Kurzbeschreibung

Nach Kriegsende wird die Forderung nach Wiedergutmachung für die NS-Opfer in der Öffentlichkeit noch akzeptiert, aber später wächst die Kritik an der angeblich zu großzügigen Entschädigung der Opfer und dem angeblichen Missbrauch bestehender Regelungen. Karl Hauff, Leiter des Landesausschusses Württemberg-Baden der vom Naziregime politisch Verfolgten, wendet sich im Februar 1947 gegen die falschen Vorstellungen, die in der Bevölkerung über eine weitgehende Bevorzugung der Opfer kursieren. Er kritisiert die bisherigen Leistungen als unzureichend, fordert größere Anstrengungen bei der Beschaffung von Wohnraum und Arbeit und tritt für eine Ausgliederung der Betreuung aus der Wohlfahrtspflege ein, um den Opfern des NS-Regimes das Gefühl zu nehmen, Fürsorgeempfänger zu sein.

Karl Hauff: Denkschrift über die Lage der vom Naziregime politisch, rassisch und religiös Verfolgten (1947)

  • Karl Hauff

Quelle

Der Leiter des Landes-Ausschusses Württemberg-Baden der vom Naziregime politisch Verfolgten, Karl Hauff

Denkschrift über die Lage der vom Naziregime politisch, rassisch und religös Verfolgten

Stuttgart, 5. Februar 1947

Amtliche Stellen und weite Kreise der Bevölkerung haben von der Lage der ehemaligen politischen Gefangenen und Verfolgten des Naziregimes eine falsche Vorstellung. Es gibt viele, die der Meinung sind, dass die ehemaligen Verfolgten grosse Vorteile hätten und in allen Dingen gegenüber der Bevölkerung weitgehend versorgt und bessergestellt wären.

Unter Berücksichtigung der unvorstellbaren seelischen und körperlichen Leiden und deren Folgen, sowie der Tatsache, dass die meisten Rückkehrer aus den nationalsozialistischen Kerkern und Konzentrationslagern nach ihrer Entlassung vor dem Nichts standen, haben die Besatzungsangehörigen eine bevorzugte Behandlung angeordnet. Diese bevorzugte Behandlung sollte den Rückkehrern ermöglichen, wieder ein geordnetes Leben führen zu können und ihnen einen Start ins Leben geben.

Viele der vom Naziregime politisch Verfolgten hatten alles verloren und eine beträchtliche Zahl war gesundheitlich und körperlich durch die Methoden der Gestapo und SS so heruntergewirtschaftet, dass die Herstellung ihrer Gesundheit die Voraussetzung für die Aufnahme einer geordneten Arbeit war. Die angeordnete Bevorzugung war in Wirklichkeit keine Bevorteilung gegenüber der übrigen Bevölkerung, sondern nur eine Angleichung.

In mancher Hinsicht hat sich die angeordnete bevorzugte Behandlung für die Verfolgten des Naziregimes nachteilig ausgewirkt, da mit dem ständigen Hinweis auf die Bevorzugung in der Bevölkerung der Eindruck entstand, dass die ehemaligen Verfolgten das Meiste der vorhandenen Waren erhalten würden und dadurch für die übrige Bevölkerung nicht mehr viel übrig sei. Der Mangel und die Verknappung der Waren, hervorgerufen durch die Katastrophenpolitik des Dritten Reiches, wurde von gewissen Kreisen zur Verdeckung der Schuld den politisch Verfolgten in die Schuhe geschoben. []

Im Gegensatz zu der allgemeinen Vorstellung steht die Tatsache, dass sich viele der vom Naziregime Verfolgten heute noch in einer grossen Notlage befinden. Viele, die jahrelang unter Einsatz ihres Lebens dem Naziregime Widerstand leisteten, sind – selbst unter Berücksichtigung der heutigen Verhältnisse – schlecht versorgt im Gegensatz zu denen, die jahrelang die Nutzniesser waren und heute in verhältnismässig guten Verhältnissen leben.

In der damaligen Ermangelung staatlicher Stellen gründeten die ersten Rückkehrer aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen, meistens langjährige politische Gefangene, in Verbindung mit dem Städt. Wohlfahrtsamt die Betreuungsstelle in Stuttgart. Um die notwendigsten Ausgaben für den Lebensunterhalt bestreiten zu können, erhielt jeder Rückkehrer vom Wohlfahrtsamt Stuttgart den Betrag von RM 30, – und die übliche Wohlfahrtsunterstützung. Es erhielt, beispielsweise, eine ledige Person RM 39, – monatlich, was auf den Tag gerechnet ungefähr RM 1,30 ist. Später wurde dieser Unterstützungssatz um 50% erhöht. Aber bei den heutigen Preisen ist es klar, dass bei RM 2, – täglich kein auskömmliches Leben zu führen ist. Ein kleiner Teil erhielt ausserdem eine Ehrengabe der Stadt Stuttgart in der Höhe von RM 200, – bis RM 300, –.

Für Anschaffung wurden einer verhältnismässig kleinen Zahl aus Wohlfahrtsmitteln einige hundert Reichsmark gewährt.

