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Zum Begriff Sozialpolitik gehört die Gesamtheit der gesetzlichen Maßnahmen eines Staates und die Tätigkeit der gesellschaftlichen Organisationen der Arbeiter und Angestellten auf sozialem Gebiet. In den weitgespannten Komplex gehören sowohl alle arbeitsrechtlichen Bestimmungen und Handlungen, wie Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, Koalitionsrecht, Mitbestimmungsrecht, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Jugendschutz, Arbeitsschutz usw. als auch Sozialleistungen im Falle von Arbeitsunfall, Krankheit, Invalidität, Alter und die Gesundheitsfürsorge. Kurzum alle jene Gebiete, die zusammengenommen ein bestimmtes Maß sozialer Sicherheit ausmachen.
In den kapitalistischen Staaten gefährdet der Kampf der Ausgebeuteten um soziale Sicherheit die kapitalistische Profitwirtschaft, der bei Ausnutzung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten das Maß von sozialer Sicherung zeitweilig vergrößern kann. Doch vollzieht sich gerade gegenwärtig in Westdeutschland ein Prozeß, der von den Gewerkschaften als „Soziale Demontage“ angeprangert wird. Er ist Ausdruck dafür, daß die monopolkapitalistischen Machthaber und die Militaristen nicht soziale Sicherheit, sondern soziale Unsicherheit und Verstärkung der ökonomischen Abhängigkeit der Arbeiter brauchen. Unter den Bedingungen der atomaren Aufrüstung betreiben sie daher, wie bereits vor 30 Jahren, soziale Abrüstung auf allen Gebieten der Sozialpolitik.
Im Bergbau z.B. zerstören gegenwärtig die Bonner Regierung und die Zechenherren alle Sozialpartner-Illusionen über fortschrittliche Sozialpolitik, Recht der Arbeit, „gerechte“ Entlohnung und Sicherheit des Arbeitsplatzes. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es auch im zehnten Jahr der Adenauer-Regierung nicht.
Auf dem Gebiet der sozialen Leistungen sind Unternehmerverbände und Adenauers CDU unter dem Deckmantel sozialer Reformen dabei, die eben erst durch den großen Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein erreichte materielle Sicherung im Krankheitsfalle wieder zu beseitigen.
Der Staatssekretär Dr. Claussen im „Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung“, der die Arbeiter schon früher frech beleidigte, hielt auf dem evangelischen Kirchentag in München eines der Hauptreferate, dem er den Titel gegeben hatte: „Versichert, aber nicht geborgen“. Der Titel zeigt schon die Perspektive dieser Seite Sozialpolitik im Bonner Staat: Versicherung ohne Sicherheit!
„Er soll sich wie ein Privatpatient fühlen“, begründete weiterhin Claussen in einem Interview in der „Welt der Arbeit“ vom 14. August 1959 die von ihm und Blank betriebene Kostenbeteiligung des den Arzt in Anspruch nehmenden Krankenkassenmitgliedes.
Die Krankenkassenreform der Adenauer, Blank und Claussen sucht die solidarische Versicherung der Arbeiter und Angestellten auf die Sorge des einzelnen für sich und seine Familie zu beschränken. Der berüchtigte „Rheinische Merkur“ hatte schon im Jahre 1958 höhnend die Argumente dafür geliefert:
„Wenn der Arbeitnehmer heute wirklich nicht fähig ist, einen Heilungsaufwand von 100 bis 150 D-Mark vorzulegen, so liegt das nicht an seinem zu geringen Einkommen, sondern an seiner Gewohnheit, von der Hand in den Mund zu leben, ohne jegliche Reserve ..... Er hat diese Gewohnheit aus einer proletarischen Vergangenheit mitgebracht. Und eine allzu fürsorgliche Sozialpolitik hat ihn dazu verleitet, sich in dieser Lebenslage häuslich niederzulassen.“
Der CDU-Mann Tacke, stellvertretender Vorsitzender des DGB, hatte aber am 25. Februar 1959 in Heidelberg darauf hingewiesen, daß 90 Prozent aller Arbeiter und Angestellten in der Industrie weniger als 500 DM im Monat verdienen und die amtlich errechneten Lebenshaltungskosten für einen vierköpfigen Haushalt 560 DM im Monat betragen.
