Kurzbeschreibung

Mit der Niederlage Österreichs 1866 und der Errichtung des Norddeutschen Bundes Anfang 1867 rückte für die Nationalliberalen der Traum eines kleindeutschen Nationalstaats in Reichweite; doch blieben viele Fragen offen. Tatsächlich hatten sich, seit die Fortschrittspartei sich im Frühherbst 1866 im Streit um die Indemnitätsvorlage gespalten hatte, Liberale, die ihre Übereinstimmung mit Bismarcks Kurs auf andere Weise zum Ausdruck bringen wollten, in Richtung Unabhängigkeit bewegt. Diese Entwicklung war verlangsamt, aber nicht gestoppt worden, als die „liberalen Nationalisten“ bei der Reichstagswahl im Februar 1867 schwach abschnitten. In ihrem Gründungsprogramm vom Juni 1867 – überwiegend verfasst von Eduard Lasker (1829–1884) und mit der bevorstehenden Reichstagswahl im Juli 1867 fest im Blick – vertritt die Nationalliberale Partei die nationale Einheit als Hauptziel. Sie betont aber auch die Miteinbeziehung Süddeutschlands, die Notwendigkeit von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, eines gestärkten Reichstags und einer ständig weiterentwickelten Verfassung. Bald darauf wurde die zentrale Rolle der Partei bei der Nationalstaatsgründung mit einem Wahlerfolg belohnt. 1874 gewann sie 155 Reichstagsmandate und etwa 30% der Stimmen. Der langfristige Niedergang, der nur teilweise das Ergebnis der Sezession von 1880 war, ließ sich in den „nationalistischen“ Wahlen von 1887 nur kurzzeitig umkehren, als die Gesamtzahl ihrer Mandate auf 99 anstieg. Doch drei Jahre später wurde die Partei von dem Schimpf, Bismarcks „Kartell“ anzugehören, in Mitleidenschaft gezogen; sie gewann nur 42 Sitze und etwa 16% der Stimmen.

Das Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei (12. Juni 1867)

  • Eduard Lasker

Quelle

Als im vorigen Jahre der alte Bund zusammenbrach und die preußische Regierung den ernsten Willen bekundete, das nationale Band zu erhalten und die deutsche Einheit auf festeren Grundlagen herzustellen, da war es uns nicht zweifelhaft, daß die liberalen Kräfte der Nation mitwirken müßten, wenn das Einigungswerk gelingen und zugleich die Freiheitsbedürfnisse des Volkes befriedigen sollte. Um dieses Zweckes willen waren wir zur Mitwirkung bereit; möglich wurde sie erst dadurch, daß die Regierung von der Verletzung des Verfassungsrechtes abließ, die von der liberalen Partei so nachdrücklich verteidigten Grundsätze anerkannte, daß sie die Indemnität nachsuchte und erhielt. Die Mitwirkung zu sichern, konnten die durch den Verfassungsstreit bedingten Gruppierungen innerhalb der Partei nicht genügen. Dem neuen Bedürfnis entsprach die Bildung der Nationalliberalen Partei zu dem Zwecke, auf den gegebenen Grundlagen die Einheit Deutschlands zu Macht und Freiheit herzustellen.

Wir verkannten niemals das Schwierige der Aufgabe, im Zusammenwirken mit einer Regierung, welche jahrelang den Verfassungskonflikt aufrecht erhalten und ohne Budgetgesetz verwaltet hatte, mit unvollkommenen konstitutionellen Waffen die freiheitliche Entwicklung zu fördern. Aber wir unterzogen uns dieser Aufgabe mit dem festen Willen, durch fortgesetzte ernste Arbeit die Schwierigkeit zu überwinden, und mit der Zuversicht, daß die Größe des Zieles die Tatkraft des Volkes stärken wird.

Denn uns beseelt und vereinigt der Gedanke, daß die nationale Einheit nicht ohne die volle Befriedigung der liberalen Ansprüche des Volkes erreicht und dauernd erhalten, und daß ohne die tatkräftige und treibende Macht der nationalen Einheit der Freiheitssinn des Volkes nicht befriedigt werden kann. Deshalb ist unser Wahlspruch: Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben Mitteln errungen werden. Es wäre ein verderblicher Irrtum, zu glauben, daß das Volk, seine Fürsprecher und Vertreter nur die Interessen der Freiheit zu wahren brauchen, die Einheit dagegen auch ohne uns durch die Regierung auf dem Wege der Kabinettspolitik werde aufgerichtet werden.

Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegenwart.

Einen monarchischen Bundesstaat mit den Bedingungen des konstitutionellen Rechtes in Einklang zu bringen, ist eine schwere, in der Geschichte bisher noch nicht vollzogene Aufgabe; die Verfassung des Norddeutschen Bundes hat sie weder vollständig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise gelöst. Aber wir betrachten das neue Werk als den ersten unentbehrlichen Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefestigten deutschen Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offenhält, muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen Umständen darf er die einheitliche Zentralgewalt in Frage stellen, oder schwächen.

