Kurzbeschreibung

Die Kriegsjahre (1914–1918) stellten die traditionellen Geschlechterrollen in allen europäischen Ländern auf den Kopf. Vor dem Krieg wuchs die Frauenbewegung in Deutschland, blieb jedoch weiterhin am Rande der Gesellschaft, und Frauenrechtlerinnen wurden oft von Konservativen und in den Medien verspottet. Nach Kriegsbeginn jedoch führte der unstillbare Bedarf an Männern an der Front dazu, dass immer mehr Frauen traditionell männliche Berufe übernahmen. Dies führte zu einer weit verbreiteten Ambivalenz – war diese Verschiebung der Geschlechterrollen subversiv oder patriotisch zu verstehen?

Dieses Gedicht über das neue Phänomen der Straßenbahnschaffnerin erschien in einer Ausgabe der Wochenzeitschrift Wachtfeuer: deutsche Kunstblätter zum Krieg, die vom Wirtschaftsverband bildender Künstler Berlin herausgegeben wurde. 1915 veröffentlichte die Zeitschrift eine Ausgabe mit dem Titel „Unseren deutschen Frauen“, auf deren Titelblatt ein Portrait Kaiserin Auguste Viktorias abgebildet war und dessen Beiträge die Opfer und Leistungen der deutschen Frauen an der Heimatfront schilderte. Dieses Gedicht schlägt jedoch einen heiteren Ton an und beschreibt die Vorteile der Beschäftigung von Frauen als Straßenbahnschaffnerinnen: Die Schaffnerin ist nicht „breit und klobig“, sondern charmant und lächelt freundlich. Und wenn sie „den Einstieg verweigert“, fühlt man sich durch ihre sanfte Stimme weniger gekränkt. Aber wenn man ihr etwas anbietet, sollte es keine Zigarette sein, sondern lieber ein kleines Bonbon. Eine solche Rhetorik, welche die Schönheit und den Charme der Frauen betont, die während des Krieges diese anstrengende Tätigkeit ausüben, spiegelt das Ideal, dass Frauen von Natur aus zart und feminin seien, selbst wenn sie „Männerarbeit“ übernehmen.

Die Straßenbahnschaffnerin (1915)

Quelle

Die Straßenbahnschaffnerin

(Ein Bild aus dem Kriegsjahr 1915.)

Mann! Steigst du heutzutage
Mal auf die Straßenbahn,
So pass’ dich hübsch manierlich
Den neuen Zeiten an!

Kein Schaffner, breit und klotzig,
Reicht dir den Fahrschein hin,
Nein, eine reizend kleine,
Famose Schaffnerin.

Die Mütze auf den Locken,
Lacht sie dich freundlich an;
Und statt des Bärenbasses
Empfängt dich ein Sopran.

Auch wem sie Zutritt weigert,
Der fühlt sich nicht verletzt,
Sanft flötend tönt's herunter:
„Ach — leider schon besetzt!“

Doch gab sie dir voll Anmut
Zu deinem Platz Geleit,
So wahre, Zeitgenosse
Die Form der Höflichkeit.

Und eilt sie an der Weiche
Dem Wagen nach im Lauf
Und schwingt sie sich zum Tritte,
So hilf ihr hübsch hinauf!

„Hier einen Tobak, Schaffner!“
Das ist nicht mehr bon-ton!
„Belieben“, mußt du sprechen,
„Frau Schaffner — ein Bonbon?“

Quelle: Wachtfeuer: Künstlerblätter zum Krieg, Nr. 58 (1915), S. 8. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.11588/diglit.30347#0586

Die Straßenbahnschaffnerin (1915)

Quelle: Wachtfeuer: deutsche Kunstblätter 1914/15, Nr. 58 (1915), S. 8. https://doi.org/10.11588/diglit.30347#0586

UB Heidelberg

Die Straßenbahnschaffnerin (1915), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-5489> [26.09.2025].