In Kreisen und Gemeinden in Württemberg-Baden ausserhalb Stuttgarts wurde mit Ausnahme, wenn Sammlungen gemacht wurden, noch weniger getan; teilweise ist in dieser Hinsicht bis zum heutigen Tage noch nichts Nennenswertes oder gar nichts geschehen. Es ist z.B. ein untragbarer Zustand, wenn die Hinterbliebenen derjenigen Personen, die in den Kerkern und Konzentrationslagern ums Leben kamen, bis heute noch keine auskömmliche Versorgung haben. Es wurden in dieser Beziehung in letzter Zeit wohl einige Notgesetze erlassen, die aber vollständig ungenügend sind, wenn man bedenkt, dass eine hinterbliebene Ehefrau, wenn sie nicht gerade arbeitsbeschränkt ist, einen monatlichen Betrag von RM 40, – durch das Hauptversorgungsamt erhält.

Viele ehemalige politisch Verfolgte, die jahrelang in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern waren, betrachten von Anfang an die Betreuung durch die Wohlfahrtsämter als eine Erniedrigung und haben es vorgezogen, von privater Seite Darlehen aufzunehmen, weil sie bei der Art der Unterstützung das Gefühl eines Almosenempfänger hatten.

Es wäre ein Akt der Selbstverständlichkeit und Gerechtigkeit, wenn durch Gesetz verfügt würde, dass

1. Unterstützung an politisch, rassisch und religiös Verfolgte und deren Hinterbliebenen keine Wohlfahrts- bzw. Fürsorgeunterstützung ist.

2. die gewährte Unterstützung an Angehörige auch während der Haftzeit oder Emigration nicht zur Rückzahlung verpflichtet.

3. die Gewährung von Unterstützung, sofern sonst kein Einkommen vorhanden ist, nicht den Bestimmungen des Wohlfahrtsamtes hinsichtlich der Bedürftigkeit unterliegt.

Aus staatlichen Mitteln konnte nur eine verhältnismässig geringe Zahl durch das Amt für Wiedergutmachung unterstützt werden. Ein grosser Teil, davon viele langjährig Inhaftierte, die meistens bescheiden im Hintergrund stehen, sind bis jetzt leer ausgegangen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, dass grössere Mittel zur Verfügung gestellt werden, die bei der endgültigen Wiedergutmachung in Anrechnung gebracht werden können. []

In verschiedenen deutschen Ländern (auch in der amerikanischen Zone) wurden steuerfreie Beträge gewährt und es wäre auch in Württemberg-Baden ein Akt der Gerechtigkeit und ein Teil der Wiedergutmachung, wenn den vom Naziregime Verfolgten, die hinsichtlich der indirekten Steuern schon genug an erhöhten Lasten tragen müssen, ein steuerfreier Betrag eingeräumt würde.

Es gibt heute noch politisch, rassisch und religiös Verfolgte, die in schlechten Wohnungsverhältnissen leben (in Stuttgart sind noch ca. 200 ohne Wohnung). Auch an Möbeln und sonstigen Gegenständen des täglichen Lebens besteht grosser Mangel.

In der Beschaffung von Arbeit für die politisch Verfolgten des Naziregimes sind sehr grosse Widerstände zu verzeichnen. Während man alles versucht, Pgs wieder in gute Positionen zu bringen, gibt es noch ehemalige politische Häftlinge mit über 10 Jahren Haftzeit, die noch keine Arbeit haben oder denen man die schlechteste Arbeit zuweist. []

Die gesundheitliche Betreuung der Verfolgten des Naziregimes wurde von der Süddeutschen Ärzte- und Sanitätshilfe übernommen. In den von dieser Organisation geschaffenen Erholungsheimen war es möglich, durch Lieferungen von zusätzlichen Lebensmitteln und Medikamenten aus der Schweiz, bei vielen die zerrüttete Gesundheit wieder herzustellen.

Schon seit längerer Zeit wurde eine allgemeine Regelung der Betreuung durch den Staat erwartet. Das nun veröffentlichte Gesetz Nr. 133 über Bildung und vorläufige Verwendung eines Sonderfonds zum Zwecke der Wiedergutmachung hat den Erwartungen nicht entsprochen. Zu begrüssen ist, dass das Gesetz die Möglichkeit bietet, die Betreuung und Unterstützung der vom Naziregime politisch Verfolgten aus der allgemeinen Wohlfahrt herauszulösen. Die Leistungen aus dem Gesetz können aber nur teilweise als befriedigend angesehen werden.

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Es dürfte wohl für alle Einsichtigen eine Selbstverständlichkeit sein, dass es die moralische Pflicht des Staates ist, die gesamte Betreuung zu übernehmen. In anderen deutschen Ländern, in der amerikanischen Zone, auch in Bayern und Hessen, ist das bereits geschehen.

Der hessische Ministerpräsident erklärte in seiner Regierungserklärung u.a.: „Die Wiedergutmachung an den politisch, rassisch und religiös Verfolgten sei für die hessische Regierung eine Ehrenfrage.“

Es ist keine Unbilligkeit, wenn auch in Württemberg-Baden eine staatliche Regelung gefordert wird, die den vom Naziregime Verfolgten Rechnung trägt. Sie haben für die Freiheit gekämpft, indem sie versuchten, das deutsche Volk vor dem heutigen Elend zu bewahren, und nur ein solches Volk verdient die Freiheit, das diejenigen achtet, welche ihr Leben für die Freiheit einsetzten.

Landesausschuss Württemberg-Baden

der vom Naziregime politisch Verfolgten

gez. Hauff.

Quelle: HStA Stuttgart, EA 1/90 Bü. 725, Umdruck; abgedruckt in Udo Wengst, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 126, S. 278–80.