Kurzbeschreibung

Zwei Tage vor der ersten Bundestagswahl im August 1949 hielt der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher die folgende Wahlansprache im Rundfunk. Schumacher betonte die Signalwirkung dieser Wahlen, schließlich fanden sie gemeinsam in allen drei Westzonen statt - was den Willen zu einer deutschen Einheit unterstreiche. Gleichzeitig seien die Wahlen auch von großer Bedeutung für das deutsch-französische Verhältnis. Die SPD erhielt bei der Bundestagswahl mit 29,2% zwar die meisten Stimmen, die Regierung wurde jedoch unter Konrad Adenauer aus einer Koalition von CDU, FDP und DP gebildet. Damit begann für die SPD eine lange Phase der politischen Opposition, die bis 1966 andauern sollte.

Wahlaufruf Kurt Schumachers zur ersten Bundestagswahl (12. August 1949)

Quelle

 /Schumacher: Der 14. August ist der erste politische Wahltag in Deutschland. Er wird seine Bedeutung nach innen und außen haben, er bestimmt die Entwicklung, in der die deutsche Politik geht, er bestimmt aber auch die Meinung über Deutschland im Ausland.  Der 14. August ist aber auch der erste Tag, an dem die Bewohner der französisch besetzten Zone zusammen mit den Einwohnern der Bizone einen politischen Willen bilden. Das ist von größter Bedeutung, denn Westdeutschland, ein geeintes und in sich ausgeglichenes und gefestigtes Westdeutschland, ist die einzige Möglichkeit, einen festen Boden für den Kampf um die deutsche Einheit zu finden. Westdeutschland muss politisch nach innen und außen so frei und demokratisch sein, muss sozial eine solche Qualität von Gerechtigkeit und gutem Willen aufweisen, dass es eine magnetische Wirkung auf den deutschen Osten ausstrahlt. 

Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ist gewiss politisch und vielleicht mehr noch menschlich das Kernstück der Reorganisation Europas. Es hat keinen Zweck, sich in Beteuerung gegenseitigen guten Willens zu erschöpfen. Dieser gute Wille ist bei der größten Mehrzahl des deutschen Volkes gegeben, und dieser gute Wille wird sich nach der Tradition des französischen Geistes auch bei der Mehrheit der Franzosen durchsetzen. Aber hart im Raum stoßen sich die Sachen, und es gibt Differenzpunkte, und ich meine, es ist besser, diese Differenzpunkte in sachlicher Auseinandersetzung durchzukämpfen, als sie zu ignorieren und Gefühle der Abneigung und des Misstrauens auf beiden Seiten entstehen zu lassen. Bei der Auseinandersetzung über die Meinungsverschiedenheiten, wenn sie nur von dem guten Willen zur Einigung getragen sind, wird sich mehr und Besseres ergeben als bei bloßen leeren Deklamationen.

Nun, in Bonn ist das deutsche Staatsgrundgesetz geschaffen worden. In Bonn hat es Streitigkeiten zwischen den deutschen Parteien gegeben und damit auch Streitigkeiten zwischen einzelnen deutschen Parteien und einzelnen Besatzungsmächten. Legen wir die Karten auf den Tisch: das Prinzip des Föderalismus ist ein Begriff, unter dem sich heute jeder in Deutschland etwas anderes vorstellt und offenbar auch im Ausland. Man kann über diesen Föderalismus streiten und ohne Zweifel wird die deutsche Bundesrepublik föderativer sein als etwa die Republik von Weimar. Die Praxis muss es beweisen, aber es ist nicht möglich und ist keine gute Sache, das Prinzip des Föderalismus als Waffe gegen Deutschland einzusetzen, um es politisch möglichst impotent zu erhalten. Mit einer Situation eines Rheinbundes würde sich das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, einige Eventualseparatisten ausgeschlossen, nicht einverstanden erklären können und würde den Versuch, dieses Prinzip zu praktizieren, als eine feindselige Haltung gegen das deutsche Volk empfinden. Wir brauchen einen starken Bund, wir möchten die Länder so föderativ wie möglich, aber wir müssen die Zentralgewalt so stark wie nötig haben. Diese Zentralgewalt hat nämlich die Aufgaben, die inneren und äußeren Kriegsfolgelasten zu tragen, das können keine einzelnen Länder und das sollen keine einzelnen Länder. Und vielleicht überlegt man sich auch auf der Seite der französischen Regierung und des französischen Volkes, dass man ein staatsrechtliches Prinzip, das man für die Regierung des eigenen Landes für völlig ungeeignet hält, nicht für die Regulierung der staatsrechtlichen Verhältnisse eines anderen Landes durchsetzen sollte.

