Kurzbeschreibung

Victor Klemperer (1881–1960) war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller und Philologe, der 1912 zum Protestantismus übergetreten war und zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nazis mit einer „arischen“ Frau verheiratet war. Zusammengenommen boten diese Faktoren ihm eine privilegierte Position, da er durch sie vor einem Teil der staatlichen Verfolgung geschützt war. Diese Tagebuchaufzeichnungen, die im Februar und Juli 1941 verfasst wurden, beschreiben seine Erfahrungen mit der Gestapo und den städtischen Polizeikräften. Sie sind deshalb bemerkenswert, da sie das Ausmaß hervorheben, in dem Klemperer von bestimmten Polizeibeamten mit Höflichkeit behandelt wurde. Ob diese höfliche Behandlung mit Klemperers Privilegien, seinen Kontakten oder einfach mit dem persönlichen Verhalten der betreffenden Beamten zu erklären ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Doch veranschaulichen diese Einträge den krassen Gegensatz zwischen so genannten privilegierten Nicht-Ariern und denjenigen, welche diese Privilegien nicht genossen. Darüber hinaus zeigen sie auch, dass während der Polizeistaat Repressionsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung durchführte, einzelne seiner Vollstrecker und Behörden in der Lage waren, ihre Aufgaben mit einer fast unheimlichen Höflichkeit zu erfüllen.

Auszüge aus Victor Klemperers Tagebüchern (12. Februar/ 6. Juli 1941)

Quelle

12. Februar [1941], Mittwoch nachmittag

Vaters Todestag, und gerade heute vor zwei Jahren mit dem Curriculum begonnen. Gestern nacht Lektüre zum Frontkapitel beendet, heute erste Zeile daran geschrieben.

Seit gestern Vorfrühlingswetter. Für jede Minute Tageszunahme, für jeden Wärmegrad, für jeden Meter begehbaren Bodens (dies besonders um Evas willen) dankbar. Eva ist so sehr verfallen, abgemagert, gealtert-und dabei liebe ich sie, während meine eigene Physis verfällt, immer leidenschaftlicher, d’amour sagen die Franzosen. – Gestern seit langer Zeit das erstemal ein etwas weiterer Spazierweg: Südhöhe, „Einnehmerhäuschen“, von dort E-Bus zum Bahnhofsfraß. Heute wollen wir nach Lockwitz.

Hoffnungsfreudig, obwohl von Katastrophe bedroht. Anzeige wegen nicht verdunkelten Zimmers. Das kann so viele 100 M Strafe kosten, daß ich zum Hausverkauf gezwungen bin; es kann auch mit 20 M erledigt sein. Für beides gibt es Exempla; einen Tag lang nahm ich das Schlimmste an, jetzt bin ich ruhiger.

Es war ein wirklicher Unglücksfall, fahrlässige Verschuldung, wie sie beim Auto Vorkommen kann. Beide sind wir sonst ungemein vorsichtig im Verdunkeln, schelten auf unsern Abendwegen oft über erleuchtete Fenster, sagen, die Polizei müßte einmal durchgreifen. Und sind nun selbst der Sünde bloß. Es wirkte am Montag (10. 2.) allerhand zusammen, was mich aus dem Konzept brachte. Ich pflege übertäglich gegen halb fünf vom Einkauf zu kommen. Auspacken, Kohlenschleppen, ein Blick in die Zeitung, verdunkeln, Weggehen zum Abendessen. Am Montag fand ich die uns sehr unsympathische Frau Ernst Kreidl hier. Sie wollte getröstet sein: Das ganze Haus war von Gestapo besichtigt worden – neue Mieter? Wegnahme des Hauses? (Bei uns auch Schränke geöffnet – es sei etwas viel Tabak im Hause! Sie sahen aber nur fünf Päckchen, vier andere liegen schon vorsichtshalber bei Frau Voß.) Darüber wurde es spät. Also Verdunklung nach dem Essen. Im „Monopol“ so schlechter Fraß, daß Eva ihn stehenließ. Ich wollte ihr Ersatz auf dem Bahnhof schaffen. Auch nichts. So kam ich sehr verstimmt und abgelenkt zurück, eilte gleich in die Küche, um Tee zu machen. Gegen den Nachthimmel ist nach eingeschaltetem Licht keineswegs zu erkennen, ob die Läden geschlossen sind. Als der Schutzmann um neun klingelte, waren wir ahnungslos, führten ihn ans Fenster, daß er sich von der Verdunklung selber überzeuge. Der Mann war höflich und mitleidig; er müsse Anzeige machen, da Nachbarn den Lichtschein gemeldet hätten. Ich mußte Einkommen und Vermögen angeben: Danach bestimmt „der Polizeipräsident“ die Höhe der Strafe. Bis gestern abend rechnete ich nur mit dem Schlimmsten; gestern erzählte Frau Voß von einem Fall, in dem jemand nur 12 M gezahlt habe; freilich war der Jemand arische Generalswitwe, und ich habe das J auf dem Paß. Nun muß ich bei wechselnder Stimmung warten.

