Quelle
[…] Ich selbst, um damit zu beginnen, bekam als Neuling und Handarbeiter 20 Pfennig Lohn für die Stunde, den gewöhnlichen Anfangslohn, der aber auf Bitten, namentlich Verheirateter, bald um 1 bis 2 Pfennig erhöht zu werden pflegte. Das machte bei mir täglich mit Ausnahme des Montags und Sonnabends, wo eine Stunde weniger gearbeitet wurde, 2,13 Mark, an den beiden genannten Tagen 1,93 Mark, in der ganzen Woche genau 12,78 Mark. Davon gingen stets fast 2 Mark ab an Krankenkassenbeiträgen, Strafgeldern für Verspätungen und Arbeitsversäumnissen, so daß ich selten mehr als 11 Mark Verdienst auf die Woche herausbekam. Die übrigen Handarbeiter verdienten 12 bis 15 Mark, durchschnittlich wohl 14 Mark die Woche, Schlosser 15 bis 21, ihre Monteure 22 bis 28, Bohrer, die um Lohn arbeiteten, 15 bis 19 Mark. Dagegen kamen die Akkordarbeiter bedeutend höher: Hobler im Durchschnitt bis auf 25, Dreher von 20 bis 30, Stoßer und Bohrer von 20 bis 30, 35, einzelne gar bis 40 Mark in der Woche. Der Maschinist an der großen Dampfmaschine verdiente nach seiner eigenen Angabe bei vierzehnstündiger täglicher und regelmäßiger Sonntagsvormittagsarbeit 24 Mark die Woche. Bei den Monteuren wird ebenso wie bei einigen Meistern das Einkommen bedeutend durch sogenannte Prozente für von ihnen fertiggestellte Maschinen erhöht. Das Jahreseinkommen der letzteren sollte nach Angaben der Leute im Durchschnitt 1800 bis 2000 Mark betragen. Unter den starken Verdienern sind viele junge Leute mit einem angeblichen Mindestverdienst von 100 Mark im Monat. Ein Teil dieser Angaben kann eher noch zu niedrig als zu hoch gegriffen sein. In einigen anderen Maschinenfabriken sollte der Lohn noch höher sein, aber auch die Arbeit länger und anstrengender. Doch vermochte ich selbstverständlich die Richtigkeit dieser Angaben nicht zu prüfen.
Aus alledem geht hervor, daß von Not unter dieser Arbeiterklasse nicht die Rede sein kann. Jedenfalls ist sie eine der verhältnismäßig bestgestellten, konsumtionskräftigsten unter der gesamten sächsischen Arbeiterschaft, auch wenn man sich immer vor Augen hält, daß die angegebenen höchsten Zahlen nur für einen kleinen Prozentsatz der Arbeitsgenossen gelten, daß der Durchschnittsverdienst 80 Mark im Monat beträgt und ein Stundenlohn von 32 Pfennig schon als sehr günstig angesehen wird.
Die vielen, die, wie namentlich Handarbeiter, bedeutend weniger als diese angegebene Summe verdienten, dazu eine zahlreiche Familie, Sorgen und Schulden hatten, die aber fleißig und strebsam waren und auf sich und ihre Angehörigen hielten, suchten durch Nebenverdienst ihr Einkommen einigermaßen zu erhöhen. Sie suchten sich auf alle Weise in ihren knappen Feierabendstunden sowie am Sonntage außerhalb der Fabrik ihre bald besser bald schlechter gelohnte, bald leichte und angenehme, bald mühsame Nebenbeschäftigung.
Einen weiteren Zuschuß brachte die Arbeit der Frauen und manchmal, doch nicht zu häufig, der größeren Kinder. Es ist mir unmöglich, hierüber Genaueres zu sagen, ich vermag nur anzugeben, daß diese Frauenarbeit die allerverschiedenste war: Schneidern, Nähen für ein Geschäft, Waschen und Scheuern, Hausieren oder Handeln mit Grünzeug und anderen Waren; wohl nicht häufig ging man in Fabriken, viel mehr wurden daheim auf der Strickmaschine Strümpfe gestrickt.
Auch wurde das Halten von Schlafleuten und Mittagskostgängern, wobei ebenfalls der Frau die ganze Arbeit obliegt, als Quelle zur Erhöhung des Fabriklohnes angesehen — kaum mit vollem Rechte. Denn soviel ich beobachten konnte, kommt in Anbetracht der dadurch den Frauen auferlegten schweren Mühe und der Opfer an häuslicher Bequemlichkeit — von anderen tieferen, aber mehr ausnahmsweisen Schäden hier einmal ganz abgesehen — ein pekuniärer Vorteil selten heraus.
Wohnverhältnisse
Es ist schwer, das, was die Leute an Räumen innezuhaben pflegten, noch Familienwohnungen zu nennen. Oder kann man wirklich eine zweifenstrige Stube und ein einfenstriges, unheizbares Gelaß daneben noch so bezeichnen? Eben dies aber, und nicht mehr, bildete das Heim eines — wenn ich recht sah — sehr großen Teiles unserer Arbeiterfamilien. Darum sprach man da unten auch immer nur von Stuben. „Ich will mir eine neue Stube mieten“; „was bezahlst du für deine Stube?“ waren ganz übliche Worte.
