Kurzbeschreibung

Zwischen Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten von Preußen 1862 und seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt 1890 verließen nahezu drei Millionen Deutsche ihr Land, um im Ausland ein besseres Leben zu suchen. Viele von ihnen gingen in die Vereinigten Staaten. Zu diesen Auswanderern zählten landhungrige Bauern und Arbeiter aus ländlichen Verhältnissen sowie Kleinhandwerker und Händler, die sich einen Neubeginn erhofften. Im Zeitraum von 1874 bis 1879 sank die Auswanderungsrate ein wenig, aber nach 1880 verursachten starke wirtschaftliche Schwankungen die nächste und größte Auswanderungswelle, die erst Mitte der 1890er Jahre abzuebben begann.

Dieser Bericht eines königlich-britischen Sachverständigenausschusses analysiert die Ursachen und Auswirkungen der deutschen Auswanderung. Er unterstreicht die wirtschaftlichen Gründe für das Verlassen Deutschlands: niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und der Niedergang älterer Industriezweige. Doch politische Motive waren ebenfalls wichtig, beispielsweise die Einstellung der deutschen Regierung gegenüber der Sozialdemokratie. Die Attraktivität der Vereinigten Staaten steigerte sich zusätzlich, wenn Deutsche, die eine Emigration erwogen, optimistische Briefe oder Geldüberweisungen von bereits ausgewanderten Freunden und Verwandten erhielten. Die Reklame der Dampferlinien trug nur noch zu diesem Reiz bei. Ebenso wie spätere Befürworter einer deutschen Kolonisierung erkannten jedoch die Verfasser dieses Berichts, dass die Auswanderung Deutschland auch der Produktivkräfte und potenziellen Armeerekruten beraubte.

Ursachen und Auswirkungen der Auswanderung aus Deutschland (1870er/1880er)

Quelle

Es wurde schon einiges dazu gesagt, warum eine so enorme Zahl von Menschen sich zur Auswanderung aus Deutschland entschließt. Die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen den verschiedenen sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren, die ineinander wirken, kann kaum überschätzt werden; doch die große Überzahl von Bewohnern ländlicher Gebiete unter den Einwanderern deutet auf die schlechte Lage im landwirtschaftlichen Sektor als Hauptursache für die jeder Migration vorangehenden Unzufriedenheit mit den heimischen Lebensbedingungen hin. Wenn wir für einen Augenblick diesen wichtigen Faktor unberücksichtigt lassen, müssen wir auch die sozialen und politischen Ursachen ins Auge fassen, die zu dieser Migrationsbewegung führen. Darunter fallen die Einstellung der deutschen Regierung gegenüber der Mehrheit der deutschen Sozialisten vor 1890 und die Unzufriedenheit – zumindest in Friedenszeiten – mit dem deutschen Militärsystem. Der Wunsch nach einer erfüllteren Existenz und den Vorteilen des Stadtlebens hat viele der besten und intelligentesten Menschen der ostdeutschen Arbeiterschaft in den Westen gezogen. „Es geht nicht so sehr um den Wunsch nach mehr Geld“, stellt der jüngste Bericht des Ostpreußischen Centralvereins fest, „der zumindest unverheirateten Menschen die Auswanderung nahe legt. [] Es ist vielmehr der Wunsch nach einem unabhängigen Leben und nach Freuden und Vergnügungen, die wir hier im Osten der Landbevölkerung nicht bieten können.“ Doch, wie Dr. Max Sering richtig bemerkt, liegt die wahre Ursache tiefer und muss bei den „Idealen von Freiheit und Menschenwürde“ gesucht werden, die „ein Streben nach höherem sozialen Status“ bewirkt hat, was nicht unbedingt materielle Vorteile oder intellektuellen Zugewinn bedeuten muss. Das Mehr an Bildung und die Aufklärung, die der Militärdienst dem Landarbeiter bringt, haben diese sozialen Sehnsüchte zusätzlich genährt, sodass sogar in Mecklenburg, wo die Arbeitsbedingungen besonders günstig sind, selten Kinder zu finden sind, die sich damit zufrieden geben, den Weg ihres Vaters fortzuführen. Diese Anziehungskraft des Stadtlebens ist noch wirksamer, wenn es sich um die Vereinigten Staaten handelt, und wird durch das unaufhörliche Bemühen rivalisierender Dampfschifffahrtsgesellschaften und ihrer Makler verstärkt, die Aussichten in Übersee in leuchtenden Farben darzustellen und die Kosten und Schwierigkeiten der Überfahrt zu minimieren. Außerdem machen die Briefe und Geldüberweisungen von bereits ausgewanderten Freunden und Verwandten einen sehr starken Eindruck auf die Zurückgebliebenen; vielleicht hat das mehr als alles andere zum Anstieg der Auswanderung beigetragen. Dennoch hätten, wie Herr Lindig eindrücklich ausgeführt hat, weder die Bemühungen skrupelloser Reiseveranstalter noch die Darstellungen von Freunden und Verwandten ausgereicht, eine so riesige Zahl von Menschen zum Verlassen ihres Heims zu bewegen, wäre die wirtschaftliche Lage der deutschen Arbeiterschaft zufrieden stellend gewesen. Niedrige Löhne, Arbeitsplatzmangel, der Niedergang des Kleingewerbes und der zu rasche Zustrom potenzieller Fabrikarbeiter in die Städte verbinden sich zu einer Stimmungslage, welche die Vereinigten Staaten in rosigen Farben erscheinen lässt. Wie Professor von Philippovich betont, kann der Auswanderungsstrom nur in solchen Staaten gedämmt werden, die danach trachten, „den Wanderern ihr Heim durch Hebung ihrer ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen wohnlich zu gestalten“. Andererseits ist zu erwarten, dass die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der Einwanderungsländer künftig einen noch größeren Sog ausüben werden, und es ist kaum zu erwarten, dass die gegenwärtige Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten in Verbindung mit der wachsenden Schwierigkeit des Erwerbs landwirtschaftlicher Flächen die deutsche Auswanderung eindämmen werden. Denn die Emigration ist vornehmlich eine ländliche, und alle mit dieser Frage befassten Autoren stimmen darin überein, dass es der größte Wunsch des Landarbeiters in Deutschland ist, Landbesitzer zu werden, egal auf wie niedrigem Niveau. Es ist vor allem dieser Wunsch, der zusammen mit den erläuterten ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren für die Auswanderung der deutschen Bevölkerung verantwortlich ist. Die Statistik macht zwei Hauptgebiete aus, von denen die Menschen abwandern – der Südwesten und der Nordosten. In dem einen Fall ist die Bevölkerung so stark angewachsen, dass es weder genügend verfügbares Land noch zusätzliche Arbeitsplätze gibt; im anderen Fall machen es die Arbeitsbedingungen auf den großen Ländereien dem Arbeiter immer schwerer, sich aus seinem Zustand der Knechtschaft zu befreien. [] Abgesehen von der Schwierigkeit, in einem Land großer Ländereien überhaupt an ein kleines Stück Land zu kommen, ist der Arbeiter unter den gegebenen Bedingungen selbst nach jahrelangem Sparen nicht in der Lage, sich das Kaufgeld zu verdienen; sodass Dr. Lindig feststellt: „Die landwirtschaftliche Frage ist in erster Linie eine der Löhne [] Die geringen Einkünfte und die Unmöglichkeit sich etwas zu ersparen, das ihm den sozialen Aufstieg ermöglichen würde, veranlasst den Arbeiter, aussichtsreichere Lebensbedingungen zu suchen. Diese findet er in der Fabrikarbeit im eigenen Land oder in der Auswanderung nach Amerika, wo die Löhne hoch sind und die Preise für Grund und Boden verhältnismäßig niedrig; dort kann er hoffen, das Ziel seiner Träume zu erreichen und unabhängig zu werden, während es hier selbst für die Tüchtigsten und Fleißigsten hart ist, sich genügend Geld für den Erwerb eines Stück Landes zu erwirtschaften.“

