Quelle
Vortrag des Leiters der Erziehungsabteilung des Büros der Militärregierung der Vereinigten Staaten, John W. Taylor, vor dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus in München
Herr Minister, Mitglieder des Ministeriums, verehrte Anwesende!
Mit großer Freude ergreife ich diese Gelegenheit, mit Ihnen die Grundlinien der Bildungspolitik der Amerikanischen Militärregierung zu besprechen.
Unser Ziel ist die Demokratisierung Deutschlands. Ich weiß, daß Sie gewillt sind, an dieser Aufgabe mit uns zusammen zu arbeiten. In Ihren und in unseren Händen liegt die Verantwortung für die Jugend und damit für das Schicksal des zukünftigen Deutschland.
In der Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Jeder einzelne, der „common man“, wie wir sagen, trägt die Mitverantwortung für die Handlungen der Vertreter des Staates. Die Erziehung aller zu staatsbürgerlicher Gesinnung und Haltung ist daher das erste und unerläßliche Erfordernis. Darüber hinaus wird die Demokratie die beste sein, in der jedem einzelnen die höchste Entwicklung für seine individuellen Anlagen ermöglicht wird, welches auch immer die äußeren Bedingungen seiner Geburt sein mögen. […]
Lassen Sie mich zu den eigentlichen Schulfragen kommen. Die deutsche Schule spiegelt die undemokratische Spaltung des deutschen Volkes in soziale Gruppen und Klassen. Die demokratische Schule sichert allen Bürgern eine gleichwertige, jedoch nach Begabung und Berufsrichtung verschiedene Bildungsmöglichkeit. Sie ist in diesem Sinne eine differenzierte Einheitsschule.
Die Unterscheidung zwischen der Schule der Massen und der Schule der führenden Schichten hat zu einer Zweiheit selbst in der Schulverwaltung und in der Finanzierung geführt. Die einheitliche demokratische Schule bedarf einer einheitlichen Schulverwaltung und einer gleichmäßigen Finanzierung aller Schulgattungen aus allgemeinen Steuermitteln. Die gesamte Schulverwaltung ist bei der Regierung des jeweiligen Landes und bei den Bezirksregierungen zu konzentrieren. Auch die Gemeinden sollen am Leben der Schule in mannigfacher Form und im großen Umfang teilnehmen.
Einheitlich soll auch der Aufbau der Schule sein. Der Schulkindergarten war in dem Lande Froebels bisher ein Stiefkind. Auch wenn die heutige Notzeit überwunden ist, wird er als zunächst fakultativer Unterbau des Schulwesens unerläßlich sein. Er soll, soweit irgend möglich, geschaffen werden. Die Dauer der nach dem 4. Jahr innerlich gegliederten Grundschule ist am besten auf 6 Jahre festzulegen. Aus dieser tritt jedes Kind in die weiterführende Schule über, die nur in diesem Sinn eine „höhere“ ist. Damit hört die Überschneidung von Volks- und höherer Schule auf. Auch die höhere Schule muß in sich gegliedert sein. Die akademische Schule, die bisher allein den auszeichnenden Namen der höheren Schule trug, wird zu einem relativ schmalen Zweig mit einem, im wesentlichen gemeinsamen dreijährigen Unterbau und einer gegabelten dreijährigen Oberstufe. Im Rahmen dieser Oberstufe bleibt reiche Möglichkeit für die Pflege der Humaniora, die ich gewiß ebenso schätze wie Sie. Jedoch glaube ich nicht, daß sie nur in einer acht- bis neunstufigen Schule richtig gepflegt werden können, in der etwa 40% der Unterrichtsstunden den alten Sprachen gewidmet werden, wie es ein uns kürzlich eingereichter Plan vorschlägt.
Die traditionellen, stark sozial bedingten Typen der höheren Schule fallen also nach unserem Plan fort. Neben dem akademischen stehen die von der großen Mehrheit – 90% und mehr aller Schüler! – besuchten, allmählich mehr und mehr berufsgerichteten, ihm völlig gleichwertigen Zweige. Die allgemein bildenden Fächer bleiben der Kern aller parallelen Zweige. Um die Gleichwertigkeit der akademischen und der nicht akademischen Zweige zu betonen, ist es erwünscht, daß sie, wo immer möglich, in einer Schule vereint werden.
Die volle Schulpflicht soll für alle Kinder des deutschen Volkes bis zum vollendeten 15. Lebensjahre ausgedehnt werden. Damit machen wir uns eine Forderung zu eigen, die von der Lehrerschaft schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik aus sozialen und pädagogischen Gründen erhoben worden ist. Ebenso wenig neu ist hier die von uns gewünschte Ausdehnung der teilweisen Schulpflicht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr und die Erhöhung der Stundenzahl in den berufsbegleitenden Schulen auf etwa 12 pro Woche.
Fünf Schwierigkeiten, die einem solchen einheitlichen Schulaufbau entgegenstehen können, sind bei gutem Willen überwindbar.
1. Er setzt Schulgeldfreiheit und reichliche Erziehungsbeihilfen voraus. Alle Länder der amerikanischen Zone haben in ihren Verfassungen in dieser Richtung bedeutende Schritte vorwärts getan. Im Interesse der Volksbildung sollte allmählich die von uns vorgeschlagene restlose Lösung angenommen werden.
