Kurzbeschreibung

Im November 1958 wirft der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow den Westmächten vor, mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gegen das Entmilitarisierungsgebot des Potsdamer Abkommens von 1945 verstoßen zu haben und ihre Privilegien in West-Berlin dazu zu nutzen, die Integrität der DDR zu untergraben. Chruschtschow droht deshalb damit, die Anwesenheit der Besatzungsmächte in Berlin zu beenden. Er will die Westmächte zur Anerkennung der DDR zwingen und den Vorposten West-Berlin beseitigen. Zwei Wochen später fordert die Sowjetunion ultimativ, West-Berlin innerhalb von sechs Monaten zu entmilitarisieren und zur „freien Stadt“ zu erklären. Die Krise wird bis zum Frühsommer 1959 durch Verhandlungen entschärft.

Ansprache des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita S. Chruschtschow auf einem sowjetisch-polnischen Treffen in Moskau (10. November 1958)

  • Nikita Chruschtschow

Quelle

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Die Imperialisten haben die deutsche Frage zu einer ständigen Quelle internationaler Spannung gemacht. Die regierenden Kreise Westdeutschlands setzen alle Mittel ein, um die Kriegsleidenschaften gegen die DDR, gegen die Polnische VR, gegen alle sozialistischen Länder zu entzünden. Die Reden des Kanzlers Adenauer und des Kriegsministers Strauß, die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die verschiedenen militärischen Manöver – all dies spricht von einer bestimmten Tendenz der Politik der regierenden Kreise Westdeutschlands.

Wir wollen die leitenden Männer der Bundesrepublik Deutschland warnen: Der Weg, den jetzt Westdeutschland nimmt, ist ein Weg, der für die Sache des Friedens in Europa gefährlich und für Westdeutschland selber unheilschwer ist. Können denn Realpolitiker jetzt auf einen erfolgreichen neuen „Marsch gen Osten“ rechnen? Seinerzeit hat Hitler gleichfalls in jeder Weise eine Kriegspsychose entzündet, um dem Überfall auf die Sowjetunion den Boden zu bereiten. Es ist jedoch gut bekannt, womit all dies geendet hat. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, welches Schicksal jene erwartet, die versuchen würden, eine neue Aggression gegen die sozialistischen Staaten zu entfesseln. Keinerlei Reden des Kanzlers Adenauer oder seines Ministers Strauß sind imstande, das Kräfteverhältnis zugunsten des Imperialismus zu ändern. Ein Marsch Westdeutschlands gegen Osten wäre für Westdeutschland ein Marsch in den Tod.

Es wäre erforderlich, jetzt endlich zu begreifen, daß die Zeiten, wo die Imperialisten ungestraft „von der Position der Stärke aus“ agieren konnten, unwiderruflich vorbei sind. Und so sehr die Militaristen sich auch bemühen mögen – sie sind außerstande, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu ändern; sie können auch nicht die geographische Lage Westdeutschlands vergessen, das, bei der jetzigen Kriegstechnik, nicht einen einzigen Tag eines Krieges von heute überdauern wird.

Wir wollen keinen neuen militärischen Konflikt. Er wäre für Westdeutschland unheilschwer und würde den Völkern der anderen Länder zahllose Nöte bringen. Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder tun alles, um die Abenteurer, die von neuen Kriegen träumen, von einem folgenschweren Schritt abzuhalten. Die westdeutschen Politiker würden vernünftig verfahren, wenn sie nüchterner die entstandene Lage einschätzen und die Entfesselung von Kriegsleidenschaften aufgäben.

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In der westlichen Presse wird jetzt viel davon geredet, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigt, sich an die Sowjetunion, die USA, England und Frankreich mit dem Vorschlag zu wenden, eine neue Viermächte-Konferenz einzuberufen, um an Stelle der Deutschen und ohne die Deutschen, die Frage der Vereinigung ihres Landes zu lösen. Doch dies ist die Fortsetzung der gleichen irrealen Politik, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft und jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt. Keinerlei Mächte haben ein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen und der DDR ihren Willen zu diktieren.

