Kurzbeschreibung

Das 1906 gegründete American Jewish Committee (AJC) ist eine der führenden jüdischen Interessenvertretungsorganisationen in den Vereinigten Staaten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzte sich die Organisation bei der US-Regierung für die jüdische Bevölkerung der USA ein und befasste sich mit einer Reihe von Themen wie Einwanderung und Bürgerrechte. Nach dem Aufstieg Adolf Hitlers und der NSDAP in Deutschland interessierte sich das AJC sehr für die Behandlung der Juden im Ausland, insbesondere in Mitteleuropa. Die Organisation setzte sich für deutsche und andere europäische Juden ein, die versuchten, vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu fliehen.

Dieser Bericht des AJC zeigt, wie aufmerksam die amerikanischen Juden die zunehmende Intensität der Verfolgung der deutschen Juden verfolgten. Beginnend im Jahr 1935, vor der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, bis Juni 1937, fast ein Jahr vor dem staatlich sanktionierten Pogrom vom 9. November 1938 (auch bekannt als Kristallnacht), zeigen die Berichte einen anfänglichen Optimismus über kleine Widerstandshandlungen, der sich mit der Zeit in eine wachsende Skepsis darüber verwandelt, dass Hitler und seine Regierung ihre antisemitische Politik einschränken würden. Mit jedem weiteren Bericht weiteten sich die antisemitischen Angriffe aus und vertieften sich: Der Rassismus der Nazis reichte von der Boulevardpresse bis hin zur Erziehung der Kinder. Die Juden in Deutschland waren in den meisten Lebensbereichen Diskriminierungen ausgesetzt. Nur wenige fanden Schutz im deutschen Rechtssystem, und als die Auswanderung zusehends als einziger Ausweg erschien, erwies sie sich als ein schwer zu beschreitender Weg. Dies waren die Realitäten des jüdischen Lebens in NS-Deutschland – und sie werden hier nicht aus Mitteleuropa, sondern von der anderen Seite des Atlantiks berichtet.

Das American Jewish Committee bewertet die Situation der Juden in Deutschland (1. März 1935 und 1. Juni 1937)

Quelle

DAS AMERIKANISCH-JÜDISCHE KOMITEE
171 Madison Ave.
New York
1. März 1935

NICHT ZUR VERÖFFENTLICHUNG

Die Situation der Juden in Deutschland

I. RECHTLICHER STATUS

Obwohl der Tiefpunkt der brutalen Diskriminierung der Juden in Nazi-Deutschland erreicht ist, reißen die Gerüchte nicht ab, dass die radikaleren Mitglieder der nationalsozialistischen Partei auf die Entrechtung der Nicht-Arier drängen, indem sie diese zwingen, einen formalen Rechtsstatus zweiter Klasse zu akzeptieren. Diese Frage ist jedoch unter dem gegenwärtigen Regime von geringer Bedeutung, da die Juden in Deutschland de facto bereits eine Stellung zweiter Klasse haben.

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III. ANTIJÜDISCHE PROPAGANDA

Die Pressekampagne wird weiterhin von den größeren Nazizeitungen angeführt, die mit großem Nachdruck die „Protokolle der Weisen von Zion“ als Beweis für eine internationale jüdische Verschwörung anführen. Diese Zeitungen scheinen durch die wachsende Unabhängigkeit und das wachsende Vertrauen solcher „liberalen“ Zeitschriften wie der Frankfurter Zeitung, die mit eher milden Worten versuchen, die Propaganda durch ein Bemühen um Unparteilichkeit auszugleichen, zu Aktivitäten angeregt worden zu sein. Als zum Beispiel vor einigen Wochen eine Versammlung von Nazi-Ärzten in Nürnberg nach einer Rede von Herrn Streicher einstimmig eine Resolution verabschiedete, welche die Todesstrafe für jeden Juden forderte, der sexuelle Beziehungen zu arischen Frauen unterhält, wagte die Frankfurter Zeitung einen sehr vorsichtigen Protest. Sie wurde sofort von Goebbels Angriff und anderen Nazi-Zeitschriften angegriffen. Trotzdem kam der erste Protest gegen Streichers rabiate Politik am 14. Februar von Gesundheitsbeamten und der Deutschen Ärztekammer. Der Protest bestand aus einem Brief an Reichskanzler Hitler, unterzeichnet vom Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes und den Landesgesundheitsbeauftragten von Bayern, Baden, Sachsen, Thüringen und Württemberg, gefolgt von einer öffentlichen Erklärung von Dr. Gerhard Wagner, dem Vorsitzenden der Deutschen Ärztekammer. Obwohl sie Streichers „Kampf gegen das Judentum“ begrüßten, verurteilten sie seinen Versuch, die Impfung und die Verwendung anderer von Juden hergestellter Seren abzuschaffen.

