Kurzbeschreibung

Seit 1948 wurden wiederholt politisch aktive Personen aus West-Berlin in die SBZ bzw. die DDR verschleppt, wo sie häufig in Scheinprozessen verurteilt und inhaftiert wurden. Im Juli 1952 wurde der Jurist Walter Linse, der 1949 aus dem sowjetischen Sektor nach West-Berlin geflohen war, entführt. Linse arbeitete für den westdeutschen Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der Menschenrechtsverletzungen in der DDR dokumentierte. Die steigende Zahl der Entführungen und die sich deshalb unter der Bevölkerung Berlins ausbreitende Angst beschäftigten bald auch den Bundestag. Am 16. Juli 1952 nahm der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser (CDU) dazu Stellung und unterstützte die Forderungen nach stärkeren Schutzmaßnahmen an der deutsch-deutschen Grenze, die von SPD und FDP eingebracht worden waren.
Walter Linse wurde nach Inhaftierung und Verhör durch das MfS an den sowjetischen Geheimdienst übergeben und 1953 in Moskau wegen vermeintlicher Spionage und antisowjetischer Propaganda hingerichtet.

Bundesminister Jakob Kaiser fordert nach Entführungen schärfere Schutzmaßnahmen an der innderdeutschen Grenze an (16. Juli 1952)

Quelle

 /Kaiser: Mehr als 100 deutsche Bürger hat das sowjetzonale Terrorregime seit 1948 aus Berlin und der Bundesrepublik verschleppt, 83 Deutsche wurden durch List entführt, 86 mit Gewalt. Wir erinnern uns an jeden ihrer Namen, und wir gedenken in aller Anteilnahme des Schmerzes und der Sorge ihrer Angehörigen, die zum Teil seit Jahren auf ihre Rückkehr warten.

Der neueste und zugleich einer der krassesten Fälle von Menschenraub hat Dr. Walter Linse aus Berlin-Lichterfelde die Freiheit gekostet. Wenn je die totale Missachtung jeglichen Menschenrechtes vor aller Welt bekundet wurde, dann hat es das sowjetzonale Regime mit diesem Menschenraub von Dr. Walter Linse getan.

Mehr noch, meine Damen und Herren. Die sowjetzonale Presse hat mit weiteren Entführungen gedroht, aus Berlin und aus der Bundesrepublik. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, wird sich bei den Besatzungsmächten unablässig und nachdrücklich dafür verwenden, dass sie auf die sowjetische Besatzungsmacht einwirken, Walter Linse freizulassen.

Die Bundesregierung wird ferner dem Europarat und den Vereinten Nationen sämtliche Fälle von Menschenraub auf deutschem Boden zur Kenntnis bringen. Sie wird diese internationalen Organisationen um Schutz und um Hilfe gegen die fortwährende Bedrohung deutscher Staatsbürger ersuchen, und sämtliche Fälle von Menschenraub werden in einem Weißbuch zusammengestellt.  Verbrechen und Reaktion des sowjetzonalen Regimes zeigen, dass die Bedrohung der Freiheit deutscher Bürger in West-Berlin und in der Bundesrepublik eines umfassenden Schutzes und umfangreicher Sicherungsmaßnahmen bedarf. Dabei, meine Damen und Herren, sei vorweg bemerkt: Berlin und die deutsche Bundesrepublik sind echte demokratische Staatswesen, sie können bei den zu treffenden Schutzmaßnahmen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen.

Das muss gesagt werden, meine Damen und Herren, gegenüber jenen Stimmen, die Repressalien fordern. Wenn dem entgegengehalten wird, dass die SED und ihre Schergen nur die Sprache der Gewalt verstehen, so kann das für uns nicht Veranlassung sein, Unrecht mit Unrecht zu beantworten, sondern wir müssen andere Abwehr und Vergeltungsmaßnahmen treffen.

Die Bundesregierung hat mit Genugtuung davon Kenntnis genommen, dass der Senat von Berlin alle Ausfallstraßen von Westberlin nach der Sowjetzone mit den notwendigen Sicherungen gegen Entführung versehen hat.  Es wurde ein verstärkter Polizeischutz  an der Zonen- und an der Sektorengrenze eingerichtet.

Die Bundesregierung wird den Senat von Berlin und die alliierten Stadtkommandanten von Berlin bitten, alle notwendigen Sicherungsmaßnahmen auch zum persönlichen Schutz besonders gefährdeter Personen zu treffen. Nach Auffassung der Bundesregierung kann aber der Gefahr nur dann wirksam begegnet werden, wenn Bevölkerung, wenn Polizei und Besatzungsmächte allen nur irgendwie verdächtigen Vorgängen mit erhöhter Aufmerksamkeit nachgehen.  Zum Schutze der Bevölkerung im Bundesgebiet gegen Verschleppung bedarf es nach Auffassung der Bundesregierung einer noch umfangreicheren Sicherung der Zonengrenzen durch Sicherung des Bundesgrenzschutzes.

Meine Damen und Herren, solange unser Deutschland geteilt ist, bleibt das Leben und die Freiheit der Bevölkerung und ihre Sicherheit bedroht. Und deshalb gibt es nur eine wirksame, eine endgültige Hilfe für alle Deutschen. Das ist unsere Wiedervereinigung, auf dieses Ziel ist unsere Politik gerichtet und bleibt es.

 

/Vorsitzender: Ich bitte die Damen und Herren, die beiden Anträgen zuzustimmen wünschen, sich von ihren Plätzen zu erheben.

Ich bitte um die Gegenprobe.

Enthaltungen? 

Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass die beiden Anträge mit ganz überwiegender Mehrheit des Hauses gegen wenige Stimmen angenommen sind.

/Reporter: Gegen die beiden Anträge der FDP und SPD stimmten allein die wenigen Kommunisten.

Bundesminister Jakob Kaiser fordert nach Entführungen schärfere Schutzmaßnahmen an der innderdeutschen Grenze an (16. Juli 1952), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/die-besatzungszeit-und-die-entstehung-zweier-staaten-1945-1961/ghdi:audio-5015> [23.04.2024].