Eine aus der Vermittlung der praktischen Bedürfnisse hervorgegangene Verfassung ist niemals ohne Mängel zustande gekommen, diese wuchsen mit der Zahl der widerstreitenden Interessen, doch war es stets ein Zeichen gesunder Lebenskraft, daß die bessernde Hand sofort zu wirken begann. Wir sind dem Lose menschlicher Unvollkommenheit nicht entgangen, aber die Schwierigkeiten haben uns nicht entmutigt und die Mängel uns nicht blind gemacht gegen die guten Keime. Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie ununterbrochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbeiten, die Verfassung in sich auszubauen.

Im Parlament erblickten wir die Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, solange Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht polizeilich verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die Wahlen bürokratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Am Volke liegt es jetzt, für die Reinheit der Wahlen einzutreten; angestrengten Bemühungen wird es gelingen, seine Stimme wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen, und dann wird das allgemeine Wahlrecht selbst das festeste Bollwerk der Freiheit sein, wird es die in die neue Zeit hineinragenden Trümmer des ständischen Wesens wegräumen und die zugesicherte Gleichheit vor dem Gesetz endlich zur Wahrheit machen.

Wir sind entschlossen, die Bundeskompetenz zu befestigen und über alle gemeinsamen Angelegenheiten auszudehnen. Als Ziel schwebt uns vor, daß die parlamentarischen Funktionen des Staates möglichst vollständig in den Reichstag verlegt werden. Auch der preußische Landtag soll sich nach und nach mit einer Stellung begnügen, welche in keiner Weise geeignet sei, dem Ansehen und der Wirksamkeit des Reichstages Eintrag zu tun. Dieses Ziel wollen wir auf dem verfassungsmäßigen Wege erstreben; bis es in dieser Weise erreicht ist, müssen die beiden parlamentarischen Körperschaften ihre Befugnisse wechselseitig achten und einen friedlichen Wetteifer in der Erfüllung des eigenen Berufes bekunden.

Nach dem Beispiele der preußischen Verfassung haben die entsprechenden Unvollkommenheiten in die Reichsverfassung Eingang gefunden. Auf beiden Gebieten sind nunmehr gleichzeitig und gleichmäßig die wesentlichen Reformen zu erstreben, welche die allein sichere Grundlage des öffentlichen Rechtes gewähren. Namentlich und vor allem ist das Budgetrecht zu vervollständigen, damit der Volksvertretung der volle Einfluß auf die Staatsgeschäfte zufalle. Nicht minder dringend sind Gesetze, welche eine wirksame Verantwortlichkeit für die Minister und alle Beamten herbeiführen, auf der juristischen Grundlage, daß jedermann für seine Handlungen einzustehen habe. Im Bunde ist überdies für eine vollständigere Repräsentation der verantwortlichen Träger der Regierungsgewalt zu sorgen und ihr Verhältnis zu den Regierungen der Einzelstaaten zu klären.

Durch die Ereignisse des vorigen Jahres und die begonnenen Umgestaltungen haben die Aufgaben des preußischen Staats, der Regierung wie des Volkes, sich vervielfältigt.

Der Anschluß der neuerworbenen Landesteile macht eine energisch reformierende Gesetzgebung, welche unter der Herrschaft der konservativen Partei verzögert worden ist und während des Verfassungskonflikts gänzlich geruht hat, dringend und unaufschiebbar. Der schleunigen Abhilfe warten in allen Teilen des Landes zahlreiche Mißstände, wie die Lähmung des Realkredites, die Beschränkung der Freizügigkeit, der Druck des Gewerbes und der Arbeit in den Fesseln der Gewerbeordnung. Die notwendige Verschmelzung der alten und neuen Landesteile verlangt umfassende Reformen in den organischen und anderen wichtigen Gesetzen. Auch schulden wir den neuen Provinzen, welche in Justiz und Verwaltung mancher Vorzüge sich erfreuen, den Schutz dieser Institutionen, die unmöglich durch mangelhafte altpreußische Einrichtungen ersetzt werden dürfen. Die Gleichmäßigkeit ist vielmehr zu bewirken, indem wir ihnen folgen, wo sie uns voran sind. Dem ganzen Deutschland schuldet Preußen das gute Beispiel in Gesetz und Verwaltung, soweit beide den Einzelstaaten vorbehalten sind, denn die Zukunft des gesamten Vaterlandes hängt von diesem Beispiele ab. Wir meinen deshalb, daß der Ausbau und die Revision der preußischen Verfassung nur um so eifriger zu erstreben ist. Nach wie vor verlangen wir die Ausführung der in der Verfassung verheißenen Gesetze und die Reform des Herrenhauses als Vorbedingung aller Reformen. Von diesen stehen weit voran:

Die Entfernung des ständischen Prinzips aus den Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfassungen und die Reform derselben nach den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Selbstverwaltung; die Aufhebung der gutsherrlichen Ortsobrigkeit und gutsherrlichen Polizei.

