Kurzbeschreibung

Fünf Wochen nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 bekräftigt der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower in einem Brief an Bundeskanzler Adenauer die Position der Westmächte, dass die Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage freie Wahlen in Gesamtdeutschland und die anschließende Bildung einer gesamtdeutschen Regierung sein muss. Eisenhower macht deutlich, dass für ihn die Westintegration der Bundesrepublik einer Wiedervereinigung nicht im Weg steht, sondern die Überlegenheit des westlichen politischen und wirtschaftlichen Systems weiter erhöhen und zur Auflösung der kommunistischen Herrschaft in Ostdeutschland führen wird.

Brief Eisenhowers an Adenauer über die Ergebnisse der Washingtoner Konferenz (25. Juli 1953)

  • Dwight D. Eisenhower

Quelle

Im Verlauf der Unterredungen zwischen dem amerikanischen Außenminister und den Außenministern Großbritanniens und Frankreichs erhielt ich den Eindruck, daß es vielleicht von Nutzen wäre, wenn ich Ihnen einen Brief schriebe, in welchem die in dem Schlußkommuniqué so knapp zusammengefaßten Gedanken eingehender behandelt würden.

Ich glaube, daß sich aus der Lage in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Satellitenstaaten bestimmte klar umrissene Standarderscheinungen ergeben – Standarderscheinungen, die fraglos tiefe Auswirkungen auf die Zukunft und damit auch auf die geplante Konferenz der Außenminister der vier Mächte haben werden.

Ich halte es daher für zweckmäßig, Ihnen jetzt meine Gedanken etwas eingehender zu entwickeln.

Große historische Entwicklungen wie die letzten antikommunistischen Demonstrationen in Berlin und Ostdeutschland sind selten auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, daß künftige Geschichtsschreiber bei einer Analyse der Ursachen, die zur Auflösung des kommunistischen Weltreiches geführt haben, diese tapferen Ostdeutschen, die es gewagt haben, sich gegen die Kanonen der Tyrannei allein mit nackten Händen und starken Herzen zu erheben, mit als Haupturheber hervorheben werden. Die gleichen Geschichtsschreiber werden auch Ihre eigene außerordentliche Standhaftigkeit aufzeichnen, die Sie für die Sache des europäischen Friedens und der europäischen Freiheit seit vielen, vielen Jahren bewiesen haben.

Bei einer Analyse dieser jüngsten Entwicklung erscheinen fünf Punkte von größter Bedeutung.

Erstens war dieser Ausbruch gegen die kommunistische Unterdrückung spontan. Ich weiß, daß ich nicht im einzelnen Ihnen gegenüber die phantastische Erklärung Moskaus zu widerlegen brauche, derzufolge alle Aufstände von amerikanischen Provokateuren verursacht worden seien. Kein Provokateur irgendeiner Staatsangehörigkeit kann Menschen dazu bewegen, sich gegen anrollende Panzer mit Stöcken und Steinen zu erheben. So etwas kommt aus dem Herzen und nicht aus fremden Geldsäcken.

Zweitens war diese Erhebung nicht einfach ein momentaner Verzweiflungsakt. Die ständigen Meldungen von Unruhen in Ostdeutschland lassen auf eine fundamentale und dauernde Entschlossenheit schließen, trotz langer Jahre rücksichtsloser Sowjetisierung vollkommen und endgültig frei zu werden.

Drittens waren die Aufständischen nirgendwo „bürgerliche Reaktionäre“ oder „kapitalistische Kriegshetzer“. Es waren Arbeiter. Also waren die Märtyrer, die vor russischen kommunistischen Kanonen fielen, die gleichen Arbeiter, in deren Namen der Kreml falsch und zynisch sein Reich der Unterdrückung, sein weit ausgedehntes „Arbeiterparadies“ errichtet hat.

Viertens deuten die Tatsache des Aufstandes selbst, das Verhalten der deutschen kommunistischen Führer während der Ereignisse und ihre Handlungen seitdem auf einen vollständigen politischen Bankrott der SED hin.

Fünftens, und das ist für mich von allergrößter Bedeutung, war der Ruf der Arbeiter, als sich die Unruhen im russischen Sektor Berlins entwickelten: „Wir wollen freie Wahlen“. In diesen Worten faßte das Volk klar und einfach sein Sehnen nach Erleichterung seiner Sorgen und Leiden zusammen.

Diese fünf Tatsachen zusammen bilden den wahren Hintergrund für den Teil des Außenministerkommuniqués vom 15. [14.] Juli, der sich mit der deutschen Wiedervereinigung und freien Wahlen befaßt. Und das Kommuniqué selbst stellt, wie Sie wissen, in der Tat die diplomatische Bestätigung Ihrer eigenen früheren Erklärungen, meines Telegramms an Sie vom 26. Juni und vor allem die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 10. Juni, dar.

Die ganzen letzten Monate hindurch gab es auf beiden Seiten des Atlantiks endlose Argumente und Debatten über den Vorrang von Worten und Phrasen, wie „Wiedervereinigung“, „Friedensvertrag“, „freie Wahlen“, „Zurückziehung der Besatzungstruppen“ usw.