Gleichzeitig muss man jene, die Kleinbesitz für ein unfehlbares Allheilmittel halten, darauf aufmerksam machen, dass sich in jüngster Zeit eine große Zahl deutscher Kleinunternehmer durch den fortgesetzten Preisverfall gezwungen sahen, ihren Besitz aufzugeben und auszuwandern. Dies ist vor allem auf den schlechten Boden zurückzuführen, den die Großgrundbesitzer zur Besiedlung zur Verfügung stellten, es handelt sich jedoch um eine Tatsache, von der die Befürworter der ländlichen Kolonisierung Notiz nehmen sollten.

Die Ermittlung der genauen ökonomischen Auswirkungen der Arbeitsmigration fällt, wenn überhaupt, noch schwerer als die Beschreibung ihrer Ursachen. Einerseits profitiert das Mutterland durch die Besiedlung von Land, die neue Märkte für ihre Produkte erschließt, ebenso wie von der Beschäftigung seiner überschüssigen Bevölkerung, sogar in Übersee. Andererseits bewirkt eine übermäßige Abwanderung den Abzug produktiven und militärischen Potenzials, sodass die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt leicht durch eine unverhältnismäßig hohe Zahl an alten Männern und Kindern aufgehoben werden könnte.

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Obwohl die Ostprovinzen schwer unter der Abwanderung der Landarbeiter zu leiden haben, befänden sich im Großen und Ganzen die Bewohner dichter bevölkerter Gebiete und die Besitzer sterbender Kleingewerbebetriebe in einer noch misslicheren Lage, wenn es den Ausweg der Auswanderung nicht gäbe.

Quelle: Royal Commission on Labour, Foreign Reports: Germany. London, 1893, S. 98–99; englischer Originaltext veröffentlicht in Theodore S. Hamerow, Hg., The Age of Bismarck: Documents and Interpretations. New York: Harper & Row, 1973, S. 187–90.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche: Erwin Fink.