Aber die Geduld der Juden in Deutschland ist erschöpft durch die Beleidigungen, die ständig in Der Stürmer verbreitet werden und vor allem in den Schulen kursieren. Ein neues Merkmal von Streichers Zeitung ist eine Rubrik mit dem Titel „Jüdische Suchanzeigen“, die so schamlose Vulgaritäten enthält wie Anzeigen für „eine blonde arische Schickse für einen geschlechtsreifen elfjährigen Jungen“. Eine andere kündigt den Verkauf von „gutem jüdischen Wein, gemischt mit jüdischem Blut“ an. Ein dritter wirbt dafür, dass ein „arbeitsloser Rabbiner Unterricht in der talmudischen Lehre der Homosexualität“ geben möchte. Infolge der Saarabstimmung wurde auch die falsche Behauptung aufgestellt, Max Braun, der sozialdemokratische Saarländer, sei Jude. Die Reichsvertretung der deutschen Juden hat eine offizielle, von Rabbiner Leo Baeck und Otto Hirsch unterzeichnete Erklärung abgegeben, in der diese Behauptung zurückgewiesen wird. In der Zwischenzeit versuchen die jüdischen Organisationen in Deutschland im Stillen, gegen einige der gröbsten Verleumdungen vorzugehen, denen ihr Name ausgesetzt ist. So hat zum Beispiel der Zentralverein der Deutschen Juden eine neue Ausgabe seines Pamphlets veröffentlicht, in dem er den Vorwurf des blutigen Mordes widerlegt.

IV. ÖFFENTLICHE SCHULEN

Dennoch sind jüdische Schüler in einigen öffentlichen Schulen immer noch schwersten Demütigungen ausgesetzt. In einigen Einrichtungen müssen sie einen Schülerausweis mit sich führen, der sich farblich von dem der nichtjüdischen Schüler unterscheidet; in einigen müssen sie getrennt von den anderen Schülern sitzen; in vielen sind sie von den Speisesälen und Bibliotheken ausgeschlossen. Glücklicherweise trifft dies nur auf einen kleinen Teil der öffentlichen Schulen zu. Aber die nationalsozialistische „Rassenkunde“ ist inzwischen in ganz Deutschland an allen Schulen Pflichtfach geworden. Als Gnadenmaßnahme soll der Unterricht in Rassenkunde an Samstagen stattfinden, und jüdische Kinder sollen zu Hause bleiben dürfen.

V. GESETZGEBUNG UND GERICHTE

Bis heute hatten die Juden in Deutschland nur einen Ausweg – sie wurden daran gehindert, ihre beruflichen Positionen zu behalten und auszuwandern, sie wurden aus der Landwirtschaft und der Arbeitsfront herausgehalten. Trotz des Boykotts war es ihnen erlaubt, neue kleine Unternehmen zu gründen. Ein neues Dekret verbietet jedoch die Eröffnung neuer Einzelhandelsgeschäfte ohne eine Sondergenehmigung der Regierung. Die Arierparagraphen werden zweifellos auch in diesem Zusammenhang angewandt werden.

Vor den Gerichten scheint es den Juden etwas besser ergangen zu sein, insbesondere vor den Oberlandesgerichten. Die Frankfurter Zeitung konnte mehrere Fälle veröffentlichen, in denen die Rechte der Juden von den Richtern gewahrt wurden. Dies scheint ein Indiz für einen Gesinnungswandel in der oberen Mittelschicht, der die Richter angehören, gegenüber den Nazis zu sein. Offensichtlich beginnt diese Klasse, die plebiszitäre Art und Weise und das grobe Verhalten so vieler Naziführer zu erkennen. Auch das „Volksgericht“ stößt auf den Unmut derjenigen Richter, die noch versuchen, gewisse Grundsätze der Gerechtigkeit zu wahren. Obwohl die Richter ihre politische Opposition gegen die Nazipartei nicht offen zum Ausdruck bringen können, tun sie es indirekt auf diese Weise: indem sie versuchen, die Rechte der Juden zu schützen, wann immer es möglich ist.

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1. Juni 1937

Herausgegeben vom
Amerikanisch-Jüdischen Komitee
461 Fourth Avenue
New York, N.Y.

