Quelle
1.
Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden, Fabrikanten und sonstigen Unternehmern und den von ihnen beschäftigten Angestellten und Arbeitern jeglicher Art ist Gegenstand freier Übereinkunft. Sie findet statt durch gewählte Vertreter der Arbeitgeber und solche der Angestellten und Arbeiter, die in gleichartiger Tätigkeit beschäftigt sind. Bereits bestehende, von Organisationen der Arbeitgeber vereinbarte Tarifverträge sind hierbei zu berücksichtigen.
2.
Die so festgesetzten Arbeitsbedingungen haben Rechtsgültigkeit für sämtliche in dem betreffenden Berufe tätigen Angestellten, Arbeiter und Arbeitgeber eines Ortes, eines Bezirkes oder des ganzen Reiches. Jedoch ist die Festsetzung von für die Arbeiter günstigeren Lohn- und Arbeitsbedingungen im Einzelfalle im besonderen Arbeitsvertrag zulässig.
3.
Zu dieser Festsetzung der Arbeitsbedingungen wählen sämtliche Arbeitgeber, welche Arbeiter einer bestimmten gleichartigen Tätigkeit beschäftigen, und die von ihnen beschäftigten Angestellten und Arbeiter in den einzelnen Orten und Bezirken aus ihrer Mitte im Januar jeden Jahres eine gleiche Zahl von Vertretern. Die Wahl findet nach dem Proportionalsystem statt. Bei Vereinbarungen, die für das ganze Reich gelten sollen, wird der zentrale Vertretungskörper durch die in den Bezirken gewählten Vertreter gebildet. Als Vertreter können auch Sekretäre, sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeiterorganisationen, welche in dem betreffenden Berufe weder als Arbeitgeber noch als Arbeiter tätig sind, gewählt werden. Die Vertreter wählen einen ersten und einen zweiten Vorsitzenden und für jeden der beiden einen Stellvertreter. Können sie sich über die Wahl des Vorsitzenden nicht einigen, so führt der Gewerberichter des Ortes oder Bezirkes bzw. sein Vertreter den Vorsitz. (Je nach der Gestaltung des Arbeitskammergesetzes könnte in diesem Falle den Arbeitskammern die Wahl des Vorsitzenden übertragen werden.) Die Aufhebung [oder] Abänderung der von den Vertretern getroffenen Vereinbarung ist an eine dreimonatige Kündigungsfrist gebunden.
4.
Können sich die Vertreter der Arbeitgeber und die der Arbeiter über die Bedingungen eines abzuschließenden Arbeitsvertrages nicht einigen oder droht aus irgendeinem anderen Anlaß eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung in einem anderen Berufe, so hat ein Einigungsamt den Streit zu entscheiden. Dieses Einigungsamt soll, sofern der Arbeitskammergesetzentwurf ein solches einführen wird, mit diesem identisch sein. Der Anrufung des Einigungsamts ist in jedem Falle Folge zu geben.
5.
Als Vertreter der streitenden Parteien vor dem Einigungsamt kann jede dem Deutschen Reich angehörige Person bestellt werden, welche das 25. Lebensjahr vollendet hat, sich im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet und nicht durch gerichtliche Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt ist. Ob die Vertreter für genügend legitimiert zu erachten sind, entscheidet das Einigungsamt nach freiem Ermessen, doch kann kein Vertreter aus dem Grunde zurückgewiesen werden, daß er dem betreffenden Gewerbe nicht selbst angehörte.
6.
Das Einigungsamt hat durch Vernehmung der Vertreter beider Teile die Streitpunkte und die für die Beurteilung derselben in Betracht kommenden Verhältnisse festzustellen. Es ist befugt, zur Aufklärung der letzteren Auskunftspersonen vorzuladen, zu vernehmen und durch die Gerichte eidlich vernehmen zu lassen. Jedem Mitglied des Einigungsamts steht das Recht zu, Fragen an die Vertreter und Auskunftspersonen zu richten.
7.
Nach erfolgter Klarstellung der Verhältnisse ist in gemeinsamer Verhandlung jedem Teile Gelegenheit zu geben, sich über das Vorbringen des anderen Teils sowie über die vorliegenden Aussagen der Auskunftspersonen zu äußern. Demnächst findet ein Einigungsversuch zwischen den streitenden Teilen statt.
8.
Kommt eine Einigung zustande, so ist der Inhalt derselben durch eine von sämtlichen Mitgliedern des Einigungsamts und von den Vertretern beider Teile zu unterzeichnende Bekanntmachung zu veröffentlichen. Die so veröffentlichte Vereinbarung und ihre Bedingungen sind für die Dauer der Vereinbarung für sämtliche in dem betreffenden Berufe tätigen Arbeiter und Arbeitgeber in Gemäßheit der Nr. 1 dieser Leitsätze rechtlich bindend. Die Aufhebung oder Abänderung einer solchen Vereinbarung ist an eine dreimonatige Kündigungsfrist gebunden.
9.
Kommt eine Einigung nicht zustande, so haben der erste und zweite Vorsitzende eine, bei Nichtübereinstimmung beider zwei Darstellungen des Streitfalles und der Ursache des Nichtgelingens der Vereinbarung zu veröffentlichen. Beiden Parteien steht es in diesem Falle frei zu versuchen, durch Arbeitseinstellung bzw. Aussperrung ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Die Heranziehung von Arbeitswilligen aus dem Auslande ist für die Dauer des Arbeitsstillstandes verboten. Das Einigungsamt ist berechtigt, nach freiem Ermessen jederzeit erneut Einigungsverhandlungen anzusetzen.
10.
Zur Haftung für die Innehaltung der gemäß Nr. 1 abgeschlossenen Arbeitsverträge wird aus Beiträgen der Arbeitgeber und der Arbeiter je ein Zweckvermögen angesammelt, und zwar so lange, bis das Zweckvermögen einer jeden der beiden Parteien 10 Mark pro Kopf der beteiligten Arbeiter beträgt. Sinkt es unter diesen Betrag, so ist die Beitragserhebung wiederaufzunehmen, bis der Fehlbetrag ersetzt ist. Das Zweckvermögen wird von Beauftragten der Parteien selbst verwaltet. Die gleichmäßige Einziehung der Beiträge ist durch Gesetz zu regeln.
11.
Entschädigungsansprüche wegen Verletzung des Arbeitsvertrags sind durch die von den Vertretern der Arbeitgeber und Arbeiter gebildeten Schlichtungsstellen zu entscheiden. Die Schlichtungsstellen und die Entschädigungssätze sind in dem gemäß Nr. 1 festgesetzten Arbeitsvertrage selbst festzulegen. Letztere dürfen ein im Gesetz festzusetzendes Höchstmaß nicht übersteigen.
12.
Alle Entschädigungen wegen Vertragsverletzung werden ausschließlich aus dem angesammelten Zweckvermögen der zur Leistung verpflichteten Partei gezahlt.
13.
Staatsaufträge und Arbeiten anderer öffentlicher Korporationen dürfen nur an Unternehmer vergeben werden, die sich den Verhandlungen und Entscheidungen der Schlichtungsstellen und Einigungsämter unterwarfen und die keinerlei Verbindung angehören, die das Verhandeln mit Arbeitervertretern verweigert.
Quelle: Leitsätze zum Tarifvertragsrecht, Historische Kommission zu Berlin, NB 610, S. 24; abgedruckt in Klaus Schönhoven, Hrsg., Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914–1919. Köln: Bund-Verlag, 1985, S. 460–62.