Uns ist das natürliche Streben des deutschen Volkes nach Wiederherstellung der nationalen Einheit seines Heimatlandes voll und ganz verständlich. Doch die deutschen Militaristen und ihre amerikanischen Gönner benutzen diese tiefen nationalen Gefühle nur für Zwecke, die weder mit der Wiedervereinigung Deutschlands, noch mit der Gewährleistung dauerhaften Friedens in Europa irgend etwas zu tun haben. In Wirklichkeit gehen die militärischen Kreise Westdeutschlands den Weg der Vertiefung der Spaltung des Landes, der Vorbereitung von Kriegsabenteuern.

Würde die westdeutsche Regierung nicht in Worten, sondern in Taten die Lösung der Frage der Vereinigung Deutschlands erstreben, so würde sie den einzig möglichen Weg beschreiten, der zu diesem Ziel führt. Es ist der Weg der Aufnahme der Kontakte mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, der Weg eines Übereinkommens, mit dem sowohl der DDR als auch der Bundesrepublik Deutschland gedient wäre.

Die deutsche Frage, wenn man darunter die Vereinigung der zwei jetzt bestehenden deutschen Staaten versteht, kann nur durch das deutsche Volk selber mittels Annäherung dieser Staaten gelöst werden. Eine andere Sache ist der Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland. Das ist tatsächlich eine Aufgabe, die vor allem von den vier Teilnehmermächten der Antihitlerkoalition in Zusammenarbeit mit den Vertretern Deutschlands gelöst werden muß. Die Unterzeichnung eines deutschen Friedensvertrags würde zur Normalisierung der gesamten Lage in Deutschland und in Europa als Ganzes beitragen.

Die Sowjetunion schlug und schlägt weiterhin vor, ohne Verzug an diese Sache heranzugehen.

Spricht man von den Verpflichtungen der vier Mächte Deutschland gegenüber, so muß von den Verpflichtungen die Rede sein, die sich aus dem Potsdamer Abkommen ergeben.

Man denke nur daran, welche Hauptverpflichtungen die Teilnehmerstaaten des Potsdamer

Abkommens hinsichtlich ihrer Politik in Deutschland auf sich genommen haben, welcher

Weg für die Entwicklung Deutschlands in Potsdam bestimmt wurde.

Damals übernahmen die Staaten der Antihitlerkoalition klare und bestimmte Verpflichtungen, den deutschen Militarismus auszurotten, sein Wiederaufleben auf immer zu verhindern, alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Deutschland nie mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen könnte.

Die Teilnehmer des Potsdamer Abkommens erkannten es auch für notwendig an, dem deutschen Faschismus ein Ende zu machen, den Weg zu seinem Wiederaufleben in Deutschland auf immer zu versperren, jede faschistische Tätigkeit oder Propaganda einzustellen.

Ein wichtiger Bestandteil des Potsdamer Abkommens war die Verpflichtung, die Herrschaft der Kartelle, Syndikate und anderen Monopole, das heißt jener Kräfte, die Hitler seinerzeit an die Macht brachten, seine Kriegsabenteuer förderten oder finanzierten, in der deutschen Wirtschaft zu liquidieren. Das war der Sinn der Abkommen, die 1945 in Potsdam geschlossen wurden.

Und was sehen wir nun, mehr als 13 Jahre nach der Potsdamer Konferenz?

Niemand kann bestreiten, daß die Sowjetunion ihrerseits all diese Abkommen einwandfrei eingehalten hat und daß sie im östlichen Teil Deutschlands, das heißt in der DDR, vollkommen verwirklicht sind. Und nun sehe man, wie das Potsdamer Abkommen im westlichen Teil Deutschlands – in der Bundesrepublik Deutschland – eingehalten wird, für deren Entwicklung den drei Westmächten, den USA, England und Frankreich, die Verantwortung auferlegt ist.

Man muß geradeheraus sagen, daß der Militarismus in Westdeutschland nicht nur nicht ausgerottet ist, im Gegenteil, daß er dort immer höher das Haupt erhebt. Jene Mächte, die gegen das Wideraufleben des deutschen Militarismus kämpfen sollten, haben Westdeutschland in den von ihnen geschaffenen Militärblock – die NATO – hineingezogen. Sie tun alles, um zum Wachstum des deutschen Militarismus und zur Schaffung einer mit den neusten technischen Kriegsmitteln ausgerüsteten Massenarmee beizutragen.