Es ist gut und richtig von der deutschen Sozialdemokratie gewesen, die Kompetenzen des Bundes in Bonn auch auf die Gefahr einer großen, peinlichen Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten durchzusetzen. Jetzt hat Bonn wenigstens das Zutrauen der gutwilligen Deutschen.  Ein Westdeutschland der 11 Vaterländer, ein Westdeutschland etwa im Stil der alliierten Intervention vom 2. März dieses Jahres, hätte das Zutrauen der Deutschen nicht. Und die deutsche Demokratie muss, wenn sie sich durchsetzen soll, wenn sie vor allem den totalitären Ansturm aus dem Osten abwehren und einen Neonationalismus und einen Neofaschismus in Deutschland niederhalten soll, doch das Zutrauen der Menschen auf die Entwicklungsmöglichkeit zu einer besseren Zukunft haben.  Nun, speziell in der französischen Zone scheint mir aber der Begriff dieses überbetonten Föderalismus völlig unangebracht zu sein. Die drei Länder der französischen Zone sind doch Länder ohne Geschichte, sind künstliche Gebilde. Alle drei Länder sind politisch und ökonomisch lebensunfähig, alle drei Länder haben noch innerhalb des deutschen Rahmens einen starken historischen und wirtschaftlichen Zusammenhalt mit anderen deutschen Ländern. Und die Widersinnigkeit dieser staatsrechtlichen Konstruktion zeigt sich ja am besten in den wirtschaftspolitischen und finanziellen Ergebnissen der Wirtschaft dieser Länder.  Keines dieser Länder ist ein Land, das imstande ist, sich selbst zu halten. Jedes dieser Länder hat mehr noch als andere deutsche Länder die größten Schwierigkeiten mit den Besatzungskosten. Und die Besatzungskosten stehen doch überall in dauernder Konkurrenz mit den Soziallasten, und man wird es keinem Deutschen verübeln können, wenn er Soziallasten für wichtiger und vordringlicher hält als überhöhte Besatzungskosten. Alle deutschen Länder, und gerade die Länder der französischen Zone, sind das beste Beispiel dafür, sind ohne Aussicht für eine reale Zukunft, wenn nicht die Finanzhoheit beim Bunde liegt. Und die Finanzhoheit des Bundes wird wohl im Sinne einer Hilfestellung von keinem deutschen Land stärker beansprucht werden als von den drei Ländern der französischen Zone.

Der Finanzausgleich allein kann diese Länder vorläufig einmal retten, aber alle Länder müssen einer innerdeutschen staatsrechtlichen Neueinteilung und Neukonstruktion zugeführt werden. Es hat keinen Zweck und ist ohne Zweifel kein Beitrag zur europäischen Befriedung, wenn die Länder der französischen Zone unter ökonomisch und finanziell und sozial besonders schwierigen Bedingungen leben müssen.

Diese Dinge müssen ausdiskutiert und ausgetragen werden, und darum ist die Schaffung der Trizone gerade für die Bewohner dieser drei Länder ein Schritt nach vorne.  Ein Schritt nach vorne, der, wenn er von der Begünstigung und dem Wohlwollen der Besatzungsmacht getragen wird, für Frankreich nicht weniger bedeutsam im positiven Sinne sein kann als für Deutschland auch.

Vielleicht klingt das Wort von der deutschen Einheit anhand der historischen Erlebnisse der letzten 80 Jahre den Franzosen nicht lieblich in die Ohren. Aber ohne deutsche Einheit gibt es ja nicht die Erzeugung des guten Willens zur europäischen Kooperation. Es ist nicht möglich, auf die Dauer einem einzigen großen Volke in der Welt die Einheit vorzuenthalten und allen andern zu gewähren.  Dieses Vorenthalten aber muss aus der Welt geschafft werden. Es muss bei der deutschen Bevölkerung, beim ganzen deutschen Volk, der Eindruck entstehen, dass nicht eine fiktive Sicherheit, sondern eine reale Demokratie und eine reale europäische Gesinnung der Beweggrund alliierter vor allem französischer Politik auf dem Kontinent sind.

Das deutsche Volk gerade in diesen geschwächten Gebieten hat jetzt bei der Vereinigung mit der Bizone neue Probleme, die auf die Dauer gesehen nicht leichter sind. Diese neuen Probleme bestehen in der Hebung der Kaufkraft im dichtesten Zusammenhang mit den arbeitenden Massen der Bizone. Das Ergebnis der Frankfurter Wirtschaftspolitik, also der Parteidiktatur der Christlichen Demokraten, der Freien Demokraten und der bürgerlichen Splitter, ist eine Schwächung der Kaufkraft auf etwa 60 % der Kaufkraft von 1936. Das Ergebnis ist eine steigende Arbeitslosigkeit bei einer sinkenden Anzahl von offenen Stellen und bei schrumpfendem Nationaleinkommen. Wir sind in Westdeutschland jetzt zugedeckt mit einer Fülle von Versprechungen von innen und außen. Und die Versprechungen des Frankfurter Wirtschaftsrats bezüglich einer günstigen Entwicklung der Konjunktur, einer Behebung der Arbeitslosigkeit, einer Erhebung der Massenkaufkraft und einer Verstärkung der Kreditzufuhren sind bisher alles bloße Versprechungen, falsche Prophezeiung und Irreführung gewesen. Und darum wird das deutsche Volk gerade in den Ländern der französischen Zone stärker als bisher die sozialistischen Konsequenzen der Demokratie in Europa bejahen und durch seinen Wahlzettel verstärken müssen.  Wenn die Deutschen, um einen neuen Staat des europäischen Ausgleichs zu entwickeln, mit Recht eine Politik der permanenten Interventionen der Besatzungsmächte ablehnen, dann lehnen sie auch ab eine Intervention kulturpolitischer Art, die von vornherein ohne Rücksicht auf ein Deutschland der nationalen Einheit die konfessionelle Situation in Westdeutschland machtpolitisch ausnutzen möchte. Wir werden zu einem Frieden und zu einem Ausgleich mit den kirchlichen Ansprüchen kommen, aber um dahin zu gelangen, müssen wir erst einen festen Staat errichtet haben, bei dem der entscheidende Faktor der deutsche demokratische Staatsbürger ist, der Staatsbürger mit dem guten Willen zur europäischen Zusammenarbeit.