Kurzbeschreibung

Angesichts der tiefgehenden Zerrüttung der deutschen Gesellschaft durch Diktatur und Krieg und der Entwurzelung der Überlebenden unter den schwierigen Lebensbedingungen der Nachkriegszeit empfehlen die bürgerlichen Liberaldemokraten in der sowjetischen Besatzungszone eine Rückbesinnung auf die Familie als Kern der Gesellschaft. Die Familie soll wieder die zentrale Erziehungsfunktion für die nächsten Generationen übernehmen. Staatliche Maßnahmen sollen dazu beitragen, wieder ein geordnetes Familienleben zu etablieren.

„Die Familie – der Kern der deutschen Wiedergeburt“, Artikel von Schulrat G. Wolff, Liberaldemokratische Partei Deutschlands (30. August 1946)

  • G. Wolff

Quelle

„Die Familie ist uns nicht bloß religiös, sondern auch sozial und politisch ein Heiligtum: denn die Möglichkeit aller organischen Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ist in der Familie im Keim gegeben, wie der Eichbaum in der Eichel steckt.“ Mit diesem Kernsatz hat W. H. Riehl vor fast hundert Jahren in seinem malerischen anschaulichen Buche die Idee der Familie entwickelt. Was in früheren Zeiten die Familie bedeutete, davon künden uns noch heute die traulich-beschaulichen Bilder von Runge, Ludwig, Richter oder Knaus - es lohnt sich wirklich, daß wir uns in einer stillen Abendstunde in sie versenken. Davon erzählen uns auch zahlreiche Berichte deutscher Dichter und Schriftsteller aus ihrer Jugendzeit von Goethe zu Kügelgen und Storm und Keller.

Seit den Tagen Riehls haben sich die wirtschaftlichen und generativen Verhältnisse und mit Ihnen auch die Prägekraft der Familie grundlegend gewandelt. Sombart, Weber, Fischer haben in ihren Werken diesen Entwicklungsprozeß dargelegt. Den Älteren ist diese Lockerung des pädagogischen Bezuges der Familie aus eigener Anschauung bekannt. Jetzt haben Naziregime, Hitlerkrieg und Zusammenbruch der Familie tiefste und schmerzliche Wunden geschlagen. Hier helfen keine Illusionsbilder; hier heißt es, der grauen Wirklichkeit fest ins Auge blicken. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern: Man ließ Muttertage feiern und nahm der Familie die Kinder durch zwangsweise Eingliederung in die Formationen: man verteilte Mutterkreuze und schulte die Jugend systematisch zum Kriege: man arrangierte Massentrauungen und Nach-Taufen und lockerte planmäßig alle religiösen Bindungen. Führerreden sangen das Lied der Familie: Führerbefehle verjagten und zerstreuten die Familienglieder in alle Winde. Die warme Gemütlichkeit des Elternhauses wurde durch die kalte Zucht der Kasernierung ersetzt. Das Blutopfer des Krieges wurde durch Propaganda zur Zeugung von Kriegskindern bagatellisiert. Und nun gibt es in Deutschland keine Familie ohne Opfer und Verlust. Millionen Familien sind verkleinert, verstümmelt, zerbrochen. Millionen Frauen ist die Gründung einer eigenen Familie unmöglich geworden. Millionen deutscher Kinder wachsen auf ohne Vater und Mutter. Hart und schwer wirken die Folgen politischer Betäubungsversuche und nazistischer Massensuggestion noch heute nach; geschwächte Sittlichkeit und weites Gewissen lassen die Ziffern der Verwahrlosung und der Kriminalität steigen und steigen.

Was ist zu tun? Hier helfen keine Untersuchungen, ob es sich um vorübergehende Krankheit oder um dauernde Schädigung handelt. Hier heißt es alles zu tun, um der Familie wieder ein Stück ihrer Erziehungskraft zurückzugeben. Und wenn der Wohnraum noch so eng ist, das Haus bleibt doch die natürliche Gemeinschaft und Erziehungsstätte des Kindes. Die Familie ist auch im Strudel der Gegenwart die biologisch gegebene Vereinigung und hat die Kraft instinktmäßiger Erziehung. Im täglichen Zusammenleben kommt es zum Einordnen und Nebenordnen und Unterordnen für jedes Familienglied.

