Quelle
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Hier ist die Fülle und Divergenz des Gebotenen, die als schließlichen Einheitspunkt und farbegebendes Charakteristicum nur das Amüsement bestehen lässt. Die nachbarliche Enge, in die die heterogensten Industrieproducte gerückt sind, erzeugt eine Paralyse des Wahrnehmungsvermögens, eine wahre Hypnose, in der der einzelne Eindruck nur noch die obersten Schichten des Bewusstseins streift […] : die Vorstellung, dass man sich hier amüsieren soll. Ein sehr kleinlich erscheinendes Arrangement dient dieser Reduction des Ganzen auf den Generalnenner Vergnügen in psychologisch feiner Weise: alle paar Schritte nämlich wird für eine besondere Schaustellung oder sonstige Darbietung ein kleines Eintrittsgeld erhoben. Dadurch wird die Neugier immer von neuem gespannt, jedes einzelne Vergnügen erscheint durch die dafür gemachte Aufwendung gewichtiger und betonter, das Viele, an dem man vorbeigehen muss, erregt die Vorstellung, dass hier noch vielerlei Ueberraschungen und Vergnügungen aufgespeichert bleiben, kurz die Abtönung auf das leitende Motiv: Amüsement – wird durch diese steten, nur durch ein kleines Opfer zu überwindenden Hemmungen gründlicher erreicht, als wenn eine einmalige höhere Eintrittszahlung einem alles gleichmäßig zugängig machte, dafür aber dem „Vergnügungssinn“ jene fortwährenden kleinen Reizungen versagte.
Jeder feiner empfindliche Sinn aber wird sich durch die Massenwirkung des hier Gebotenen vergewaltigt und derangiert fühlen, wie andererseits doch nicht geleugnet werden kann, dass dem Aufregungsbedürfnis überreizter ermatteter Nerven gerade diese Fülle und Buntheit vorüberhastender Eindrücke angemessen ist. Während nämlich steigende Cultur zu immer größerer Specialisierung und häufigerer Einseitigkeit der Leistungen führt, zu immer engerer Beschränkung auf das zugewiesene Gebiet – entspricht dieser Differenzierung der Production keineswegs eine ebensolche der Consumtion; sondern im Gegentheil: es scheit, als ob der moderne Mensch für die Einseitigkeit und Einförmigkeit seiner arbeitstheiligen Leistung sich nach der Seite des Aufnehmens und Genießens hin durch die wachsende Zusammendrängung heterogener Eindrücke, durch immer rascheren und bunteren Wechsel der Erregungen entschädigen wolle.
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Die Ungeduld vielfältiger Kräfte, durch die die Menschenseele ein Mikrokosmos ist und der die Differenzierung des modernen Arbeitens keine volle Entfaltung gewährt, sucht sich an der Vielseitigkeit, den Unterschiedsreizen, den zusammegedrängten Entgegengesetztheiten des Empfangens und Genießens auszuleben. Keine Erscheinung des modernen Lebens kommt diesem Bedürfnis so unbedingt entgegen, wie die großen Ausstellungen, nirgends sonst ist eine große Fülle heterogenster Eindrücke in eine äußere Einheit so zusammengebracht, dass sie der durchschnittlichen Oberflächlichkeit doch als zusammengehörig erscheinen und gerade dadurch jene lebhafte Wechselwirkung unter ihnen erzeugt wird, jene gegenseitige Contrastierung und Steigerung, die dem ganz beziehunglos Nebeneinanderliegenden versagt ist.
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An Weltausstellungen ist es ein eigenthümlicher Reiz, dass sie ein momentanes Centrum der Weltculut bilden, dass die Arbeit der ganzen Welt sich, wie in einem Bilde, in diese enge Begrenzung zusammenezogen hat. Hier umgekehrt hat sich eine einzige Stadt in die Gesammtheit der Culturleisungen verbreitert. Es fehlt kein Typus wesentlicher Producte, und so sehr das Material und die Muster dieser aus der ganzen Welt zusammengeholt sind, so haben sie doch hier die abschließende Form erhalten, jedes ist erst hier ein Ganzes geworden. So wird denn hiermit recht klar, was „Weltstadt“ bedeutet und dass Berlin, trotz allem eine ist: eine Stadt, der die ganze Welt die Stoffe ihres Arbeitens liefert und die diese zu allen wesentlichen Formen gestaltet, die irgendwo in der gegenwärtigen Culturwelt erscheinen. Vielleicht ist nach dieser Richtung hin die Berliner Ausstellung eine ganz einzige Erscheinung; vielleicht ist es noch niemals so anschaulich gemacht worden, wie sehr die Form der modernen Cultur gestattet, sie an einem Platze zu verdichten und zwar nicht, wie die Weltausstellung es thut, durch mechanisches Zusammentragen, sonder durch eigene Production, mit der die eine Stadt sich als Abbild und Auszug der gewerblichen Kräfte der Culturwelt überhaupt darbietet.
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Ich meine die durch die Ausstellungen hervorgerufene Steigerung dessen, was man die Schaufenster-Qualität der Dinge nennen könnte. Die Warenproduction unter der Herrschaft der freien Concurrenz und mit dem durchschnittlichen Uebergewichte des Angebots über die Nachfrage muss dazu führen, den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite zu geben. Wo die Concurenz in bezug auf Zweckmäßigkeit und innere Eigenschaften zu Ende ist – und oft genug schon vorher – muss man versuchen, durch den äußeren Reiz der Objecte, ja sogar durch die Art ihres Arrangements das Interesse der Käufer zu erregen. Dies ist der Punkt, an dem gerade aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth eine Wendung in das ästhetische Ideal erwächst. Das Bestreben, dem Nützlichen auch einen Reiz für das Auge zu geben, wie es den Orientalen und den Romanen ganz natürlich ist, entspringt bei uns aus dem Kampfe um den Abnehmer – das Anmuthigste aus dem Anmuthlosesten. Die Ausstellung, in der überhaupt, ihrer Betonung des Vergnügens zufolge, eine neue principelle Synthese zwischen dem äußerlichen Reiz und der sachlichen Zweckmäßigkeit der Dinge gesucht wird, stellt die äußerste Steigerung dieses ästhetisch Superadditums dar. Das banale Bestreben, die Dinge „ins rechte Licht zu setzen“, läutert sich aus dem marktschreierischen Vordrängen zu den interessantesten Versuchen, ihnen durch das Arrangement ihres Zusammenseins neue ästhetische Bedeutsamkeiten zu verleihen – wie die gemeine Reclame zur Placatkunst vorgeschritten ist.
Quelle: Georg Simmel, „Berliner Gewerbe-Ausstellung“, Die Zeit. Wiener Wochenschrift, 25. Juli 1896, S. 59–60.