6. Juli [1941], Sonntag

Auch als am 12. Juni der Polizeientscheid kam [], öffnete ich den Brief sehr ruhig. Mein Gesuch war abgelehnt, ich hatte zum Strafantritt am 23. Juni zwischen acht und zwölf Uhr im Zimmer 197 zu erscheinen und 12 M für Verpflegung, 3,50 M für Gebühren zu entrichten. „Wenn Sie nicht rechtzeitig erscheinen, haben Sie zwangsweise Vorführung zu gewärtigen.“ Ich war erbittert, denn ich dankte das fraglos nur dem J auf meiner Kennkarte, aber ich nahm mir fest vor, das Ganze mit Philosophie und eben als Bereicherung meines Curriculums hinzunehmen. Haft war nicht Gefängnis, die Polizei kannte nicht die Härten der Gestapo, und mit Lektüre und Schreiben würde die Zeit vorübergehen. Auch brauchte ich mich nicht sonderlich um Eva zu sorgen, sie war jetzt gut zu Fuß, und das lästige Kohlenschleppen des Winters fiel fort. Von Dr. Friedheim lieh ich mir die autobiographischen Bände Goethes, aus meiner winzigen Handbibliothek nahm ich die „Geschichte der deutschen Philosophie im 20. Jahrhundert“ von Moog mit; und da mir am letzten freien Sonntag der Ausbruch des Krieges mit Rußland noch mächtigen Aufschwung verlieh, so ging ich am Montag nach spätem Frühstück und herzlichem Abschied in sehr leidlicher Verfassung aus dem Hause. Acht Tage waren keine Ewigkeit, ich würde einen Gruß schicken, einen Gruß, vielleicht sogar einen Besuch empfangen können. Die mutige Stimmung hielt auch noch in dem mir schon vertrauten Zimmer 197 an. Der Beamte war wieder sehr höflich, fast komisch höflich. Bitte warten Sie eine Weile draußen auf der Bank, bitte gedulden Sie sich noch etwas (Ich dachte: acht Tage!). Dann las er mir ein Protokoll vor: „Strafantritt Montag, 11.30 Uhr, Entlassung Dienstag, 1. Juli, 11.30 Uhr“ und legte es in einen blau- und rotgeränderten Umschlag, auf dem mit Riesenbuchstaben und einem Ausrufezeichen „Haft“ stand. Beim Anblick dieser Mappe (überkam mich) zum erstenmal eine leichte Übelkeit. „So, für mich ist der Fall erledigt, kommen Sie bitte mit.“ – „Werde ich die Bücher behalten können?“ – „Ich denke doch.“ Wir gingen die drei Treppen hinunter, links vom Eingang war eine große Eisentür mit der Aufschrift „Polizeigefängnis“. Der Beamte klingelte, es wurde geöffnet, er führte mich hinein und ging gleich wieder, das Tor wurde hinter ihm verschlossen, und nun war ich in einer veränderten Welt.

Quelle: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 19331941. Herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. 11. neu durchgesehene Auflage. Berlin: Aufbau-Verlag GmbH, 1999, S. 574–75, 605–06.

Auszüge aus Victor Klemperers Tagebüchern (12. Februar/ 6. Juli 1941), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5135> [22.04.2024].