Jährlich 10 bis 15 Milliarden für die atomare Aufrüstung auszugeben, schließt eben den versprochenen Wohlstand aus. In das Ruhrgebiet ist bereits der Notstand eingezogen. Dennoch handelt es sich bei dieser Politik der sozialen Unsicherheit nicht nur um taktische, sondern in erster Linie um grundsätzliche Bestrebungen. Die Sozialpolitik soll auf ein Niveau noch hinter Bismarck zurückgedrängt werden. Die soziale Unsicherheit der Arbeiter der frühkapitalistischen Periode schwebt den klerikalen Würdenträgern und den Unternehmerverbänden als Wunschtraum vor. Die Emanzipation der Arbeiter zur zukunftstragenden herrschenden Klasse soll auf den Ständecharakter zurückgewendet werden. Der vierte - der letzte -, der dienende Stand, das ist der Platz in der Gesellschaft, den die christliche Soziallehre des politischen Katholizismus der Arbeiterklasse zuweist, damit der Herrenstand immer erhalten bleibe. Hitler ist das nicht gelungen. Die CDU versucht es dennoch, denn sie hat das Erbe Hitlers angetreten. Das ist ihr Auftrag. Ohne eine in Ständefesseln geschlagene, dem Klassenbewußtsein und politischen Machtwillen abgekehrte Arbeiterschaft können die wieder nach Revanche durch kriegerische Eroberungen dürstenden deutschen Imperialisten nicht an die Verwirklichung ihrer Großmachtpläne gehen.
Die Zerstörung der in den 80er Jahren von den deutschen Arbeitern erkämpften, auf solidarischem Ausgleich beruhenden staatlichen Sozialversicherung ist daher ein wichtiger Bestandteil der reaktionären Innenpolitik der CDU. Bei den Rentenversicherungen ist das im Jahre 1957 unter Anwendung einer breiten und kostspieligen sozialen Demagogie schon zu einem erheblichen Teil gelungen.
Die folgenden, seit der Bismarckzeit ausgebauten staatlichen Verpflichtungen wurden abgeschafft:
1. Der Grundbetrag, der jeder Rente in Höhe von 40 DM im Monat zugeschlagen wurde und den der Staat zahlte.
2. Die Mindestrentenbestimmung, die mit dem Grundbetrag verhinderte, daß Renten unter den Mindestsatz sanken. (Seitdem tauchen immer häufiger Zwergrenten unter 50 DM auf. Ab 1962 werden sie für einen großen Teil der Rentenempfänger wieder die Regel sein.)
3. Unabdingbarkeit des Rentenbescheides. Als Grund wird angegeben, die Renten der Produktionsbewegung anzupassen (dynamische Rente). Das erlaubt der CDU, wenn es ihr paßt, die nominelle Herabsetzung der Rentenhöhe. Seit dem Jahre 1957 werden die Reserven angegriffen, und die jährlichen Rücklagen der Arbeiterrentenversicherung gehen zurück.
4. Die Arbeitsinvaliden wurden aus ihren Versicherungsrechten herausgesetzt und der „Fürsorge“ der Staatsbürokratie ausgeliefert.
5. Der Altersversicherung nahm man den sozialen Charakter. Das soziale, auf Ausgleich beruhende Versicherungsverhältnis ist weitgehend dem einer individuellen Privatversicherung angepaßt worden, wobei man die Altersrente zu einer reinen Beitragsrente ohne Staatszuschuß veränderte. Jeder Versicherte soll jährlich seinen Kontobeleg erhalten.
Die Rentengesetze vom Jahre 1957 haben dem privaten Versicherungsgeschäft eine tiefe Bresche in den Kreis der etwa 19 Millionen Sozialversicherten geschlagen. Zehntausende besser bezahlter Angestellter wanderten in die Privatversicherungen ab. Im zehnten Jahr der separaten Existenz des Bonner Staates steht die „Reform“ der sozialen Krankenversicherung und der Unfallversicherung nach rückwärts auf der Tagesordnung. Die Unternehmerverbände haben, gestützt auf den Staatsapparat, gegenwärtig eine neue Kampagne gestartet, die die Abschaffung des geringfügigen gesetzlichen Lohnausgleiches, den sie zahlen müssen, zum Ziele hat. Sie bezeichnen die seit dem 1. Juli 1957 bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit dem Arbeiter zustehenden 90 Prozent des Nettolohnes zynisch, wie der „Industriekurier“ vom 15. August 1959 schreibt, mit „Wohltat wird Plage“.
