Quelle
Was Sie auch sagen mögen, ich weiß es ganz genau –: die moderne Frau ist etwas, das noch nicht in dieses Jahrhundert hineingehört – für die es noch keinen Namen und – keinen Mann gibt, keine Stellung in der Gesellschaft; denn ihrem ganzen, innersten Wesen nach gehört sie in ein Zeitalter der Zukunft – kurz, sie hat sich auf jeden Fall verfrüht.
Ich meine eine ganz bestimmte Spezies, die ich auch bei Frau Marholm[1] – (und Frau Marholm ist fast der einzige moderne Mensch, der etwas davon weiß) nicht gefunden habe. Es ist weder „la détraquée“ – es ist auch nicht ganz „la grande Amoureuse“, obwohl sie der vielleicht am nächsten käme – und mit der Cérébrale hat sie eben nur die Intelligenz gemein. Es ist auch nicht das „unverbildete Mädchen aus den arbeitenden Klassen“, für die man zuweilen schwärmt – es ist – ja, der Name ist schwer zu finden – die moderne Frau – meist unverheiratet – die sich nach Stuart Mill und Bebel auch noch mit Nietzsche und Frau Marholm beschäftigt hat, die John Henry Mackays Individualismus teilt, nachdem sie eine Zeitlang in Gefahr war, zur sozialistischen Partei zu schwören – und die – eine andere „Magda“[2] – nur mit mehr Ernst und Tiefe – hinausgeht aus dem schützenden Vaterhaus, um sich die pekuniäre Unabhängigkeit zu erringen – die erste Vorbedingung zu jeder Art von Freiheit. Das, was sie von Frau Marholms so fein geschiedenen Typen noch trennt, ist ihr stark bewußtes Individualitätsgefühl und der durchaus nicht zwiespältige Zug ihrer Seele, der nach beidem verlangt, – was Stuart Mill einerseits und Frau Marholm andererseits ihr zugestehen wollen: ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf Liebe!
Sie denkt nicht, dem Manne absolut „gleich“ zu werden – aber sie will ein glücklicher – und das bedeutet auch für sie: ein freier Mensch werden und sich zugleich in ihrer Weibart immer höher entwickeln. Sie beklagt es längst nicht mehr – wie sie das als Kind vielleicht getan –, daß sie kein Mann ist; im Gegenteil, sie ist bereits zu einem wohligen Gefühl ihrer Weib-Vorzüge gekommen. Dazu das Bewußtsein ihres Selbstmenschentums – ihr Zukunftsgefühl, da sie noch etwas Seltenes, Alleinstehendes ist, das in keine der Kategorien mehr paßt, das noch ganz die Wonne des Individuums empfinden darf. Und endlich die große Sicherheit dem Manne gegenüber: sie steht ihm nicht als Verächterin oder Rächerin gegenüber, sondern mit hellen, offenen Augen und wachem Herzen. Sie ist eigentlich geboren, zu lieben mit allen Fibern ihres Wesens, mit Geist, Herz und Sinnen – mit allen Nerven – denn sie ist im edlen Sinne – wie Mantegazza sagt – viel geschlechtsbedürftiger als der Mann. Aber da der Mann, den sie brauchen könnte, noch nicht geboren ist – wenigstens hat er sich ihr nie auf irgendeine Weise verraten –, schenkt sie ihren Reichtum andern: sie betet die mütterliche Freundin an, die dem temperamentvollen Kinde zuerst einen Schimmer von Verständnis gezeigt – sie umfängt mit aller Glut erster noch unklarer Leidenschaft irgendein holdes, junges Geschöpf, das ihr dafür – halb geschmeichelt, halb verwirrt, die heiß ersehnte Freundschaft schenkt. Sie erzieht ihre Geschwister, ihr ähnlich in Temperament und Intelligenz, mit mehr als mütterlichem Stolz: sie sieht in ihnen ja die mit ihr streitende, weltüberwindende Zukunft – und endlich lebt sie in innigster Gemeinschaft mit gleichfühlenden, gleichstrebenden Genossinnen.
