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Quelle: Otto Reutter, Michel hat schon wieder mal geträumt, 1908.
Otto Reutter (1870–1931), Sänger und Verfasser humoristischer Kabarettlieder, sogenannter Couplets, hatte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der führenden Kabarettisten Deutschlands entwickelt. Seine Lieder, von denen viele als Tonaufnahmen erhalten sind, kommentierten oft die sozialen und politischen Entwicklungen der Zeit. Diese Aufnahme des Liedes „Michel hat schon wieder mal geträumt“ entstand 1908. Der Liedtext beschreibt Deutschland, personifiziert als „Michel“, eine Figur, die den deutschen Nationalcharakter als langsamen und verträumten Schüler verkörpert, „ehrlich und ungefährlich“, der in Fächern wie Kolonialisierung, Kapitalinvestitionen und Außenpolitik hinter seinen internationalen Mitschülern (anderen europäischen Nationen) zurückbleibt. Reutters Text greift die Eigenschaften auf, die „Michel“ gewöhnlich zugeschrieben wurden, nämlich die einer unschuldigen, etwas einfältigen und doch körperlich starken Figur, deren Arglosigkeit oft dazu führt, dass er von intriganten ausländischen Mächten überlistet wird. Die Figur des „deutschen Michel“ war eine Schöpfung des Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts und wurde oft verwendet, um die Anständigkeit (und schläfrige Kraft) Deutschlands im Gegensatz zur weltgewandteren und intriganten Natur von Nationen wie Frankreich oder Großbritannien zu veranschaulichen. Diese Aufnahme enthält vier der sechs Originalstrophen des Liedes, die Deutschland zu mehr Wettbewerb in der Kolonialpolitik zu drängen scheinen. Die Charakterisierung Deutschlands als zu „verschlafen”, um im imperialistischen Wettlauf mithalten zu können, war jedoch 1908 angesichts der aggressiven neuen Weltpolitik, die deutsche Reichskanzler wie Bernhard von Bülow auf Geheiß Wilhelms II. in den Jahren vor der Jahrhundertwende (1898–1900) verfolgten, längst überholt. Vielleicht macht sich Reutter hier also tatsächlich über diese nationalistische Heißblütigkeit lustig.
1.
Ich bin ein Allerwelts-Professor,
Ich kann und lehre
mancherlei,
Aus allen Ländern hab' ich Schüler,
Von
Deutschland bis zu der Türkei!
Mein Lieblingschüler, der heißt
Michel,
Ich geb‘ ihm Gratis-Unterricht,
Denn, stammt er auch
vom Deutschen Reiche,
Sehr reich ist dieser Deutsche
nicht.
Doch er ist lieb und ungefährlich –
Und ehrlich ist er
– leider viel zu ehrlich,
Nur träumt er gern den ganzen
Tag,
Da wecke ich ihn oft und sag':
„Michel hat schon wieder
mal geträumt!
Michel hat schon wieder was versäumt,
Michel
wartet mit der Arbeit bis zu letzt
Nächste Ostern wirste nicht
versetzt!“
2.
Jüngst hat ich geograph'sche Stunde,
Hab' meinen
Schülern da gesagt:
„Nennt jeder mal 'ne fremde Gegend,
Die
euch besonders gut behagt.“
Da zeigt ein Belgier nach dem Kongo
–
Und auf Marokko ein Franzos' –
Und nun ein Schüler gar aus
England,
Der ließ den Globus gar nicht los.
Erstaunt sprach
ich zum Engeländer:
„Laß ab, was willste für'ne Menge
Länder?“
Nur Michel träumt in süßer Ruh‘.
Da weckt' ich ihn
und rief ihm zu:
„Michel hat schon wieder mal geträumt!
Michel
hat schon wieder was versäumt.“
Da erwacht' er und zeigt mit dem
Finger da (kleinen Finger zeigend)
Auf so‘n kleines bisschen
Afrika.
3.
Von Kunst versteht der Michel alles,
In Religion da hat
er „gut“,
sechs Sprachen spricht er - Deutsch am
schlecht'sten,
Liest er - packt ihn 'ne Redewut.
Er schreibt
auch richt'ger als die andern,
„verdienen“ klein und „Steuern“
groß,
Nur rechnen könn' die andern besser –
Darin hat Michel
gar nichts los.
Jüngst frug ich ihn: „Wenn 5 Milliarden
Im
Jahre 70 einst Dein Eigen waren,
Wie hoch müßt' heut' die Summe
sein?“
Da schlief der Kerl beim Rechnen ein!
Michel hat schon
wieder mal geträumt!
5 Milliarden hat der Kerl
versäumt,
Endlich rechnet er und was war's End' vom Lied?
Er
hat 5 Milliarden – Defizit.
4.
Im Turnen ist er sehr geschmeidig,
Er tut oft mehr als
seine Pflicht,
Beim Bücken und beim Knieebeugen,
Den
Aufschwung nur, den kann er nicht.
Macht Michel mal 'nen groben
Fehler
erhebte er ein lautes Schrei'n,
doch wenn das
Schlimmste dann vorüber,
dann schläft er wieder langsam
ein.
In Kürze halt' ich das Examen,
Nun halten alle fest
zusammen,
Der Eine hilft dem Andern jetzt,
Nur Michel wartet
bis zuletzt.
Michel hat schon wieder mal geträumt,
Michel hat
den Anschluss jetzt versäumt,
Seht mal bloß, da sitzt der Michel
ganz allein,
Und er singt im Traum „Die Wacht am Rhein“.
Den vollständigen Liedtext finden Sie unter dem Link „Weiterführende Literatur”.
Quelle: Otto Reutter, Michel hat schon wieder mal geträumt, 1908.
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