Quelle
Das Hessische Staatsministerium des Innern, Abt. IX, Wiedergutmachung
Durchführungsverordnung über die Bildung und das Verfahren der Betreuungsstellen für Verfolgte in Hessen
Wiesbaden, 13. Mai 1948
Zur Durchführung der Verordnung über die Bildung und das Verfahren der Betreuungsstellen in Hessen (GVBl. 1946, S. 227) werden folgende Richtlinien erlassen.
I. Allgemeine Voraussetzung der Betreuung.
1.) Voraussetzung für die Aufnahme in den Betreutenkreis ist das einwandfreie Verhalten der Antragsteller allgemein, insbesondere in Strafanstalten, Lagern und – soweit es sich um Emigranten handelt – im Ausland.
2.) Als unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt gelten insbesondere Personen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen während einer längeren Dauer, in der Regel etwa 6 Monate und mehr, ihrer Freiheit beraubt (inhaftiert) waren. Personen, die in anderer Art erheblich in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt wurden, können in den Betreutenkreis aufgenommen werden.
3.) Jeder Antragsteller muß seinen Anspruch auf Aufnahme in die Betreuung durch Urkunden oder durch mindestens drei einwandfreie Zeugen glaubhaft machen. Soweit Antragsteller als unter die „Nürnberger Gesetze“ fallend anzusehen sind, haben sie die Art ihrer Verfolgung glaubhaft nachzuweisen.
4.) Personen, die unter Anwendung der vorstehenden Richtlinien in den Kreis der Betreuten aufgenommen werden, erhalten einen Ausweis. Der Ausweis soll neben den Personalien des Inhabers die Art und das Maß der Verfolgung enthalten.
5.) Von der Betreuung sind Personen auszuschließen, die durch falsche Angaben ihre Aufnahme erschlichen haben oder durch ihr Verhalten das Ansehen des Betreutenkreises gefährden. Nach erfolgtem Ausschluß ist der Ausweis einzuziehen.
II. Richtlinien.
A. Als politisch verfolgt gelten:
1.) Personen, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem Zusammenbruch der Naziherrschaft wegen Vorbereitung oder Ausführung einer hochverräterischen Handlung zur Beseitigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgt wurden. Gleichgültig ist, ob sie im Auftrag anderer oder aus eignen Beweggründen gehandelt haben.
2.) Personen, die wegen eines unter der Naziherrschaft begangenen oder versuchten Landesverrates verfolgt wurden, wenn ihre Tat die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems zum Ziele hatte.
3.) Personen, die wegen Rundfunkverbrechens im Kriege verfolgt wurden. Das bloße Abhören ausländischer Sender genügt jedoch nicht, Voraussetzung ist vielmehr, dass diese Personen durch Abhören der ausländischen Sender und Weiterverbreitung der gehörten Sendungen an bestimmte Personen die Naziherrschaft erschüttern oder ihre Folgen abwehren wollten.
4.) Personen, die wegen Zersetzung der Wehrkraft verfolgt wurden. Voraussetzung hierbei ist, dass die Wehrkraftzersetzung als Merkmal grundsätzlicher Gegnerschaft zum Nationalsozialismus anzusehen und ihre Wirkung auf Dritte abgestellt war.
5.) Die Verfolgten des 20. Juli 1944, sofern sie nicht die Ersetzung der Naziherrschaft lediglich durch ein militärisch-reaktionäres Regime beabsichtigten.
6.) Emigranten, die wegen ihrer Verfolgung durch den Nationalsozialismus oder ihrer begründeten Gegnerschaft gegen die Naziherrschaft Deutschland verließen und nachweisbar im Ausland eine nazifeindliche Haltung eingenommen haben.
7.) Personen, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem Zusammenbruch der Naziherrschaft durch nationalsozialistische Verfolgung zum gesetzwidrigen Aufenthalt in Deutschland gezwungen wurden. Dabei muß der Nachweis geführt werden, dass sie weder an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort polizeilich gemeldet waren, noch während des Krieges Lebensmittelkarten bezogen.
8.) Personen, die wegen ihrer bewiesenen antinationalsozialistischen Gesinnung oder Tätigkeit erheblich verfolgt wurden.
9.) Personen, die aus rassischen oder politischen Gründen sterilisiert wurden.
B.) Als rassisch verfolgt gelten:
Personen, die aus rassischen Gründen in ihrer Freiheit erheblich beschränkt wurden; Zigeuner, die aus rassischen Gründen unter dem nationalsozialistischen Regime erheblich verfolgt wurden, sofern sie heute einen geregelten Beruf ausüben und einen festen Wohnsitz anstreben.
C.) Als religiös verfolgt gelten:
Personen, die im „Dritten Reich“ wegen ihrer religiösen Überzeugung und Aktivität erheblich verfolgt wurden.
D.) Als Verfolgte gelten auch:
Hinterbliebene, deren einziger Ernährer als Opfer des Faschismus umgekommen ist, sofern sie mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebten und eine antifaschistische Haltung eingenommen haben. Die Bestimmungen in Absatz I, Ziff. 3 finden sinngemäße Anwendung.
E.) Von der Betreuung ausgeschlossen sind:
Ehemalige Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen sowie Militaristen. Ausnahmefälle unterliegen den Entscheidungen durch die Wiedergutmachungs-Abteilung.
F.) Inkrafttreten der Anerkennung des politisch, rassisch oder religiös Verfolgten:
Die Aufnahme in die Betreuung wird wirksam durch die unterschriftliche Vollziehung des Sonderausweises durch den Leiter der Wiedergutmachungs-Abteilung. Die Betreuungsstellen sind gehalten, die Sonderausweise unverzüglich mit den Anträgen der Wiedergutmachungs-Abteilung vorzulegen.
Quelle: IfZ-Archiv, OMGUS, 8/66-2/2; abgedruckt in Udo Wengst, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 208, S. 470–71.