So ist es ihr möglich geworden, trotz der längst grausam klaren Erkenntnis: „Lieben muß ich, da ich lebe“ durch die allererste, leidenschaftliche Jugendzeit durchzukommen – ohne der Gefahr zu erliegen, in ihrem starken Liebesbedürfnis sich an irgendeinen Mann wegzugeben, der doch nie „ihr“ Mann sein kann. Aber nun sie frei und unabhängig mitten im Herzen der Weltstadt lebt – nun ihr das, was sie glühend begehrte: Leben im Verkehr mit geistig ebenbürtigen Menschen – in reichem Maße zuteil geworden – nun hat sie eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Bisher hat sie immer die Frau im allgemeinen für das konservative Element gehalten – aber nun muß sie lernen, daß der Mann in bezug auf die Frau noch viel konservativer ist, daß er in Hirn und Nerven nicht nur die Tradition seiner Großeltern, sondern seiner Urgroßeltern hat, und daß selbst die „Neuen, Freien“ von der Frau nur die Dirne und die Hausfrau im ältesten, spießbürgerlichsten Sinne kennen – und darum ein etwas – hm – verdutztes Gesicht machen, wenn sie ernsthaft mit ihnen über die Kreutzersonate reden will. Sie hat die ernüchternde Erfahrung gemacht, daß das Moderne, Zukunftsfrohe den Frauen gegenüber noch graueste Theorie ist, und daß auch die Allermodernsten in der Praxis die ärgsten Philister sind, die ihre eigenen Ideen nicht ernst nehmen.
Sie stellt freilich auch eine Forderung, die bis dahin noch nie gestellt worden: Sie läßt sich nicht mehr die Beleidigungen des Ballsaals gefallen, und sie will auch nicht als Mannweib betrachtet werden – ja, sie ist ein anspruchsvolles Geschöpf! Ein Weib will sie sein – Liebe nehmen und Liebe geben und doch nicht mehr in ehrfürchtigem Schweigen lauschen, wenn kluge Männer sprechen?! Nein, nein, für solch ein Geschöpf ist überhaupt noch keine Formel gefunden – – und doch – ich weiß es ganz genau: Alles Heil, das eine sehnsüchtig harrende Zeit von einem zukünftigen Erlöser erwartet, muß vom Weib ausgehen – dem Weib, das sich allen Männern zum Trotz – aus eigner Kraft zu einem Menschen durchgerungen!
Aber so wenig selbst der moderne Mann schon fähig ist, dies Weib zu begreifen – so wenig er es also zu seiner Gefährtin macht –, so wenig ergibt sich das moderne Weib dem Manne. Nicht aus Askese oder aus Unlust an ihm – aus einem vielmehr äußerlichen Grunde: Was alles – in unsern unpraktisch zurückgebliebenen häuslichen und ökonomischen Verhältnissen – auf sie wartet, das genügt, ihre Augen einstweilen noch offenzuhalten: hinter der großen Seligkeit die Küche und die Kinderstube (nicht als ob sie ihre Kinder einmal nicht lieben würde), aber aus dem freien Menschen wird ein Lasttier mit unglaublich raffinierten Verpflichtungen – und sie dürstet nach der Freiheit ebenso wie nach der Liebe – erst beide vereint vermögen ihr die Harmonie des freien Menschentums zu bringen. So hat sie denn die nötige Kritik, um sich nicht durch ihre jungen, heißen Sinne überrumpeln zu lassen und vielleicht nach kurzem Rausch sich und andere elend zu machen –, obwohl sie es nur zu gut weiß: Das Beste vom Leben kann nur in der innigsten Gemeinschaft zweier freier Menschen – zwischen Mann und Weib erblühen – ohne Frage, ohne Zweifel! Es begegnet ihr oft, wenn sie irgendwo davon redet, daß man ehrlicher, offener, natürlicher werden solle, daß man vor allem endlich das Weib lehre, sich bewußt als Weib zu fühlen – daß man sie dort mitleidig erstaunt, zweideutig lächelnd ansieht: „Wie unschuldig Sie sein müssen!“
So hält sie denn sich selber fest als das große Glück, nach dem sie rastlos gejagt und das sie endlich – so über Erwarten – gefunden. Sie weiß es jetzt, daß jeder, der frei werden will, es nur durch sich selber werden kann. Sie hält, was sie hat, daß niemand ihre Krone nehme: Vernunft und Kunst und Wissenschaft – des Menschen allerhöchste Kraft! Ihr Ziel ist: ein Mensch zu sein, dem nichts Menschliches fremd ist! Aber sie hofft auch auf die kommende Zeit, da aus ihrer Gemeinschaft mit einem Manne eine Ehe werden kann! – –
Anmerkungen
Quelle: Helene Stöcker, „Die moderne Frau“, Freie Bühne, Jg. 4 (1893), S. 1215–17. Online verfügbar unter: https://hdl.handle.net/2027/coo.31924069262974