Kurzbeschreibung

Während unmittelbar nach Kriegsende die Forderung nach Wiedergutmachung für die NS-Opfer auch in der Öffentlichkeit noch akzeptiert wird, ändert sich das Meinungsklima später. Eigene Verluste durch den Tod von Angehörigen, den Bombenkrieg oder die Vertreibung werden gegen die Verbrechen des NS-Regimes aufgerechnet, und die Kritik an der angeblich zu großzügigen Entschädigung der Opfer und dem angeblichen Missbrauch bestehender Regelungen wird lauter. Der Stuttgarter Oberregierungsrat Heller verteidigt in einem Zeitungsbeitrag im März 1949 die Pflicht des Staates zu Wiedergutmachungsleistungen an die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus gegen öffentliche Kritik und macht zudem deutlich, dass die materiellen Entschädigungen die tatsächlich erlittenen Verfolgungen nicht aufwiegen können. Zugleich befürwortet er aber auch die inzwischen übliche bürokratische Prüfung des Einzelfalls, die Betroffene dazu zwingt, den genauen Grund für ihre Verfolgung nachzuweisen und bestimmte Gruppen von Insassen der Konzentrationslager von Zuwendungen ausschließt. Außerdem wird Unterstützung nur in wirtschaftlichen Notlagen gewährt, ist also eher eine Wohlfahrtsleistung als eine Wiedergutmachung im eigentlichen Sinn, und stößt auch deswegen auf Vorbehalte bei vielen NS-Opfern.

„Gutmachung nationalsozialistischen Unrechts“: Artikel von Oberregierungsrat Ernst Heller in Die Neue Zeitung (19. März 1949)

  • Ernst Heller

Quelle

Gutmachung nationalsozialistischen Unrechts

Stuttgart, 19. März 1949

Diese Darstellung über Umfang und Art der Wiedergutmachung an den Opfern des Nationalsozialismus dürfte geeignet sein, viele falsche Vorstellungen zu beseitigen.

Annähernd 100.000 Menschen leben in der US-Zone, die während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt und geschädigt wurden. Aber nicht jeder, der sich politisch Verfolgter nennt, tut es mit Recht. Mit der Bezeichnung politisch Verfolgter ist viel Mißbrauch getrieben worden. In den KZ-Lagern waren neben politisch oder rassisch Verfolgten auch zahlreiche Berufsverbrecher und andere asoziale Elemente. Gerade diese letzteren KZ-Insassen waren dem Lagerleben mit seinen Härten und Entbehrungen viel besser gewachsen als Politiker oder Journalisten. So haben von diesen Asozialen prozentual mehr die Lagerzeit überlebt als von den politisch Verfolgten. Auch sind in den letzten Wochen vor dem Zusammenbruch anscheinend noch eine besonders große Zahl von Politikern in den KZ-Lagern ums Leben gekommen.

Die Offiziere der Besatzungsmacht, die die KZ-Lager übernahmen, gaben in Unkenntnis der verschiedenartigen Zusammensetzung der befreiten KZ-Insassen jedem einen gleichlautenden Ausweis. Die Mißbräuche, die in der ersten Zeit nach Kriegsende von Asozialen mit diesen Ausweisen getrieben worden sind, haben dem Namen der politisch Verfolgten geschadet. Noch heute kann man oft in öffentlichen Verkehrsmitteln und Lokalen abfällige Äußerungen über die politisch Verfolgten hören. Die Sprecher wissen nicht, daß sie von asozialen KZ-Insassen reden, die sich mit Hilfe eines KZ-Ausweises zu Unrecht die Vorrechte politisch Verfolgter angemaßt haben.

Schwarze und weiße Schafe

Der sorgfältigen Arbeit der Wiedergutmachungsbehörden ist es nach und nach gelungen, die schwarzen Schafe von den weißen zu sondern. Heute darf man annehmen, daß, von vereinzelten Irrtümern abgesehen, jeder von den Wiedergutmachungsbehörden Betreute ein politisch, rassisch oder religiös Verfolgter ist.

