Quelle
Geheim Moskau, den, 16, Mai 1933
A 978
Aufzeichnung über eine Unterredung mit dem Volkskommissar Litwinow am 16. Mai 1933 über die deutsch-russischen Beziehungen
Bei meiner heutigen Unterhaltung mit Herrn Litwinow brachte ich
erst die Bedenken zur Sprache, die ich hinsichtlich der Einstellung
der Sowjetöffentlichkeit zu Deutschland hegte. Ich verwandte dabei
im allgemeinen dieselben Gesichtspunkte wie in meinen Unterhaltungen
mit Herrn Woroschilow, Krestinski, Stern und Bossonow und gestaltete
sie noch durch besondere starke Hervorhebung des Radek-Artikels in
der Prawda sowie der heutigen
Behandlung des Schacht-Interviews als deutschen Bankrott in der
Iswestija aus. Ich legte ferner
großes Gewicht auf die Unzulässigkeit der Hetze gegen die Reise
Rosenbergs nach London, indem ich darauf hinwies, daß irgendwelche
Anhaltspunkte für eine antisowjetische Betätigung Rosenbergs in
London fehlten, daß das Blatt Rosenbergs,
Völkischer Beobachter, sich
ausgesprochen sowjetfreundlich verhalten habe und daß es nicht
zulässig sei, in der Vergangenheit liegende Äußerungen eines
Politikers nach Jahren immer wieder aufzuwärmen. Diese Gesamthaltung
der Sowjetpresse stimme mich pessimistisch hinsichtlich der weiteren
Entwicklung der deutschsowjetischen Beziehungen. Deutscherseits sei
wirklich alles getan worden, was verlangt werden könne, und das
Beschwerdematerial, das wir vorbringen könnten, übertreffe das
sowjetische um ein Vielfaches. Ich erörterte dies im einzelnen durch
Anführung eines Schulfalles unter vielen Hunderten, wie z. B. der
wirtschaftlichen Vernichtung reichsdeutscher Bauern in der
Sowjetunion durch konfiskatorische Steuererhebungen, Bezweiflung
ihrer Staatsangehörigkeit usw.
Herr Litwinow erwiderte mit
längeren Ausführungen , bei denen er sich in eine wachsende Erregung
hineinversetzte. Er wiederholte hierbei zum großen Teil das schon
bekannte Material der einzelnen Zwischenfälle (Derop, Sowjetklub in
Hamburg, Bobrowitzer im Internierungslager), indem er beweisen
wollte, daß der Prozentsatz der Übergriffe auf den einzelnen
Sowjetbürger in Deutschland gerechnet sehr viel höher sei als für
die Reichsdeutschen in der Sowjetunion. Er ging sodann ausführlich
auf die Reise von Rosenberg nach England im besonderen und die
Stellungnahme der nationalsozialistischen Führer zum Bolschewismus
im allgemeinen ein. Hinsichtlich von Herrn Rosenberg führte er aus,
daß er nun einmal der Leiter des Außenpolitischen Amtes der
maßgebenden Partei in Deutschland sei; daß er selber aus dem
früheren Rußland stamme; daß er nahe Beziehungen zu russischen und
insbesondere ukrainischen Emigranten aufrechterhalten habe und
vielleicht noch aufrechterhalte.
Ich widerlegte die diesbezüglichen Ausführungen des
Volkskommissars, hob hervor, daß Rosenbergs Besuch in England
sicherlich keine Beziehung zu dem deutsch-sowjetischen Verhältnis
habe; daß das Blatt Rosenbergs, der
Völkische Beobachter, sich
durchaus positiv gegenüber der Sowjetunion geäußert habe. Wenn man
Rosenberg als eine amtliche Persönlichkeit in Anspruch nehme, so
müsse dasselbe von Radek und den anderen Sowjetpublizisten gelten,
die jetzt gegen Deutschland schrieben.
Herr Litwinow versuchte
vergeblich, sich diesen Argumentationen zu entziehen und Herrn Radek
als einen Privatschriftsteller hinzustellen, dem es in diesem Falle
nicht einmal gelungen sei, seinen Artikel in der
Iswestija unterzubringen, und der
sich zur Prawda habe flüchten
müssen. Herr Litwinow widersprach sich aber selbst, indem er
andererseits wieder hervorhob, daß die Einheitlichkeit der
Außenpolitik der Sowjetunion durchaus gewahrt sei, weil sie im
Außenkommissariat zusammengefaßt sei.
Während dieser Teil der
Ausführungen Herrn Litwinows reine Spiegelfechterei war, führte er
nachher aus, daß die sowjetische Öffentlichkeit sich gegenüber der
Einstellung der nationalsozialistischen Partei zur Sowjetunion
deswegen zurückhaltend verhalte, weil sie noch nicht überzeugt sei,
daß diese Politik von Dauer sein werde. In Parteikreisen befürchte
man, daß nach eingetretener Besserung der deutsch-französischen und
deutsch-englischen Beziehungen sich eine antisowjetische Stimmung
wieder geltend machen würde.
Ich bestritt diese Möglichkeit und
sagte Herrn Litwinow, daß er doch schließlich nicht mehr verlangen
könne, als daß sowohl die Handlungen und Taten der deutschen
Regierung wie auch die Sprache der Presse positiv und
sowjetfreundlich seien.
Herr Litwinow schloß seine Ausführungen mit den Worten, daß die Grundeinstellung der Sowjetregierung gegenüber Deutschland durchaus dieselbe geblieben sei; daß die Sowjetregierung überzeugt sei, mit einem nationalsozialistischen Deutschland ebenso freundschaftlich stehen zu können wie mit einem faschistischen Italien. Dasselbe gelte von den anderen Grundfragen der deutsch-sowjetischen Politik: von dem Verhältnis zu Polen und von der Bekämpfung des Versailler Vertrages. Es seien eben jetzt Schwankungen in der öffentlichen Meinung der Sowjetunion, die z. B. auch in dem Artikel Radeks zu Tage treten; diese Schwankungen seien auf die noch vorhandene Unsicherheit über die deutsche Politik zurückzuführen.
gez. von Dirksen
Quelle: Akten zur deutschen
Auswärtigen Politik, Serie C 1933-1937, Das Dritte Reich: Die
ersten Jahre, Bd. I/2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971,
Dokument Nr. 245, S. 443-445.
Online verfügbar unter:
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