Kurzbeschreibung

Als das Naziregime seine Verfolgungspolitik gegenüber Juden verschärfte, wurde die Auswanderung, wenn auch nur langsam, von vielen Familien in Erwägung gezogen. Dieser Artikel, der im Jüdischen Gemeindeblatt, einer in Berlin herausgegebenen jüdischen Zeitung, veröffentlicht wurde, ist einer von vielen, in denen die Vereinigten Staaten als das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ dargestellt wurden. Ein jüdischer Facharbeiter konnte in den USA bis zu 35 Dollar pro Woche verdienen, und eine jüdische Frau, die in einem Kaufhaus Arbeit fand, konnte bis zu 20 Dollar pro Woche verdienen. Diese Zahlen waren für Familien, die mit dem Gedanken spielten, Mitteleuropa zu verlassen, oft sehr verlockend, aber wie der Artikel beschreibt, war das Verfahren zur Erlangung eines Visums sowohl kompliziert als auch frustrierend. Potenzielle Einwanderer mussten zwei Sponsoren finden, vorzugsweise Personen, die in direkter familiärer Beziehung zu ihnen standen, und der bürokratische Aufwand war oft überwältigend komplex. Vor 1939 wies die Regierung der Vereinigten Staaten unzählige Antragsteller ab. Außerdem war ein erfolgreicher Antrag keine Garantie für zukünftige wirtschaftliche Sicherheit oder eine friedliche Integration in eine neue Gemeinschaft. Die USA kämpften mit ihrer eigenen Wirtschaftskrise, was es für viele Bürger und Personen mit ständigem Wohnsitz schwierig machte, einen Arbeitsplatz zu finden.

Zeitungsartikel über die jüdische Auswanderung in die USA (November 1937)

Quelle

Jüdische Einwanderung in USA.

Eigener Bericht des Gemeindeblattes von Dr. Günther Plaut (Cincinnati)

Heute rückt die nordamerikanische Union mehr denn je in die Betrachtung als ein Land jüdischer Einwanderung aus Deutschland. Der noch herrscht über Bedingungen und Aussichten einer solchen Wanderung häufig eine überraschende Unklarheit, was sich immer wieder bei Neuankömmlingen feststellen läßt.

Es ist bekannt, daß eine legale endgültige Einwanderung in die Staaten nur auf Grund eines Affidavits möglich ist, in dem der Ausstellende sich dafür verbürgt, daß der Einwandernde der öffentlichen Wohlfahrt nicht zur Last fallen wird. Ein solches Affidavit wird am besten von einem Blutsverwandten ausgestellt, der entweder Vermögen hat oder sich in gesicherter Position befindet. Ein Nichtverwandter wird mit Erfolg nur dann bürgen können, wenn er sehr wohlhabend ist oder außergewöhnlichen Einfluß besitzt. Niemand kann nach Amerika auf die Tatsache hin einwandern, daß er bereits eine Stellung hat, die er antreten will. Und niemand darf arbeiten, der nur auf Touristenvisum ins Land gekommen ist.

Nun gibt es zwar die Möglichkeit, seinen Status zu ändern und sein Touristenvisum in ein dauerndes Immigrationsvisum zu verwandeln. Dazu muß man aber das Land erst wieder verlassen, um dann über eins der Nachbarländer, wie Kanada, Kuba oder Mexiko, von neuem einzuwandern. Aber auch dazu braucht man ein Affidavit; und außerdem braucht man Geld: denn die Reise und der Aufenthalt in einem dieser Länder wollen bezahlt sein. Es ist also keineswegs richtig, anzunehmen, daß man bloß erst hier in Amerika zu sein braucht, und daß es dann ein Leichtes ist, sein Einwanderungsvisum zu erhalten. Wer sich eine Reise hierher leisten kann, um alles Notwendige vorzubereiten, soll es gewiß tun; aber lediglich auf die Chance hin, hier seinen Status zu ändern, die weite Reise anzutreten, ist ein Wagnis, das durchaus fehlschlagen kann.