Trotz des Vorhandenseins einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation, trotz wegweisender und gemeinsamer Interzonenbeschlüsse über die einheitliche Neugestaltung der Sozialversicherung in ganz Deutschland gelang es der CDU, wichtige Prinzipien der sozialen Sicherheit in Westdeutschland auf dem legalen Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu beseitigen. Die Arbeiterklasse und ihre Organisationen hatten allen Grund, den zehnten Jahrestag dieses Separatstaates als einen Tag der Besinnung auf die eigene, ihre Klassenkraft zu begehen.
Die Aktionsgemeinschaft mit den Klassenorganisationen der herrschenden Arbeiterklasse in der Deutschen Demokratischen Republik könnte den verhängnisvollen Lauf dieser Entwicklung abstoppen und allmählich in eine Richtung nach vorwärts zur vollendeten sozialen Sicherheit lenken. In Westdeutschland feierte daher kein Arbeiter die am 20. September 1949 erfolgte, von den Westmächten kommandierte Gründung dieses Separatstaates.
Die Arbeiter in der DDR dagegen begehen am 7. Oktober den zehnten Geburtstag ihres Staates als ein großes Freudenfest. Indem sie das deutsche Grundübel, die Macht der Imperialisten und Militaristen, beseitigten, die politische und die wirtschaftliche Macht in ihren Händen konzentrierten, schufen sie die Grundlage für eine ständig vervollkommnete soziale Sicherheit, wie sie im Kapitalismus unmöglich ist. Die politische Macht in den Händen der Arbeiterklasse und die ideologische und organisatorische Einheit ihrer Reihen, verkörpert durch die Sozialistische Einheitspartei und den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, sind ihre höchste Errungenschaft.
Die zunehmende soziale Sicherheit in der DDR zeigt sich am stärksten in der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Das Recht auf Arbeit ist Gesetz und in der Praxis bereits eine Selbstverständlichkeit. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist bereits schon seit dem Jahre 1946 gewährleistet. Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in der Wirtschaft, bei der Regelung der Produktion und der Arbeitsverhältnisse ist Gesetz und lebendige Praxis. Die bisherige staatliche Kontrolle des betrieblichen Arbeitsschutzes ist den Gewerkschaften übertragen worden. Der Jugendschutz wird ständig weiter verbessert. Die Gesundheitsfürsorge und Krankenbehandlung werden durch die staatliche Gesundheitsverwaltung in engster Zusammenarbeit mit den Ärzten und der Sozialversicherung kostenlos für die Bevölkerung gewährleistet.
Die Verwaltung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten wird von den Gewerkschaften ausgeübt. Die Arbeiter sind auf allen Ebenen der Wirtschaft direkt an der Ausübung der staatlichen Macht beteiligt. In dem Maße, wie sie die Früchte ihrer Arbeit beim Aufbau des Sozialismus ernten, verbessern sich auch die Leistungen ihrer Sozialversicherung von Jahr zu Jahr. Materielle Sicherung durch den betrieblichen Lohnausgleich bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall genießen die Arbeiter und Angestellten bereits schon seit dem Jahre 1946. Dabei werden Krankengeld und Lohnausgleich vom ersten Krankheitstage an gezahlt.
Im zehnten Jahr der Arbeiter-und-Bauern-Macht wurde die Mindestrente auf 115,- DM monatlich erhöht. Dazu kommen Zuschläge in Höhe von 9,- DM in der DDR und 12,- DM in Berlin als Ausgleich für den Wegfall der Lebensmittelkarten. Die gesundheitliche und materielle Sorge für Mutter und Kind hat einen Stand erreicht, daß sich kein Elternpaar die Freude an Kindern zu versagen braucht.
