Kurzbeschreibung

In der Phase der Gleichschaltung sahen sich auch die Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk usw.) einer immer stärkeren Kontrolle durch die nationalsozialistischen Funktionäre und die sie unterstützenden Redakteure, Journalisten und Rundfunkverantwortlichen ausgesetzt. Dieser Prozess vollzog sich jedoch nicht über Nacht, und einige wenige Verlage behielten ihre Unabhängigkeit länger als andere. Eine solche Gegenstimme kam aus dem jüdischen Verlag Rudolf Mosse, insbesondere durch dessen Zeitung Berliner Tageblatt. Die liberale Tageszeitung, die von 1872 bis 1939 erschien, gehörte nach 1933 zu den wichtigsten unabhängigen Medien des Landes. Ihr Ruf schützte sie zumindest eine Zeit lang vor der Einmischung des Propagandaministeriums, während Goebbels versuchte, die Fassade einer freien Presse in Deutschland auf der internationalen Bühne aufrechtzuerhalten.

In diesem Brief an einen ehemaligen Abonnenten des Tageblatts versuchen die Herausgeber, diesen Leser davon zu überzeugen, sein Abonnement nicht zu kündigen. Bemerkenswert ist die Betonung der relativen Unabhängigkeit des Tageblatts im Vergleich zu anderen Zeitungen und die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung des Erscheinens der Zeitung, um eine „internationale Isolierung“ Deutschlands zu vermeiden. Die Verleger waren verzweifelt bemüht, sich in einem sehr schwierigen politischen Klima finanziell über Wasser zu halten und gleichzeitig weiterhin objektiven Journalismus zu liefern, ohne die Regierung dahingehend zu provozieren, die Zeitung zu schließen, was schließlich am 31. Januar 1939 geschah.

Brief des Verlags Rudolf Mosse an einen ehemaligen Abonnenten des Berliner Tageblatts (12. Mai 1933)

Quelle

VERLAG RUDOLF MOSSE
DIREKTION
BERLIN SW 100

Euer Hochwohlgeboren!

Ihre Entschliessung, das „Berliner Tageblatt“ abzubestellen, ist uns sehr schmerzlich, denn wir haben im Leser immer irgendwie den Kameraden und Freund gesehen und den wirtschaftlichen Zusammenhängen dabei weniger Bedeutung beigemessen. Wir wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie uns eine kurze Mitteilung zukommen lassen würden, warum Sie diesen Schritt getan haben. Wahrscheinlich auf Grund unhaltbarer Gerüchte und Redereien, die wir ohne weiteres in einer Sie befriedigenden Weise widerlegen können.

Oder glauben Sie, dass unter den heutigen Umständen andere Presseerzeugnisse Ihre Interessen besser vertreten können? Wir werden Ihnen gerne, wenn Sie sich nicht zu einer sofortigen Erneuerung des Abonnements entschliessen können, das „Berliner Tageblatt“ eine Zeit lang kostenlos zusenden, damit Sie in der Lage sind, Vergleiche anzustellen. Diese werden bestimmt nicht zu Ungunsten des „Berliner Tageblatt“ ausfallen, besonders wenn man bedenkt, dass diese Zeitung infolge ihres grossen Einflusses im Auslande ihre Gesamtpolitik auf eine Linie stellen muss, die es verhindert, dass Deutschland in eine geistige Isolierung gerät. Manches Wort der Kritik kann daher nicht so scharf gesagt werden, wie es vielleicht andere äussern können, die weniger Verantwortung tragen. Dafür wiegt aber jedes der Worte hier um so schwerer.

Sollte man Ihnen erzählt haben, wir seien ans Reich, an Hitler, an Hugenberg, an Papen oder sonst wohin verkauft worden, so hat Ihr Gewährsmann gelogen. Richtig ist, dass der Verleger des „Berliner Tageblatt“ in hochherziger Weise seine sämtlichen Betriebe einer gemeinnützigen Stiftung übergeben hat, deren Überschüsse auf 15 Jahren den Opfern des Weltkrieges ohne Unterschied der Konfession zugute kommen. Diese Stiftung wird in Form einer G. m. b. H. verwaltet, deren Geschäftsführung vollkommen unabhängig ist.

Wir würden uns freuen, bald von Ihnen zu hören und stehen Ihnen zu jeder weiteren Aufklärung gern zu Verfügung.

Mit vorzüglicher Hochachtung

VERLAG RUDOF MOSSE Direktion i. V.

12. Mai 1933

Quelle: Brief von der Direktion des Verlags Rudolf Mosse an einen Abonnenten (12. Mai 1933), Jüdisches Museum Berlin, 2013/79/0, in Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums. Online verfügbar unter: https://www.jmberlin.de/1933/de/05_12_brief-des-verlags-rudolf-mosse-an-einen-ehemaligen-abonnenten.php

Brief des Verlags Rudolf Mosse an einen ehemaligen Abonnenten des Berliner Tageblatts (12. Mai 1933), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5151> [07.11.2024].