Amerika bietet, trotz seiner großen Arbeitslosigkeit, heute das Bild wirtschaftlichen Aufstiegs. Der Einwandernde wird im allgemeinen eine Arbeitsmöglichkeit finden — so allgemein das klingt, hat es doch statistische Wahrheit. Natürlich spielt die Berufsdifferenzierung eine große Rolle. Aber die Mehrzahl der jüdischen Einwanderer aus Deutschland gehört kaufmännischen Berufen an, und als Angestellter läßt sich in den meisten Fällen eine Stellung irgendwelcher Art finden — wenn die Ansprüche nicht groß sind. Frauen haben es in dieser Beziehung leichter als Männer. Ein Mädchen, das im Laden verkauft, wird meist zwischen 12 und 20 Dollars in der Woche verdienen, was einem Gegenwart [sic] von 40 bis 60 Mark entspricht. Die männlichen Gehälter für kleinere Angestellte liegen etwas höher. Ein gelernter Arbeiter dagegen, etwa ein Mechaniker, mag 35 Dollars die Woche verdienen, wenn er eine glückliche Hand besitzt; und ein Ingenieur oder Chemiker, der in eine gehobenere und unabhängigere Stellung kommt, darf häufig wesentlich mehr erwarten.

Von erheblicher, und in Deutschland leider meist unerkannter Wichtigkeit, ist die Abhängigkeit der Arbeitsmöglichkeit von dem Ort der Auswanderung. In New York besteht die Chance, eine sehr gute Stellung zu bekommen; aber diese Chance ist klein. Viel größer ist dagegen in New York die Chance, überhaupt keine Arbeitsmöglichkeit zu finden. Ähnliches gilt für Chicago und in geringerem Umfange für alle sehr großen Städte. Die Beschäftigungslosigkeit unter den jüdischen Einwanderern aus Deutschland ist weitaus am größten in New York. Bei uns in Cincinnati dagegen war unter den etwa 200 Neuankömmlingen bisher noch kein einziger Fall von Arbeitslosigkeit bekannt. Das liegt vor allem daran, daß, je kleiner die Stadt ist, die Hilfe der Judenschaft für die Einwanderer um so größer sein kann und ist. In der großen Stadt ist der Einwanderer fast immer eine gesellschaftliche Null, der, für eine lange Zeit wenigstens, auf seine Verwandten und auf Freunde aus Deutschland, die sich in der gleichen Lage befinden, angewiesen bleibt. In einer kleinen jüdischen Gemeinde aber wird dem Ankömmling häufig — wenn auch nicht immer! — Eintritt in die besten jüdischen Familien der Stadt gewährt; und daß damit die Chancen des Weiterkommens erheblich steigen, versteht sich von selbst. Man kann fast sagen, daß in dieser Hinsicht die Möglichkeiten des Aufstiegs in reziprokem Verhältnis zur Größe der Stadt stehen. Wobei es klar sein muß, daß dies kein Rezept von allgemeiner Gültigkeit ist.

Ärzte finden im allgemeinen ihr Auskommen; Zahnärzte haben es schon deshalb schwerer, weil die Amerika vorhandenen und üblichen Apparaturen außerordentlich modern und kostspielig sind, ein Selbstständigmachen daher in ihrem Fall mit geldlichen Schwierigkeiten verknüpft ist.

Das Beherrschen der Sprache ist von nicht zu überschätzender Wichtigkeit. Es ist der Schlüssel zu einer wichtigen und wünschenswerten Assimilation, nämlich in dem Sinne, daß man im ordentlichen Getriebe des Tages seinen Mann steht, ohne anzuecken. Meist wird übrigens schon der gute Wille anerkannt; und nichts imponiert dem durchschnittlichen Amerikaner mehr, als das schnelle und erfolgreiche Erlernen der englischen Sprache.

Quelle: Jüdisches Gemeindeblatt, Nr. 47, 21. November 1937, S. 1. Leo Baeck Institute. Online verfügbar unter: https://archive.org/details/LeoBaeckInstitute

Zeitungsartikel über die jüdische Auswanderung in die USA (November 1937), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5174> [05.11.2024].