Im zehnten Jahr der Deutschen Demokratischen Republik erhöhte die Regierung in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften das Pflegegeld der Sozialversicherung für Schwer- und Schwerstbeschädigte von bisher monatlich 120,- DM auf 180,- DM. Der Höchstsatz des Pflegegeldes beträgt 240,- DM monatlich. Die bisherige zeitliche Begrenzung der Kostenübernahme bei einer Krankenhausbehandlung wurde aufgehoben. Die Kosten werden ab 1. Juli 1959 von der Sozialversicherung für unbegrenzte Zeit getragen. Der Kreis der Bergleute, die vom 50. Lebensjahr an die Bergmannsvollrente erhalten, wurde erheblich erweitert, und wer mit dem 50. Lebensjahr die Anwartschaft noch nicht erreicht hat, weil er noch keine 25jährige bergmännische Tätigkeit nachweisen kann, erhält die Bergmannsvollrente auch noch mit 60 Jahren nach 15jähriger bergmännischer Tätigkeit. Voraussetzung ist nur, daß er zu der Zeit des Beginns der Rentenzahlung noch der Bergbauversicherung angehört.
In der Sozialversicherung der DDR ist der Arbeiter und Angestellte versichert und geborgen vor den Zufällen des Lebens und der Arbeit. Er lebt und arbeitet in sozialer Sicherheit. Das ist ein entscheidendes Merkmal des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates beim Übergang zum Sozialismus.
Der Begriff Soziale Sicherheit verschmilzt mehr und mehr mit der Gewißheit des Geborgenseins. Unter den Bedingungen des Sozialismus verliert er allmählich den alten Charakter, da die sozialistische Arbeit zur gesellschaftlichen Versorgung führt. Die gesellschaftliche Arbeit wird der mehr und mehr die Leistung bestimmende Faktor.
Die Bilanz von 10 Jahren Sozialpolitik in den beiden deutschen Staaten ergibt:
In der Westzone Deutschlands blieben selbst die immer mehr abgeschwächten Gewerkschaftsforderungen aus der Weimarer Zeit auf Vereinheitlichung und Selbstverwaltung der Sozialversicherung unerfüllt. „Versichert, aber nicht geborgen“ heißt in der Praxis der CDU: „Erhöhte Sozialbeiträge und gesenkte Leistungen“.
Beiträge und Leistungen sind - auch von bürgerlichen Ökonomen anerkannt - Bestandteile des Lohnes, die der Lohntüte teils entzogen sind, teils in ihr nicht erscheinen. Es handelt sich also eingestandenermaßen um die Senkung des Lohnes; natürlich zugunsten der gefährlichen Atomrüstung.
In der Deutschen Demokratischen Republik hat die Arbeiterklasse die hundert Jahre steckengebliebene bürgerliche Revolution vollendet. Im zehnten Jahr ihrer Arbeiter-und-Bauern-Regierung trifft die Geschichte sie schon beim Aufbau des Sozialismus. Sie schreitet vorwärts in friedlicher Arbeit für sich selbst und die von ihr geführte sozialistische Gesellschaft. So, wie der Lohn in der Lohntüte, wächst mit den größer werdenden Leistungen der Sozialversicherung auch der den Arbeitern zukommende unsichtbare Lohn. Sozialversicherung und kostenlose Gesundheitshilfe in der DDR sind neben vielen anderen Errungenschaften, wie kostenlose Schulbildung und Studium aller Wissenschaften, schon Elemente der sich am Horizont andeutenden kommunistischen Gesellschaft, die sich in ihrer ersten Blüte im Stadium des Aufbaus des Sozialismus entfalten.
Zeigen die Perspektiven der Sozialpolitik im Westen Deutschlands unter der klerikal-militaristischen Herrschaft nach rückwärts, so leuchten die Perspektiven der Sozialpolitik im Osten Deutschlands um so heller. Gestützt auf den erfolgreichen Kampf, den die DDR als ein bedeutender Teil des sozialistischen Lagers gegen den deutschen Militarismus um die Erhaltung des Friedens führt, wird es den friedliebenden Kräften in der Westzone gelingen, die düsteren Schatten des Adenauer-Regimes und seiner Atombombengefahren zu überwinden. Dann, aber auch nur dann, wird sich die düstere Perspektive für den Westen unserer Heimat in die lichte und freudige soziale nationale Sicherheit verwandeln.
Quelle: Arbeit und Sozialfürsorge 14 (1959), S. 604–06; abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/203.