Auf Beschluß der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und natürlich mit der Zustimmung der NATO-Länder wird in Westdeutschland eine Armee geschaffen, die nach den Berechnungen der deutschen Militaristen stärker werden soll als die Armeen Englands und Frankreichs. Ja, womöglich ist sie auch heute schon stärker als die französische Armee, denn man muß in Betracht ziehen, daß sich ein bedeutender Teil der französischen Armee außerhalb ihres Landes befindet, in den Kolonien, in denen die Befreiungsbewegung gegen die französischen Kolonialherren tobt.

An der Spitze der wiedererstehenden Streitkräfte Westdeutschlands stehen nun wieder Hitlersche Generale und Admirale. Die westdeutsche Armee wird im Geiste der Raubtendenzen der Hitlerschen Wehrmacht, im Geiste der Revanchehetze und des Hasses gegen die Sowjetunion und andere friedliebende Staaten erzogen.

Mehr noch, mit dem Segen der Westmächte, in erster Linie der Vereinigten Staaten von Amerika, werden den deutschen Militaristen Atomwaffen in die Hände gelegt. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es bereits amerikanische Raketen, die mit Kernladungen versehen werden können.

Auch wirtschaftlich greift Westdeutschland seinen westeuropäischen Verbündeten buchstäblich an die Gurgel. Es genügt vergleichsweise zu erwähnen, daß z. B. im Jahre 1957 in der Bundesrepublik Deutschland 24 500 000 Tonnen Stahl gewonnen wurden, in England aber 22 000 000 und in Frankreich knapp mehr als 14 000 000 Tonnen.

Auch die finanzielle Lage Westdeutschlands ist heute fester als die in England und Frankreich. Man denke bloß an die Gold- und Devisenreserven dieser Länder. Laut der offiziellen Statistik betrugen diese Reserven in Westdeutschland Ende 1957 über 5,6 Mrd. Dollar gegenüber 2,37 Mrd. in England und 775 Mill. in Frankreich. All diese Wirtschaftsressourcen Westdeutschlands werden in den Dienst des sich aufrichtenden deutschen Imperialismus gestellt.

Welcher der Hauptbestimmungen des Potsdamer Abkommens betreffs der Entmilitarisierung Westdeutschlands und der Nichtzulassung des Wiederauflebens des Faschismus wir uns immer auch zuwenden mögen, gelangen wir unvermeidlich zur Feststellung, daß diese Bestimmungen, unter denen die Unterschriften der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs stehen, von ihnen verletzt wurden.

Was ist nach alledem vom Potsdamer Abkommen übriggeblieben?

Übriggeblieben ist faktisch nur eins: Der sogenannte vierseitige Status Berlins, d. h. eine Lage, wo die drei Westmächte, die USA, England und Frankreich, in Westberlin schalten und walten könnten und diesen Teil der Stadt, die die Hauptstadt der DDR ist, gewissermaßen zu einem Staat im Staat machen und, dies benutzend, von Westberlin aus Wühlarbeit gegen die DDR, gegen die Sowjetunion und andere Länder des Warschauer Vertrages treiben. Und überdies genießen sie noch das Recht eines ungehinderten Verkehrs zwischen Westberlin und Westdeutschland durch den Luftraum, über Eisenbahnen, Autobahnen und Wasserstraßen der DDR, die sie nicht einmal anerkennen wollen.

Es fragt sich, für wen ist diese Lage vorteilhaft und warum verletzten die USA, Frankreich und England nicht auch diesen Teil des vierseitigen Abkommens? Das ist vollkommen klar: Sie denken nicht daran, diesen Teil der Potsdamer Beschlüsse zu verletzen, im Gegenteil, sie klammern sich mit allen Mitteln daran, denn das Abkommen über Berlin ist für die Westmächte und nur für sie allein vorteilhaft. Die Westmächte wären natürlich nicht abgeneigt, diese „Alliierten“- Privilegien endlos zu verlängern, obwohl sie die rechtliche Grundlage, auf der ihr Verbleib in Berlin beruhte, schon längst vernichtet haben.