2. Die große Mehrzahl der Schulen ist einklassig. Die Gliederung, die hier vorgeschlagen wird, setzt eine gewisse Größe der Schule voraus. Mit der Konsolidierung, wie wir den Prozeß der Zusammenlegung und Differenzierung der Schulen in Amerika nennen, sollte heute schon begonnen werden.
3. Das deutsche Volk ist konfessionell gespalten. Wo die Verfassung konfessionelle Schulen zuläßt, oder wo sie die Regel sind, da besteht die Gefahr der leistungsunfähigen Zwergschule. Ich hoffe, daß beide Konfessionen sich in jedem Fall freundschaftlich verständigen, um diese Schwierigkeit zu beseitigen.
4. Privatschulen werden auch in Zukunft zugelassen werden. Sie können im allgemeinen nicht die mannigfache Gliederung der öffentlichen Schulen erreichen. Sie sollten nur dort zugelassen werden, wo sie erzieherische Pläne verwirklichen, die noch außerhalb des Rahmens der allgemeinen Schule liegen, d. h. als Versuchsschulen.
5. Die größte Schwierigkeit liegt in der jahrhundertalten Tradition der deutschen Schulformen. Familien, deren Mitglieder seit Generationen mit klassischer Bildung aufgewachsen sind, hängen daran mit großer Liebe und halten sie jeder anderen weit überlegen. Bitte, sehen Sie jedoch die Wirklichkeit! Die höhere Schule im alten deutschen Sinn, die privilegierte Schule, ist ein Unrecht gegen die Massen des deutschen Volkes und ein Anachronismus in einer demokratisch werdenden Welt.
Der Lehrplan der deutschen Schule hat zweifellos der Jugend einen reichen Schatz an Kenntnissen übermittelt. Aber die staatsbürgerlich-soziale Erziehung, ohne die eine Demokratie, wie gesagt, nicht bestehen kann, war immer ihr Stiefkind. Darum legen wir den größten Wert darauf, daß nicht nur die Sozialwissenschaften endlich die ihnen gebührende Stellung im Lehrplan erhalten, sondern daß den Schülern auch überall Gelegenheit zu einer demokratischen Betätigung in verantwortlicher Selbstregierung und im täglichen Arbeitsunterricht gegeben wird. Wir hoffen, daß die Kommission von Lehrern der Sozialwissenschaften, die von Washington geschickt worden ist, und im Augenblick Deutschland bereist, den deutschen Schulen reiche Anregungen bringen wird. […]
Die deutschen Universitäten haben in der Vergangenheit Hervorragendes in der wissenschaftlichen Ausbildung der Jugend geleistet. Aber ihre politische Haltung im ersten Weltkrieg und in der Hitlerzeit war sehr unerfreulich. Mit zu wenig Ausnahmen waren sie nationalistisch und militaristisch gesinnt. Es ist daher wohl nicht richtig, sich über die Schärfe der Denazifizierung zu beklagen. Wo Mißgriffe vorgekommen sein sollten, werden die Entlassungen nach genauer Prüfung des Einzelfalles wieder rückgängig gemacht werden. Aber der große Mißgriff war doch nicht die Denazifizierung, sondern die Annahme der Nazi-Doktrin und der Mangel an Zivilcourage bei zu vielen Universitätslehrern. Vergessen Sie das nicht!
Es ist unzweifelhaft, daß die höchsten Schulen des Landes die Führung in der Demokratisierung übernehmen müssen. Darum werden auch sie manche durch Alter geheiligte, vornehme Tradition aufgeben müssen. Ich nenne die Gildenverfassung, die sehr aristokratisch ist, die soziale Gliederung der Studentenschaft, die sich weder in den Zeiten der Republik, noch unter den Nazis, noch bis heute entscheidend genug gewandelt hat; ich nenne die herkömmliche autoritäre Methode der Wissensübermittlung in Riesenvorlesungen und die Vernachlässigung der Sozialwissenschaften und staatsbürgerlichen Bildung. Die von der Heidelberger Rektoren-Konferenz eingesetzten Ausschüsse sind bisher noch nicht zusammengetreten. Wir erwarten, daß es bald geschieht, und daß sie ganze Arbeit leisten.
Es ist unser Bemühen, den Universitäten in jeder Weise zu helfen, damit sie ihre alte wissenschaftliche Höhe wieder erreichen. Aus diesem Grunde haben wir den Plan der Forscherhochschule in Berlin mit besonderer Liebe gefördert. Wir hoffen, daß von hier reiche Anregungen ausgehen und das wissenschaftliche Leben Deutschlands befruchtet wird. Es ist mir eine angenehme Pflicht, all denen zu danken, die sich in den drei Ländern für diesen Plan so warm eingesetzt haben und die Mittel dafür bereitstellen.
Ich habe das Zutrauen, daß Sie unseren demokratischen Richtlinien gern folgen werden, und erwarte Ihre Vorschläge zu ihrer Durchführung.
Seien Sie gewiß, daß alle Mitglieder der Erziehungsabteilung in Berlin und in den Ländern gern bereit sind, Ihnen bei Ihrer schweren Arbeit alle Hilfe zu gewähren, die in ihren Kräften steht.
Quelle: Hans v. Merkt, Hg., Dokumente zur Schulreform in Bayern, München 1952, S. 54–59; abgedruckt in: Udo Wengst, Hans Günther Hockerts, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten, Baden-Baden 2001, S. 290–292.