Die Juden in Deutschland heute

Ein Überblick über die aktuelle antijüdische Kampagne der Nationalsozialisten

Die tödliche Monotonie der unerbittlichen Verfolgung, die das Schicksal der deutschen Juden in den letzten Monaten kennzeichnete, wurde vor kurzem durchbrochen, als das Naziregime plötzlich über die deutschen Zweigstellen der B‘nai B‘rith herfiel, die Organisation auflöste, ihre Sanatorien und Altersheime übernahm und ihre jüdischen Insassen auf die Straße warf.

Die darauf folgenden Massenverhaftungen und Enteignungen markierten eine neue Wendung in der repressiven nationalsozialistischen Politik gegenüber den Juden in Deutschland. Sie beendeten die Zeit des „kalten Pogroms“ und machten die alltägliche Brutalität im Leben der fast 400.000 noch in Deutschland verbliebenen Juden erneut deutlich.

La Guardia-Zwischenfall markiert neuen Trend

Der neue und heftige Trend wurde in typisch nationalsozialistischer Manier dramatisch, nachdem die deutsche Presse den New Yorker Bürgermeister Fiorello H. La Guardia wegen einer Bemerkung angegriffen hatte, die nicht heftiger war als viele andere, die er geäußert hatte. Die Schärfe, die den Angriff der Nazis auf den amerikanischen Bürgermeister kennzeichnete, war das Signal für den erneuten Ausbruch antijüdischer Hetze im Reich. Die Nazis beharrten darauf, dass sie beleidigt worden seien, wie sie es schon früher getan hatten. Am Ende rächten sie sich – an den Juden.

In den letzten Monaten gab es nur wenige Nachrichten über die Verfolgung der Juden im Reich. Es hatte den Anschein, als sei die Hitler-Regierung der Ansicht, dass die Nürnberger Gesetze von 1935 so weit gegangen waren, wie ein antijüdisches Programm nur gehen konnte – abgesehen von physischem Terror – um die Ziele der Nazis zu erreichen; als sei ein Status quo geschaffen worden, unter dem die vollständige Eliminierung der Juden aus dem deutschen Leben zur Routine werden sollte.

Aber diese Routine, die so alltäglich geworden war, dass sie in der Außenwelt keinen besonderen Kommentar mehr hervorrief, beinhaltete den fortgesetzten Boykott derjenigen jüdischen Geschäfte, die im Deutschen Reich noch existierten; das fortgesetzte Schüren des Mob-Hasses gegen eine winzige Minderheit; die unaufhörlichen Angriffe auf die Moral der deutschen Juden; und die Fortsetzung und Durchsetzung all der systematischen Gesetze, Dekrete, Verordnungen und Bekanntmachungen, die vom Braunen Haus in München ausgegangen sind.

Routinemäßige Verfolgung zu langsam für die Nazis

Die jüngsten Ereignisse in Deutschland deuten jedoch darauf hin, dass die Nazis beschlossen haben, diese Routine aufzugeben, da sie zu langsam ist, und dass sie sich bei der Durchführung ihrer antijüdischen Kampagne nicht einmal mehr an ihre eigenen Gesetze halten werden. Die Nazis haben offenbar beschlossen, dass jedes noch so strenge Gesetz ihren Opfern ein gewisses Maß an Schutz bietet; deshalb sollen die Methoden des „rechtlichen Vorgehens“ gegen die Juden aufgegeben werden.

So markieren die jüngsten Razzien gegen die B‘nai B‘rith-Logen, das Verbot jüdischer Versammlungen, die Schließung jüdischer Einrichtungen und die Auflösung jüdischer Vereine eine neue Wende in der Taktik der Nazis. Die Ausrottung der deutschen Juden soll beschleunigt werden. Die Aufgabe wurde der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, übertragen.

Geheimpolizei versucht sich in Judenhetze

Die Hauptaufgabe der Gestapo besteht darin, alle Juden aus dem Wirtschaftsleben Deutschlands zu eliminieren. Bisher wurden die jüdischen Geschäftsleute dadurch geschützt, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft kein „Arierparagraph“ erlassen wurde. Aber die Gestapo kennt kein Gesetz. Sie agiert ohne Rücksicht auf juristische Verfahren, und gegen ihre Entscheidungen gibt es keine Rechtsmittel.

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Die Auswanderung wird immer schwieriger

Langsam aber sicher wird das deutsche Judentum in einen Zustand völliger Hilflosigkeit versetzt. Die wenigen Fluchtmöglichkeiten, die ihnen früher offenstanden, schließen sich nun allmählich gegen sie. Selbst die Auswanderung, die einzige Lösung für das jüdische Problem, die das Naziregime zu befürworten schien, wird immer schwieriger. Die Gestapo hat eine Reihe von Hachscharah (Ausbildungskolonien) geschlossen, in denen Hunderte von jungen jüdischen Männern und Frauen für neue Berufe ausgebildet wurden, bevor sie Deutschland verließen. Sie hat auch die meisten Schulen geschlossen, in denen jüdische Jugendliche die hebräische Sprache zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina lernten.