Die unterminierenden Kräfte wollen auch in der Gegenwart weiter unsere Familien aushöhlen und entseelen. Die Gespenster der Entwurzelung, der Lösung aller Bindungen, der Ehrfurchtlosigkeit drohen. Der furchtbare Männerverlust gefährdet die Institution der Einehe. Aber es gibt trotzdem neben diesem Schatten auch Licht und Helligkeit. Seht, wie die Heimkehrenden gerade jetzt von den Müttern und Kindern erwartet und begrüßt werden. Hört die Bitten und Gebete, die von Frauen und Jugendlichen zum Himmel emporsteigen für die, die noch in Ferne sind. Äußere und Innere Familienfürsorge helfen und stärken in unendlich vielen Notfällen. Wer Jugend zu beobachten weiß, der sieht neben den Strauchelnden, neben denen, die täglich die Umgehung der Gesetze erleben, auch die große Mehrheit der anderen, die noch in der festen Zucht ihrer Familie stehen. In der gegenseitigen Sorge der Familienglieder für- und zueinander bewährt sich die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Familie. Und dieses Familienleben ist gleichzeitig selbsterzieherisches Wachstum der Eltern.

Eins muß klar erkannt werden: sterbende Familien wirken zugleich gesellschaftszerstörend. Mit der Familie stirbt auch jede andere Gemeinschaft. Die Familie hat sich durch Jahrtausende als grundlegendes soziales Gebilde bewährt, weil aus ihr die Kraft der Natur und des gelebten Lebens strömt. Mit der Wiedergesundung der Familie stehen zahlreiche andere Verhältnisse in ursächlicher Verbindung: Arbeitsmoral, Sittlichkeit, Erziehung, Eigentum. Wie der Mensch, so wächst auch die Familie nur durch Tun und Handlung. Darum keine Schwächung der Erziehungskraft der Familie. Darum Förderung auch aller äußeren Voraussetzungen des Familienlebens durch Verbesserung von Wohnung und Kleidung, Ernährung und Arbeit. Schenkt denen eine neue Familie, die elternlos und heimatfremd geworden sind. Laßt uns der Frage der unehelichen Kinder unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden.

Und dazu ist notwendig, daß alle, Männer wie Frauen, ihre politische Pflicht erfüllen. Bei der Arbeitsleistung der Frau ist auf ihre Eigenart gebührende Rücksicht zu nehmen. Alle Frauenarbeit muß die Verbindung von Mutterschaft und Arbeit erleichtern und ermöglichen. Die Last der Kindererziehung muß mindestens zu einem Teil auch Sache der Gemeinschaft sein. Die bestehenden Ehen verlangen Schutz und Stärkung und Förderung in den schweren Tagen. Die Frage der Ehescheidung darf nicht einfach als eine Privatangelegenheit zwischen den beiden Erwachsenen angesehen werden, sondern zugleich auch vom Bedürfnis und der Zukunft der Kinder aus dieser Ehe her. Die letzten Erziehungsvorbilder sind und bleiben doch immer Vater und Mutter.

Deshalb bekennt sich die LDP in ihrem Programm mit verpflichtendem Wort zur Familie: „Ur- und Keimzelle des Gemeinschaftswesens ist die Familie. Sie als solche wiederherzustellen und zu erhalten, ist die unerläßliche Voraussetzung einer deutschen Gesundung.“ Mit unserem Wahlzettel wollen wir auch ein Bekenntnis für Bedeutung und Kraft der Familie ablegen.

Quelle: G. Wolff, „Die Familie – der Kern der deutschen Wiedergeburt”, Der Morgen, Tageszeitung der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands, 30. August 1946; abgedruckt in Udo Wengst und Hans Günther Hockerts, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 85, S. 183–84.