wurde auch nicht die kleinste Abänderung bemerkbar, was zu seiner Beruhigung viel beizutragen schien.
Das im Grunde alberne Ereigniß war also abgethan, fiel der Vergessenheit anheim, für mich aber hatte es doch die ernste Folge, daß ich gegen den herrschenden Gebrauch wenigstens zwei Jahre früher, als sonst üblich war, zur Konfirmation gelangte. Durch den ausgezeichneten Unterricht, den das Glück mir zugewendet hatte, war mein Erlerntes meinen Jahren gewissermaßen vorangeeilt. In vieler Hinsicht blieb ich aber doch noch an Alter wie an Verstand ein recht kindisches Kind, während ich unzeitig früh in die Reihe der Erwachsenen geschoben wurde.
Meinen Eltern blieb indessen keine andere Wahl, um mich auf milde Weise von meinem Lehrer zu trennen, dessen frühere Verdienste um meine Erziehung die größte Schonung zur Pflicht machte […]
Nie und nirgend, als damals in jenen alten freien Städten, in denen die vollkommenste Gleichheit unter den Bürgern bestehen sollte, hat wohl ein an’s Lächerliche grenzender Aristokratismus tiefere Wurzeln geschlagen; bei jeder öffentlichen, besonders kirchlichen Feier, bei Trauungen, Taufen, sogar vor Gottes Altar, beim Abendmahl, trat er schreiend hervor, und gab oft Veranlassung zu höchst ärgerlichen Auftritten, besonders unter den Frauen.
Um keinen Preis hätte ich damals an der öffentlichen Konfirmation der Kinder Theil nehmen dürfen, denn diese wurde nur für den niedern Bürgerstand schicklich gefunden; [vielmehr wurde Johanna allein im Pfarrhaus konfirmiert. – Im Alter von 18 Jahren heiratete sie dann den 20 Jahre älteren Heinrich Floris Schopenhauer, einen großen Kaufmann. Ihr Sohn war der Philosoph Arthur Schopenhauer.]
Quelle: Johanna Schopenhauer, Jugendleben und Wanderbilder. Braunschwieg, 1839, Auszüge aus Bd. I, S. 9–242; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 336–59.