Es scheint keine logische Erklärung für die Aktivitäten der Gestapo zu geben. Einige von ihnen stehen sogar in direktem Widerspruch zu der erklärten Politik des Naziregimes. Bis heute haben die Nazis behauptet, dass es ihr Ziel sei, die Juden aus dem deutschen Leben auszuschließen. Andererseits sollten die Juden ihr eigenes kulturelles und kommunales Leben entwickeln dürfen und sogar müssen. Die Gestapo jedoch verachtet solche legalistischen Haltungen zutiefst. Ihr Ziel ist die völlige Auslöschung des deutschen Judentums, und ihre Methoden sind an keinerlei gesetzliche Maßnahmen gebunden.

So schloss die Gestapo ohne Vorwarnung das einzige Sanatorium in Deutschland für tuberkulöse Juden. Da Juden nicht in „arische“ Anstalten aufgenommen werden, wurde den jüdischen Kranken durch diese böswillige Maßnahme die einzige Möglichkeit genommen, sich Hilfe zu verschaffen. Eine weitere jüngste Maßnahme war das Verbot der Konferenz des Reichsverbandes der jüdischen Jugend, die in Berlin stattfinden sollte, in letzter Minute. Für beide Maßnahmen wurde kein Grund angegeben.

Aber die Judenhetze der alten Schule geht weiter

Während die Gestapo nun die Führung in der antijüdischen Kampagne übernommen hat, haben andere Naziorganisationen in ihren Aktivitäten nicht nachgelassen. Und noch bevor die Axt der Gestapo der Beschlagnahme und Enteignung endgültig fällt, wird der jüdische Kaufmann durch Boykott, Abschneiden von Lieferungen, häufige Verhaftungen ohne Grund und durch den Strom der unaufhörlichen antijüdischen Propaganda schikaniert. Die verschiedenen Sektionen der Nazipartei und die einzelnen Regierungsstellen wetteifern miteinander um die ersten Lorbeeren im Kampf gegen die Juden. Täglich werden neue einschränkende Verordnungen in Kraft gesetzt, neue Boykottaufrufe veröffentlicht. Einige dieser neuen Verordnungen sind in ihrer Kleinlichkeit erstaunlich. Beispiel: Die jüngste Anordnung der Reichspressekammer, wonach die Zeitungen keine Meldungen über den Synagogenbesuch veröffentlichen dürfen. Andere Beispiele: Eine Verfügung, die es Juden verbietet, die Musik von Bach, Beethoven, Mozart und anderen „arischen“ Komponisten zu spielen; eine Gestapo-Verfügung, die es Juden erlaubt, dem Jüdischen Automobilclub beizutreten (dem einzigen Automobilclub, dem sie überhaupt beitreten dürfen), wenn sie ein Gelöbnis unterschreiben, in dem sie versprechen, der Anti-Nazi-Propaganda entgegenzuwirken und deutsche Exporte zu fördern, während sie mit ihren Autos ins Ausland fahren.

Im Allgemeinen passen diese Vorschriften jedoch gut in das nationalsozialistische Muster. Die meisten von ihnen richten sich gegen jene Juden, die zwar keinen zu enteignenden Besitz oder ein Geschäft besitzen, das sie zwangsweise auflösen müssen, aber dennoch ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Ein kürzlich ergangener Erlass des Kultusministers Dr. Rust verbietet „Nichtariern“, Privatunterricht zu erteilen oder in Privatschulen zu unterrichten. Das Reichsinnenministerium gab bekannt, dass ein arbeitsloser Deutscher keine finanzielle Unterstützung erhält, wenn er einen jüdischen Arzt oder Rechtsanwalt konsultiert. Gleichzeitig erklärte es, dass ärztliche Atteste, die von jüdischen Ärzten ausgestellt wurden, nicht als gültig angesehen werden. Dasselbe Ministerium wies jüdische Arbeitgeber an, alle jüdischen Arbeitnehmer mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu entlassen.

Streicher auf dem Vormarsch

In der Zwischenzeit hat Julius Streicher, Herausgeber des pornografischen Stürmer und Deutschlands führender Antisemit, seine Aktivitäten verstärkt. Kurz nach der Nürnberger Kundgebung im vergangenen September rief Streicher die fränkischen Steuerbeamten zusammen und forderte sie auf, die Provinz von Juden zu befreien. Er wies sie an, ein neues System von Geschäftslizenzen einzuführen, das zur Beseitigung aller jüdischen Lumpenhändler in seinem Bezirk, von mehr als 2000 Lebensmittelhändlern und etwa fünfzig Getreidehändlern führte.