Wäre es für uns nicht an der Zeit, die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen, daß die wichtigsten Punkte des Potsdamer Abkommens, die die Sicherheit in Europa, also auch in der ganzen Welt betreffen, verletzt wurden und daß gewisse Kräfte fortfahren, den deutschen Militarismus aufzupäppeln und ihn eifrig in jene Richtung zu stoßen, in die man ihn vor dem 2. Weltkrieg trieb, d. h. gegen den Osten? Ist es nicht an der Zeit, unsere Einstellung zu diesem Teil des Potsdamer Abkommens zu revidieren und ihn abzulehnen?

Offenbar ist die Zeit gekommen, daß die Staaten, die das Potsdamer Abkommen unterzeichnet haben, die Überreste des Besatzungsregimes in Berlin ablehnen und damit ermöglichen, eine normale Lage in der Hauptstadt der DDR herbeizuführen. Die Sowjetunion wird ihrerseits der souveränen Deutschen Demokratischen Republik jene Funktionen in Berlin übergeben, die die sowjetischen Organe noch innehaben. Ich glaube, daß dies richtig wäre.

Mögen die USA, Frankreich und England selber ihre Beziehung zur DDR gestalten, sich selber mit ihr verständigen, wenn sie sich für irgendwelche Fragen interessieren, die Berlin betreffen. Was die Sowjetunion anbelangt, so werden wir unsere Bündnisverpflichtungen gegenüber der DDR heilig einhalten, d. h. jene Verpflichtungen, die sich aus dem Warschauer Vertrag ergeben und die wir der DDR wiederholt bestätigt haben.

Sollten irgendwelche aggressive Kräfte gegen die DDR, die ein gleichberechtigtes Mitglied des Warschauer Vertrages ist, vorgehen, so werden wir es als ein Vorgehen gegen die Sowjetunion, gegen alle dem Warschauer Vertag [an]gehörenden Länder betrachten. Wir werden uns dann zur Verteidigung der DDR erheben und das wird Verteidigung der grundlegenden Interessen, der Sicherheit der Sowjetunion, des gesamten sozialistischen Lagers und der Sache des Friedens in der ganzen Welt bedeuten.

Die Westmächte, die seinerzeit das Potsdamer Abkommen unterzeichnet haben, wirken jetzt auf eine Zuspitzung der internationalen Lage, auf eine Förderung der wachsenden militaristischen Tendenzen der deutschen Revanchehetzer hin, d. h. sie unterstützen alles, was durch das Potsdamer Abkommen verurteilt wurde. Schon seit langsam lassen sie sich nicht vom Potsdamer Abkommen leiten, sondern vom aggressiven nordatlantischen Vertrag.

Ungestraft verletzen sie beständig das Potsdamer Abkommen, wir aber bewahren diesem Abkommen die Treue, als ob sich nichts geändert hätte. Wir haben allen Grund, uns von jenen überlebten Verpflichtungen freizumachen, die mit dem Potsdamer Abkommen verbunden sind, an die sich die Westmächte klammern, und Berlin gegenüber eine Politik zu führen, die sich aus den Interessen des Warschauer Vertrages ergibt.

Führende Persönlichkeiten Westdeutschlands erklärten, daß gute Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland nur dann entstehen können, wenn die Sowjetunion aufhören werde, die DDR zu unterstützen, ja mehr noch, wenn sie die DDR in der für den Westen erforderlichen Richtung beeinflussen werde. Offenbar wünscht man in Bonn keine guten Beziehungen zur Sowjetunion, wenn man dort solche absurden Hoffnungen hegt. Wenn die Regierung der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich gewillt ist, gute Beziehungen zur Sowjetunion zu entwickeln, so muß sie ein für allemal die Hoffnungen aufgeben, daß wir aufhören würden, die DDR zu unterstützen.

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Quelle: Ansprache des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita S. Chruschtschow auf einem sowjetisch-polnischen Treffen in Moskau (10. November 1958); abgedruckt in Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe/Band 1, 10. November 1958 bis 9. Mai 1959. Bearbeitet von Ernst Deuerlein und Hannelore Nathan. Herausgegeben vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen. Alfred Metzner Verlag: Frankfurt am Main und Berlin, 1971, pp 16-20.