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Von vornherein will ich bekennen, daß ich Jude bin. Bedarf es einer Rechtfertigung, wenn ich in anderem Sinne schreibe als dem der Judenverteidigung? Viele meiner Stammesgenossen kennen sich nur als Deutsche, nicht als Juden. Einzelne, zumal solche, die, durch Beruf und Neigung veranlaßt, weniger mit ihresgleichen als mit Stammesdeutschen zu schaffen haben, von denen sie sich auch äußerlich nicht mehr allzusehr unterscheiden mögen, sind ehrlich genug, den Fahnen ihrer philosemitischen Beschützer nicht länger zu folgen. Ihnen schließe ich mich an.
Die Philosemiten pflegen zu verkünden: „Es gibt keine Judenfrage. Wenn die Juden ihr Land schädigen, so geschieht es durch unzulässige Handlungen einzelner. Hiergegen schaffe man Gesetze oder verschärfe die bestehenden.“ Sie haben nicht unrecht. Die Beantwortung der wirtschaftlichen Frage ist Sache der Gesetzgebung. Aber von der wirtschaftlichen Frage will ich nicht sprechen.
Drohender erhebt sich die gesellschaftliche, die Kulturfrage. Wer ihre Sprache vernehmen will, mag an Berliner Sonntagen mittags um zwölf durch die Tiergartenstraße gehen oder abends in den Vorraum eines Theaters blicken. Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde. Die gezwungene Heiterkeit dieser Menschen verrät nicht, wieviel alter, ungesättigter Haß auf ihren Schultern lastet. Sie ahnen nicht, daß nur ein Zeitalter, das alle natürlichen Gewalten gefesselt hält, sie vor dem zu beschützen vermag, was ihre Väter erlitten haben. In engem Zusammenhang unter sich, in strenger Abgeschlossenheit nach außen – : so leben sie in einem halb freiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe.
Es frommt nicht, zu forschen, wie das geschah und auf welcher Seite die Schuld liegt. Das Leben fragt nach dem, was ist; und die Geschichte gibt dem Unterliegenden Unrecht.
Es besteht die unbestreitbare Wahrheit, daß die besten Deutschen einen tiefen Widerwillen gegen jüdisches Wesen und Treiben hegen, die am meisten, die nicht viel Worte davon machen und etliche Ausnahmen – gleichsam als seltsame Naturspiele – zugeben. Und wenn die Juden über Breite und Tiefe der Strömung sich zu täuschen trachten – ein beklommenes Gefühl der Einengung und Verlassenheit werden sie nicht los. Der alte Herrlichkeitgedanke ist verrauscht und sehnsüchtiger, als sie es gestehen, blicken sie aus nach Versöhnung. Aber das Meer der Abgeschlossenheit will sich vor keinem Zauberspruch zerteilen.
Ich wiederhole: Mit der wirtschaftlichen Frage, dem eigentlichen Gebiet des sogenannten Antisemitismus, will ich mich hier nicht befassen. Noch lange, fürchte ich, werden die unteren Klassen des Judentumes auf das Gewerbe des Handels angewiesen sein. Es ist natürlich und berechtigt, daß, wie jede einseitige Bestrebung, so auch der Handel und vornehmlich seine typischsten Mitgänger eine Gegenkraft und Opposition erwecken. Dieser Vorgang hat eine mehr merkantile als kulturelle Bedeutung. Den Kern der gesellschaftlichen Frage sehe ich aber nicht im wirtschaftlichen Interesse einzelner, wenn auch ausgedehnter Kreise, sondern in der fast leidenschaftlichen Abneigung der uninteressierten Mehrheit. Und diese gesellschaftliche Frage droht in allen Ecken des Reiches. Sie schwirrt durch die Schulstuben und Kollegiensäle; sie läuft durch die Straßen und mustert die Ladenschilder; sie rumort in den Geschäftsräumen und Werkstätten; sie steigt die Vordertreppen der Häuser vorsichtig hinauf und kichert die Hintertreppen hinab; sie nistet in den Polstern der Eisenbahncoupés und präsidiert an den Wirtstafeln; sie spreizt sich auf den Kasernenhöfen und klopft an die Türen der Gerichtssäle.
Wer sucht ihr heute ernstlich die Antwort? Dem Stammesdeutschen ist die Frage so zuwider wie ihr Gegenstand. Er ist zufrieden, wenn das schwärzliche Volk ihm vom Leibe bleibt. Um ihre Zukunft sich zu kümmern, hat er keine Veranlassung. Gelingt die Assimilation doch kaum mit Polen und Dänen. Und was tut Israel, um vom Banne befreit zu werden? Weniger als nichts. Für auserwählter als andere Leute haltet ihr euch freilich nicht mehr – kaum noch für schlauer. Aber mit dem, was an euch bleibt, deucht ihr euch über alle Kritik erhaben. Meint ihr, der alte Stammesgott werde seinen König Messias senden, um euch zu helfen? Ach, es ist euch nicht aufgefallen, daß er seit ein paar tausend Jahren sich mit euch nichts mehr zu schaffen gemacht hat! Der Herr des Zornes und des Sieges hatte an einem Volke von Kriegern Gefallen; für ein Volk von Krämern und Maklern interessiert er sich nicht. Der auf Horeb und Zion thronte, zieht nicht nach der Rosenthalerstraße noch nach der Heidereutergasse. Ihr sprachet, ihr Schlauen und Weltgewandten: „Wer den Reichtum besitzt, der hat die Macht.“ Nun habt ihr den Reichtum – und eure Reichen sind weniger geachtet als eure Armen. Eure Redekunst war eitel und eure Agitation umsonst. Vereine habt ihr gegründet – zur Abwehr, anstatt zur Einkehr. Den Besten unter euch habt ihr das Leben zuwider gemacht, so daß sie euch den Rücken kehrten, und als sie abtrünnig wurden, habt ihr nichts vermocht, als sie zu verwünschen; daher kommt es, daß es ihnen gut geht. Schreiet nicht nach Staat und Regierung. Der Staat hat euch zu Bürgern gemacht, um euch zu Deutschen zu erziehen. Ihr seid Fremde geblieben und verlangt, er solle nun die volle Gleichberechtigung aussprechen? Ihr redet von erfüllten Pflichten: Kriegsdienst und Steuern. Aber hier war mehr zu erfüllen als Pflichten: nämlich Vertrauen. Man redet viel vom Rechte des Schwächeren; dies Recht besteht, aber es läßt sich nicht ertrotzen. Keinen Stein wird man euch wegräumen und keinen Schritt ersparen. Wollt ihr aber, in eure Stadtviertel verschanzt, weiter mit falschen Märtyrerkronen stolzieren – nur zu, man wird euch nicht wehren.