Streichers besonderer Beitrag zur Nürnberger Kundgebung 1936 war eine Sonderausgabe seines Stürmers mit dem Titel „Jüdische Weltverschwörung“, die eine gekürzte Fassung der „Protokolle der Weisen von Zion“ enthielt. Es folgte eine weitere Sonderausgabe, in der Streicher die „Entdeckung“ eines „Ritualmord“-Falls in Deutschland ankündigte. Der Stürmer hatte Berichte über historische „Ritualmord“-Prozesse nachgedruckt, und als Höhepunkt beschloss Streicher, ein „lebendes Beispiel“ zu produzieren. In dem von ihm erfundenen Fall ging es um den Mord an einem christlichen Mädchen in einer ostpreußischen Stadt vor mehr als achtzehn Jahren. Obwohl der Mörder, ebenfalls ein Nichtjude, unmittelbar nach der Tat gefasst und verurteilt worden war, legte Streicher „Beweise“ dafür vor, dass der wahre Mörder ein jüdischer Schlachter aus dieser Stadt war. Dieser „Beweis“ besteht in der Aussage eines jungen Sturmbannführers, dass, als er diesen jüdischen Metzger mit der Anklage konfrontierte, vor achtzehn Jahren ein christliches Mädchen ermordet zu haben, das Gesicht des Metzgers „totenblass“ wurde.

„Stürmer“-Einfluss nimmt zu

Streichers Einfluss in Deutschland nimmt zu. Die Auflage seines Blattes ist beträchtlich gestiegen, und vor kurzem gab er bekannt, dass in verschiedenen Städten in ganz Deutschland 131 „Schaukästen“ für den Stürmer aufgestellt worden sind. Diese Kästen wurden in Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden aufgestellt. Die thüringischen Behörden, die anordneten, dass alle Abbildungen mit alttestamentlichen Themen aus den Schulzimmern entfernt werden sollten, verbanden diese Anordnung mit der Bitte, den Stürmer so weit wie möglich für den Religionsunterricht zu verwenden.

Kein Schulbesuch für jüdische Kinder

Die Einführung des Stürmers und anderer antisemitischer Literatur in das öffentliche Schulsystem dient offensichtlich einem doppelten Zweck. Der erste ist natürlich, den Judenhass von frühester Kindheit an zu schüren. Der andere ist weitaus subtiler und dient dazu, die Nazis aus einem Dilemma herauszuholen.

Im September 1935 kündigte die NS-Regierung an, dass sie im Rahmen ihres Plans zur Segregation der Juden Sonderschulen für jüdische Kinder einrichten würde. Dies erregte den Widerstand der extremen Radikalen unter den Nazis, die sich gegen die Errichtung von dauerhaften Einrichtungen für Juden aussprachen, da dies die Dauerhaftigkeit des Status der deutschen Juden bedeuten würde. Dieser Widerstand war stark genug, um die Regierung daran zu hindern, ihren ursprünglichen Plan auszuführen. Gleichzeitig bestanden jedoch Nazi-Extremisten darauf, dass jüdische Kinder aus den deutschen Schulen entfernt werden. Die Einführung antijüdischer Literatur, die zum freiwilligen Rückzug der jüdischen Kinder führte, erfüllte diesen Zweck auf wunderbare Weise. Heute gibt es in den deutschen Grundschulen praktisch keine Juden mehr.

Die Nazis haben bemerkenswerte Fortschritte auf dem Gebiet der antisemitischen Jugendliteratur gemacht. Eine junge Kindergärtnerin, Elvira Bauer, hat kürzlich mit Hilfe des unvermeidlichen Stürmers ein neues Nazi-Märchenbuch herausgebracht, mit einundzwanzig bunten Bildern, die schrecklich aussehende „Nichtarier“ zeigen, die hübsche „Arier“ betrügen, verführen und vergiften. Am interessantesten ist der Abschnitt, in dem deutsche Kinder mit dem Finger der Verachtung auf diese jüdischen Monster zeigen und fröhlich über ihre Enttäuschung lachen.

Quelle des englischen Originaltextes: American Jewish Committee, „The Situation of the Jews in Germany“ (1. März 1935) und „The Jews in Germany Today“ (1. Juni 1937); abgedruckt in Francis R. Nicosia und David Scrase, Hrsg., Jewish Life in Nazi Germany: Dilemmas and Responses. New York: Berghahn Books, 2010, S. 190–94, 200–07.

Übersetzung: Insa Kummer