Ich war immer der Auffassung – und diese letzten Ereignisse haben für mich wenigstens diesen Gedanken klar bestätigt –, daß es keine Lösung ohne freie Wahlen und die anschließende Bildung einer freien gesamtdeutschen Regierung geben könne, wenn diese Lösung zur Wiedervereinigung führen soll. Davon kann dann eine logische, ordentliche Folge von Ereignissen ausgehen, die in einem ehrenhaften Friedensvertrag und dem Wiedererstehen einer neuen Vereinigten Deutschen Republik gipfelt, die ihre Aufgabe in der Wohlfahrt ihres eigenen Volkes als freundlich gesinntes und friedliches Mitglied der Völkerfamilie sieht.

Diesem ersten Schritt, freie Wahlen, wird die Regierung der Vereinigten Staaten auch weiterhin die volle Stärke ihrer politischen, diplomatischen und moralischen Unterstützung leihen.

Es gibt in Deutschland, bei den westeuropäischen Nationen und sogar in meinem eigenen Lande aufrichtige Menschen, die zu der Überzeugung gelangt sind, daß freie Wahlen und damit auch die Wiedervereinigung Deutschlands der Konzeption der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die von beiden Häusern Ihres Parlaments ratifiziert wurde und jetzt vor Ihrem Verfassungsgerichtshof anhängig ist, widersprechen und diese möglicherweise ausschließen. Ich habe die Theorie nie akzeptiert, daß sich die EVG und die Wiedervereinigung Deutschlands gegenseitig ausschließen. Ganz im Gegenteil.

Wie die drei Außenminister am Ende ihrer letzten Konferenz in Washington erklärt haben, ist die Europäische Gemeinschaft als solche als notwendig anzusehen und steht in keinem Zusammenhang mit den bestehenden internationalen Spannungen, da sie dem ständigen Bedürfnis ihrer Mitglieder und ihrer Völker nach Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt entspricht.

Es war seit langem meine Überzeugung, daß die Stärkung der Bundesrepublik durch Annahme der EVG, des Deutschlandvertrages und durch weitere Fortschritte bei der Integration Europas die Aussichten auf eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands nur fördern kann, dadurch, daß sie die Anziehungskraft dieses blühenden Westdeutschlands gegenüber der Sowjetzone erhöht, eine Anziehungskraft, die bereits durch den stetigen Zustrom von Flüchtlingen in den letzten Monaten sowie durch die am 17. Juni begonnenen Demonstrationen bewiesen wurde. Dieser wachsende Kontrast zwischen West- und Ostdeutschland, letzteres mit seinem bankrotten Regime und seiner verarmten Wirtschaft, wird auf die Dauer Bedingungen schaffen, die die Liquidierung der gegenwärtigen kommunistischen Diktatur und der sowjetischen Besetzung ermöglichen müßten.

Obgleich eine künftige gesamtdeutsche Regierung selbstverständlich nach ihrem Ermessen den Grad bestimmen können muß, in dem sie Verteidigungs- und sonstigen Abmachungen beizutreten wünscht, die im Einklang mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen, kann ich mir nur schwer vorstellen, daß sie angesichts anderer noch schwer bewaffneter Nationen den Weg vollständiger und verfrühter Abrüstung einschlagen würde. Ich glaube, daß dies eine Angelegenheit ist, die ernste Aufmerksamkeit verdient. Wer in Deutschland glaubt eine leichte, sichere Lösung durch verteidigungslose Neutralisierung vorschlagen zu können, sollte sorgfältig darüber nachdenken, ob ein solcher Weg wirklich klug und sicher wäre.

Ich spreche für Amerika, und ich glaube, die übrige freie Welt teilt diese Auffassung, wenn ich sage, daß es in den letzten fünfzig Jahren genug Blutvergießen, genug Elend und genug Zerstörung gegeben hat, um die Völker und Regierungen des Westens von jedem Gedanken an eine militärische Aggression abzuschrecken. Aber der Friede, den wir alle so sehnlich erstreben, kann nicht durch Schwäche erhalten werden. Die EVG wird die einfachste, unzweideutigste und klarste Demonstration der Stärke für den Frieden sein.

Niemand kann voraussagen, was die kommenden Monate bringen werden. Aber es läßt sich mit Gewißheit sagen, daß die Arbeiter des sowjetischen Sektors von Berlin und die Arbeiter Ostdeutschlands mit den Arbeitern der Tschechoslowakei etwas begonnen haben, das in den Annalen der Geschichte einen hervorragenden Platz einnehmen wird. Möge das Schlußkapitel dieser Geschichte das Wiedererstehen der Freiheit, des Friedens und des Glücks verzeichnen.

Quelle: „AUSSENMINISTERKONFERENZ IN WASHINGTON VEREINIGTE STAATEN. DEUTSCHLAND (WEST-). GROSSBRITANNIEN. FRANKREICH. SOWJETUNION. Außenpolitik. Einheitsbestrebungen. PLEVEN-PLAN“, Brief Eisenhowers an Adenauer über die Ergebnisse der Washingtoner Konferenz (25. Juli 1953), in Keesing’s Archiv der Gegenwart vom 29. Juli 1953, S. 4092–93.