Bedeutend besser, geräumiger, anheimelnder erschienen schon die Wohnungen, die aus einer Stube und zwei solchen Gelassen, im Volke dort fälschlich „Alkoven“ genannt, oder gar aus zwei heizbaren Stuben und einem Alkoven bestanden. Doch auch ihnen fehlte sehr oft, wie den Stuben immer, die Küche, dagegen gehörte zu allen genannten Gattungen regelmäßig noch eine sogenannte Bodenkammer, d. h. ein enger Bretterverschlag unter dem Dache, deren jeder mit einer kleinen Luke versehen war.
Die meisten, namentlich modernen, nach städtischer Art gebauten Häuser hatten von jeder der geschilderten Wohnungssparten eine Anzahl, aber in erdrückender Gleichmäßigkeit auch nichts als solche; größere Wohnungen fanden sich in solchen eigentlichen Arbeitermiethäusern gar nicht. Für die wenigen Leute am Orte, die danach verlangten, gab es besonders gebaute Häuser dazwischen und außerdem noch einige wenige Villen oder dem ähnliche Gartengebäude.
Die Preise für diese Wohnungen waren hoch im Vergleich zu ihrem Werte wie zu dem Einkommen der meisten Arbeiter, doch wohl niedriger als diejenigen für gleiche in der Stadt.
Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein anderes, schon so oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderte Wohnräume genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen. Wo sich aber eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des besseren Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und Kostgänger.
Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgängerunwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und vom Hause hält. Wenn man es aber tut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen.
Arbeitslosigkeit
Wenn ich endlich noch einige Worte über die Erfahrungen sagen darf, die ich bei der Arbeitssuche gemacht habe, so sind das kurz folgende. Tüchtigen Facharbeitern, wie Schlossern und Drehern, war es zu jener Zeit immer noch leichter möglich, Arbeit in Fabriken und kleineren Werkstätten zu erhalten, als Handarbeitern, Webern und Maschinenarbeitern. Auf der Arbeitssuche wurden wir meist schon von den Portiers der Fabriken kurz zurückgewiesen. In den wenigen Fällen, wo wir bei dem Leiter direkt anfragen konnten, wurden wir freundlich und höflich behandelt, einmal auch mit guten Ratschlägen versehen, die freilich in diesem Falle nichts nützten. Auch die Arbeitsnachweise, zu denen wir unsere Zuflucht nahmen, befriedigten unser Bedürfnis nicht. Es waren die in den Herbergen und in den Zeitungen. […] Jedenfalls kann ich nach meinen eigenen Erfahrungen es aussagen, wie unsäglich deprimierend es ist, erfolglos von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt wandern zu müssen, immer von neuem seine Kraft anbietend, mit bittenden Worten, und immer wieder erfolglos. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist, auch wenn der Hunger noch nicht mit seiner eisernen Faust an die Tür pocht, das furchtbarste Los, das einen gesunden, strebsamen, für seine Familie sorgenden Mann treffen kann, um so bitterer, je ernster, tiefer, charaktervoller er ist. […]
Betriebsordnung
[…] An erster Stelle heißt es wörtlich. „Das Recht, Arbeiter anzunehmen, steht nur der Direktion oder deren Beauftragten zu. Durch Annahme der Arbeit unterwirft sich jeder Arbeiter den Bestimmungen der Fabrikordnung, von welcher er bei seinem Antritt ein Exemplar ausgehändigt erhält, und worüber durch eigenhändige Eintragung des Namens in ein im Kontor ausliegendes Buch zu quittieren ist“. Und an letzter Stelle heißt es, ebenfalls wörtlich: „Änderungen sowie Zusätze zu derselben werden von der Direktion durch Anschlag bekanntgemacht und treten jedesmal sofort in Kraft.“
Hier prägt sich auch dem Harmlosen klipp und klar der ganze Charakter dieser wie wohl fast aller bestehenden Fabrikordnungen aus. Sie ist deutlich das Produkt der Fabrikleitung, zugeschnitten nach den allein maßgebenden Gesichtspunkten ihrer einseitigen Interessen. Sie ist eine Hausordnung, die der Eigentümer allein nach seinem Willen erläßt, und der sich jeder zu fügen hat, solange er als Glied dem Hause angehört. Es gibt für die Arbeiter gegen solche Arbeitsordnungen keinen anderen wirksamen Protest, als den des Austritts aus dem Verbande, dem sie Gesetz ist. Ihr Dasein und ihre Gültigkeit bezeichnet in allen Fällen von Bedeutung die vollkommene schweigende Abhängigkeit aller Arbeiter; sie ist der Ausdruck eines absolutistischen Systems, das gerade Gegenteil von wirtschaftlicher Freiheit, die doch das heute herrschende Gesetz im Wirtschaftsleben der Völker sein soll; sie ist eine neue und folgenschwere Ursache der Unselbständigkeit und Unreife des Charakters der heutigen Fabrikarbeiter. […]
Quelle: Paul Göhre, Drei Monate als Fabrikarbeiter und Handwerkbursche. Leipzig, 1891.; abgedruckt in Ernst Schraepler, Hrsg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, 1996, S. 47–51.