Kurzbeschreibung

Die Journalistin Marion Gräfin Dönhoff, selbst 1945 aus ihrer Heimat in Ostpreußen nach Westdeutschland geflohen, beschreibt in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit im September 1947 Menschen in einem Eisenbahnabteil.

Marion Gräfin Dönhoff, „Menschen im Abteil“ (18. September 1947)

  • Marion Gräfin Dönhoff

Quelle

Menschen im Abteil

Beobachtungen auf einer herbstlichen Zugfahrt durch Deutschland

Jede Eisenbahnfahrt ist ein Erlebnis. Nicht nur, weil man immer von neuem darüber erstaunt, wieviel Menschen in einen Waggon hineingehen und wie mannigfaltig die Variationsbreite der verschiedenen Temperamente ist – also nicht nur wegen dem, was drinnen im Wagen vor sich geht, sondern auch in bezug auf das, was draußen vorüberzieht. Wobei dies nun wirklich eine optische Täuschung ist, denn das „Draußen”, das Fremde in dem objektiven Bild der Landschaft, sind ja doch zweifelsohne die Reisenden beziehungsweise der Zug. Wahrscheinlich liegt es an diesem Subjekt-Objekt-Wandel, daß mich Eisenbahnfahren immer traurig macht. Es ist etwas Merkwürdiges, wenn aus dem, was eigentlich das Leben ist, eine Landschaft wird, die an einem vorbeigleitet mit Stoppelfeldern, Kartoffelfeuern und weidendem Vieh – flüchtige Bilder, die man nicht festhalten kann und für die man selber nur ein Fremdling ist.

Dieser schon herbstliche Nachmittag mit dem südlich blauen Himmel des bayrischen Vorgebirges ist von einer seltsamen Wehmut umwoben. Eine alte Frau klagt [] über die Ungastlichkeit dieses Landes, in das der Bombenkrieg sie verschlagen hat. Sie träumt von ihrer Heimat, dem Ruhrgebiet, wo ihr Mann ein kleines Häuschen hatte mit einem Garten, in dem im Herbst die Dahlien blühten. Dreißig Jahre hatten sie beide gearbeitet, und als dann der Traum ihres Lebens Wirklichkeit geworden war, kam der Krieg und die Bombenangriffe, und ein Schutthaufen war alles, was von den Leiden und Freuden dieses Lebens zurückblieb. Niemand antwortet, die Mitreisenden hängen alle ihren eigenen Gedanken nach.

[] Plötzlich höre ich die Stimme des jungen Polen von gegenüber fragen: „Du auch Heimweh?“ Ich bin ganz betroffen von so viel Hellsichtigkeit, und er fügt hinzu: „Bei uns die Wälder jetzt auch schön.“ Damit lassen wir es im wesentlichen bewenden, denn die Gewißheit unserer Brüderlichkeit ist tiefer als der Sprachschatz und läßt sich nur noch mit einer Zigarette bekräftigen. Merkwürdig zu denken, daß niemand nach Haus kann, wir nicht, weil unser Land so klein geworden ist, und er nicht, obgleich das seine so viel größer und geräumiger geworden ist. Es tut mir jetzt leid, daß ich beim Einsteigen gedacht habe, ob wohl der Vorbesitzer seiner Jacke, die aussieht, als habe sie bessere Tage auf Golfplätzen und internationalen Turnieren gesehen, ihretwegen sein Leben vielleicht hat lassen müssen. Überhaupt sind plötzlich alle Aspekte verändert, und alle Mitreisenden erscheinen mir irgendwie liebenswert.

Da ist zum Beispiel noch eine auffallende, ältere Dame, eine Wienerin, die trotz ihrer „abgerissenen“ Kleidung und einem Sack als einzigem Gepäckstück etwas unglaublich Souveränes hat. Sie spricht leise und scheu, eigentlich mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber, und ihre Gesten sind wie die einer großen Künstlerin. Ich muß an jene Frau denken, von der Rilke spricht, die jeden Tag um eine bestimmte Stunde im Jardin Luxembourg in einem grünen Kleide saß, jahraus, jahrein, und auf ihren verschollenen Geliebten wartet.

Sicher ist sie ihr ähnlich gewesen. Sie kommt aus einem tschechischen Lager, und man muß dankbar sein für ihren Entschluß, uns nichts zu erzählen von dem, was sie erlebt hat. Jetzt fährt sie zu ihrem Mann, der in einem Dorf im Allgäu Zuflucht gefunden hat, und ist wie ein Kind, verwundert und beglückt über die Berge und die Hilfsbereitschaft der Menschen. Sie hat ihren Mann zwei Jahre lang nicht gesehen – []

Und dann macht sie zahllose Pläne, wie sie es anstellen könne, ihn durch ihr unvorhergesehenes Erscheinen nicht zu erschrecken. Sie plant, verwirft und prüft von neuem. Vielleicht könnte sie von der Bahn einen Boten über Land schicken, der ihm bestellt, ein Herr aus Wien sei auf der Bahn und möchte ihn sprechen? Bedenken bei ihrem Gegenüber: „Wer sollte wohl so spät am Abend acht Kilometer über Land gehen?“ – „Bezahlen?“ – „Für Geld tut hier keiner was.“ – Sie sieht ganz hilflos aus bei diesen Einwendungen, und alle Beteiligten sind ebenfalls ratlos gegenüber so viel Weltfremdheit. Vielleicht ist es die allgemeine Ratlosigkeit, die diese seltsame Atmosphäre der Gemeinsamkeit erzeugt. []

Quelle: Marion Gräfin Dönhoff, „Menschen im Abteil. Beobachtungen auf einer herbstlichen Zugfahrt durch Deutschland”, Die Zeit, 18. September 1947.