Doch ich weiß: es sind einzelne unter euch, die es schmerzt und beschämt, Fremde und Halbbürger im Lande zu sein, und die sich aus der Ghettoschwüle in deutsche Waldes- und Höhenluft sehnen. Zu ihnen allein spreche ich. Mögen die anderen, so viele oder wenige mich hören, ihres tausendjährigen Rechtes gedenken, zu verfolgen und zu verhöhnen, die ihnen helfen wollen. Ihr aber, ihr Minderzähligen, habt die schwere Aufgabe, die Abneigung eurer Landesgenossen zu versöhnen, ihr, die ihr doch – verzeiht mir! – so wenig geschaffen seid, euch Freunde zu machen. Dennoch wird es gelingen; und die Enkel der Indifferenten von heute werden euch folgen.
Ihr fragt, ob ich euch etwa zum Christentum zu bekehren denke?
Gewiß nicht.
„Zu dem Prediger in der Wüsten,
Wie wir lesen im Evangelisten,
Kamen auch die Soldaten gelaufen,
Taten Buße und ließen sich taufen.“
Als ich jüngst ein Verzeichnis der Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu Berlin in die Hände bekam, machte es mir Freude, die altbekannten Namen zu durchblättern. Ja, die Freunde leben noch; die ganze altgläubige Zoologie, Mineralogie und Botanik ist vollzählig. Aber von der jüngeren Generation fand ich keinen Bekannten. Alle sind sie – nicht als Soldaten, sondern vorher – getauft worden und mögen jetzt samt und sonders Regierungsbeamte und Lieutenants sein.
Warum auch nicht? Zwischen dem Deismus eines liberalen evangelischen Geistlichen und dem eines aufgeklärten Rabbiners besteht kein Unterschied. Die christliche Sittenlehre ist dem gebildeten Judentum heute so selbstverständlich, daß man sich einredet, sie lasse sich aus dem Alten Testament abstrahieren. Eine Religion- und Gewissenssache ist also der Übertritt in den meisten Fällen nicht mehr. Bei den ältesten und reichsten Familien jüdischer Abstammung ist er teilweise schon vor Jahrzehnten erfolgt. Oft erinnert an den Glauben der Väter nur noch ein gewisser ironischer Atavismus des Äußeren, eine Malice Abrahams.
Aber ein Ende der Judenfrage ist die Taufe nicht. Wenn auch der einzelne durch die Lossagung sich bessere Existenzbedingungen schaffen kann: die Gesamtheit kann es nicht. Denn würde die Hälfte von ganz Israel bekehrt, so könnte nichts anderes entstehen als ein leidenschaftlicher „Antisemitismus gegen Getaufte“, der durch Schnüffeleien und Verdächtigungen auf der einen, durch Renegatenhaß und Verlogenheit auf der anderen Seite ungesunder und unsittlicher wirken würde als die heutige Bewegung. Die zurückgebliebene Hälfte aber, ihrer Spitzen beraubt, würde zu einer bildungunfähigen Masse zusammenschrumpfen. Es würde bei dieser Art der Aussonderung viel gutes Metall, vielleicht das beste, in die Schlacke gehen, denn gerade die Feinfühligsten entschließen sich zu einem ideellen Schritt am schwersten, solange ein materieller Vorteil häufig untrennbar damit verknüpft ist.
Was also muß geschehen? Ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang: die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen. Anpassung nicht im Sinne der „mimicry“ Darwins, welche die Kunst einiger Insekten bedeutet, sich die Farbe ihrer Umgebung anzugewöhnen, sondern eine Anartung in dem Sinne, daß Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, daß sie den Landesgenossen verhaßt sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden. Könnte zugleich durch diese Metamorphose die Gesamtbilanz der moralischen Werte verbessert werden, so wäre das ein erfreulicher Erfolg. Das Ziel des Prozesses sollen nicht imitierte Germanen, sondern deutsch geartete und erzogene Juden sein. Und zwar wird sich zunächst ein Zwischenstand bilden müssen, der, von beiden Seiten anerkannt, ein Trennung- und Verbindungsglied zwischen Deutschtum und Stockjudentum vorstellt: ein jüdisches Patriziertum – nicht des Besitzes – sondern der geistigen und körperlichen Kultur. Dieser Stand wird durch seine Wurzeln von unten herauf immer neue Nahrung aufsaugen und mit der Zeit alles verarbeiten, was an umwandlungsfähigem und verdaulichem Material vorhanden ist.
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Quelle: Walther Rathenau, „Höre Israel!“, in Die Zukunft 5 (1897), S. 454–62. Online verfügbar unter https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb11821304?page=464%2C465