Der Aufschwung des Vaterlandes bedarf dieser sicheren und breiten Grundlagen, die wachsende Größe des Staatsgebietes vermehrt die Gefahren der bürokratischen Einwirkungen, und die in den Verfassungen anerkannten Grundsätze des modernen Rechtes sind unverträglich mit der Herrschaft des auf Bevorzugung und Privilegien beruhenden Systems in der Gemeindeverwaltung. Die Bevölkerung aber, die städtische wie die ländliche, hat in den großen und willigen Leistungen zu dem letzten Kriege das Anrecht erneuert, ihre dringendsten Wünsche endlich erfüllt zu sehen.

Unter den anderen zahlreichen Gegenständen nennen wir: den Schutz des Rechtszustandes durch unabhängige Richter; die Unabhängigkeit und Erweiterung des Rechtsweges; die Revision der Gesetze über die Kompetenzkonflikte und die Administrativjustiz; die Ausdehnung der Geschworenengerichte auf alle politischen Strafsachen unter Aufhebung des Staatsgerichtshofes; die Abschaffung der Kautionen und der Steuer für Zeitungen und Zeitschriften.

Eingedenk ihrer schweren Verantwortlichkeit und treu ihren früher ausgesprochenen Grundsätzen hat die Partei in den Tagen der Gefahr und der Entscheidung den Frieden im Innern auf den Grundlagen des verfassungsmäßigen Rechtes hergestellt, die Mittel reichlich gewährt und die Rüstungen gutgeheißen, welche die freie Wirksamkeit des preußischen Landes sichern sollten. Für die Ehre und Machtstellung des Vaterlandes werden wir ferner in gleichem Sinne handeln. Doch spornen die Lasten der chronischen Kriegsbereitschaft uns an, die neuen Zustände in Deutschland schnell zu befestigen, um bald, jedenfalls nicht später als mit dem Ende des Provisoriums, zu der so notwendigen Sparsamkeit eines wirklichen Militärfriedensetats zu gelangen. Inzwischen muß die in der Reichsverfassung zugesicherte Verkürzung der Kriegsdienstpflicht bis zum vollendeten 32. Lebensjahre schnell verwirklicht und auf jede mögliche andere Entlastung hingewirkt werden.

Wir hegen nicht die Hoffnung, den zahlreichen Bedürfnissen auf einmal abzuhelfen, aber wir werden keines derselben aus den Augen lassen und je nach der Gunst der Umstände das eine oder das andere in den Vordergrund stellen. Aber als die unerläßlichste Bedingung für das gedeihliche Zusammenwirken der Regierung und der Volksvertretung, für die Verhütung neuer Konflikte erachten wir zu allen Zeiten eine den Gesetzen entsprechende, Recht und Freiheit der einzelnen Staatskörper, wie der Gesamtheit unverbrüchlich achtende Verwaltung, Rückfällen in eine andere Praxis der Vergangenheit muß auf jede Gefahr hin rückhaltlos entgegengetreten werden. Nur mit einer gesetzestreuen Regierung können wir Hand in Hand gehen. Mit einer solchen sind wir die richtigen Wege aufzusuchen bereit.

Eine eindringliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß nicht in allen Zeiten für dieselben Aufgaben mit denselben Waffen gekämpft werden darf. Wo so bedeutungsvolle und inhaltschwere Ziele gleichzeitig zu erstreben sind, wie gegenwärtig in Deutschland und Preußen, da genügt es nicht, lediglich an hergebrachten Sätzen festzuhalten und zugunsten einer einfachen und bequemen Tradition die neuen und mannigfaltigen Bedürfnisse unbeachtet zu lassen. Es bedarf der schweren und umsichtigen Arbeit, den verschiedenartigen Ansprüchen gerecht zu werden, den Gang der Ereignisse zu überwachen und der Gelegenheit den Vorteil abzugewinnen. Die Endziele des Liberalismus sind beständige, aber seine Forderungen und Wege sind nicht abgeschlossen vom Leben und erschöpfen sich nicht in festen Formeln. Sein innerstes Wesen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu beachten und ihre Ansprüche zu befriedigen. Die Gegenwart spricht deutlich, daß in unserem Vaterlande jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf dem Gebiete der Freiheit ist oder den Antrieb hierzu in sich trägt.

Wir sind nicht gesonnen, anderen Fraktionen der liberalen Partei feindselig entgegenzutreten, denn wir fühlen uns eins mit ihnen im Dienste der Freiheit. Aber gegenüber den großen Fragen der Gegenwart und in dem verantwortlichen Bewußtsein, wieviel von der richtigen Wahl der Mittel abhängt, streben und hoffen wir, innerhalb der Partei die entwickelten Grundsätze zur Geltung zu bringen.

Quelle: National-Zeitung (Berlin), 13. Juni 1867, S. 1; aus W. Cahn, Aus Eduard Laskers Nachlaß (1902), Bd. 1, S. 158–63; und abgedruckt in Felix Salomon, Hrsg., Die deutschen Parteiprogramme, Heft 1, Vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871, Hrsg. Wilhelm Mommsen und Günther Franz, 4. Aufl, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1932, S. 155–59.