Von den Wiedergutmachungsbehörden werden alle betreut, die aus politischen Gründen zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt oder in KZ-Lager verbracht wurden,

ferner rassisch Verfolgte (Juden und Zigeuner), auch wenn sie, in sogenannter privilegierter Mischehe mit einer „Arierin“ lebend, nicht ins KZ-Lager gekommen, aber andere Verfolgungsschäden erlitten haben,

Emigranten, die Deutschland nach 1933 verließen, um einer rassischen oder politischen Verfolgung zu entgehen, und jetzt zurückgekommen sind,

Mischlinge, das heißt aus gemischten jüdisch-arischen oder Zigeunerehen, die von der Schule verwiesen, vom Hochschulbesuch ausgeschlossen, oder sonstwie in ihrem Fortkommen entscheidend behindert wurden,

Personen, die aus politischen oder rassischen Gründen oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge aus Beamtenstellungen entlassen oder aus anderen politischen Gründen entfernt wurden,

Hinterbliebene solcher Personen, deren Ernährer ein Opfer der politischen Verfolgung geworden, in den KZ-Lagern oder in den Gaskammern von Auschwitz umgekommen sind. Zu den Verfolgten gehören neben den Angehörigen linksstehender Parteien auch die Opfer des 20. Juli 1944 und deren Hinterbliebene.

Die Betreuung der Verfolgten besteht nicht nur in Geldleistungen, die Verfolgten genießen auch einen besonderen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz, ein Vorrecht in Wohnungsangelegenheiten. Mehrere Länder in der US-Zone haben Hunderte von Zimmereinrichtungen, die auf Grund eines Staatsauftrages angefertigt wurden, an Verfolgte verteilt, ihnen in der Zeit vor der Währungsreform Rundfunkempfänger und Bezugscheine für Schuhe und Textilien gegeben. Geldbeihilfen dienen zur Existenzgründung, zur Überbrückung einer augenblicklichen wirtschaftlichen Notlage oder zur Fortsetzung einer infolge der Verfolgung unterbrochenen Ausbildung.

Alle diese Beträge sind nicht hoch und werden nur im Falle einer nachgewiesenen Notlage gegeben. Hinterbliebene erhalten laufende Renten, die bei der Lage der Staatsfinanzen allerdings nicht mehr als ein bescheidenes Auskommen ermöglichen können. Daneben erfolgt eine gesundheitliche Betreuung derjenigen, die nachweislich durch die Verfolgung Schaden an ihrer Gesundheit genommen haben. Eine Reihe von Heimen, auch für Kinder, die die Leiden in den KZ-Lagern mit ihren Eltern teilen mußten, werden von den Wiedergutmachungsbehörden unterhalten oder finanziell unterstützt.

Alle diese Zuwendungen erfolgen erst nach sorgfältiger Prüfung der politischen Vergangenheit und der wirtschaftlichen Lage des Antragstellers.

Für die US-Zone ist ein neues Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom Länderrat angenommen, von der Militärregierung bisher aber noch nicht bestätigt worden. Dieses neue Gesetz sieht Entschädigungszahlungen an Verfolgte in der US-Zone unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Notlage vor. Sie sollen für jeden Haftmonat 150 DM erhalten. Vermögensschäden sollen im Verhältnis 1 DM für je 10 RM im Laufe der nächsten Jahre ausgezahlt werden.

Baldiger Abschluß erhofft

Mit diesen Zahlungen auf Grund des neuen Gesetzes soll die Wiedergutmachung so rasch, als es die geringen Staatsmittel erlauben, im wesentlichen abgeschlossen werden. Dann wird noch die Aufgabe bleiben, für Hinterbliebene zu sorgen und für die, die infolge ihrer Verfolgung arbeitsunfähig geworden sind.

Aber alle diese Leistungen der Wiedergutmachungsbehörden können nicht restlos wiedergutmachen, was geschehen ist. Niemand kann der Ehefrau den in den Gaskammern gestorbenen Ehemann, den Kindern ihre Eltern wiedergeben. Die im KZ-Lager oder in Gefängnissen verbrachte Lebenszeit ist unwiederbringlich verloren. Die Hemmung in der Fortbildung, die Entfremdung vom eigentlichen Beruf in den Jahren der Emigration können nicht wiedergutgemacht werden. Man kann nur Wunden verbinden, die Narben werden bleiben.

Quelle: Ernst Heller, „Gutmachung nationalsozialistischen Unrechts“, Die Neue Zeitung, 19. März 1949; abgedruckt in Udo Wengst, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 253, S. 571–73.