Kurzbeschreibung

Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Klage von vier Europa-Abgeordneten der Grünen und des früheren Vorsitzenden der FDP in Bayern, Manfred Brunner, gegen den Vertrag von Maastricht. Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, dass der Vertrag das Prinzip der staatlichen Souveränität verletze. Zwei Tage nachdem der Vertrag in der Bundesrepublik in Kraft treten konnte, wurden dem Bundeskabinett die wichtigsten Teile des Urteils und seine Konsequenzen in einer Tischvorlage erläutert.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Maastricht aus dem Weg geräumt (3. November 1993)

Quelle

Gemeinsame Tischvorlage des Auswärtigen Amts und des Bundesministeriums der Finanzen zur Kabinettsitzung am 3. November 1993

1. Einleitung

Die Bundesregierung begrüßt die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des Vertrages über die Europäische Union (EUV). Sie ist eine erfreuliche Bestätigung und Ermutigung für die Politik der Bundesregierung:

– Das BVerfG hat den EUV für verfassungskonform erklärt.

– Deutschland konnte deshalb den EUV am 12. Oktober 1993 ratifizieren. Die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde hat am 13. Oktober 1993 stattgefunden. Der Vertrag tritt am 1. November 1993 in Kraft.

– Damit ist der Weg frei für die im EUV vorgesehene Entwicklung der Union. Der EG-Sondergipfel am 29. Oktober 1993 gibt den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten Gelegenheit, ihren Willen zu bekräftigen, den Vertrag von Maastricht rasch und konkret mit Leben zu erfüllen und klare Prioritäten für die nächste Zukunft zu setzen.

– Das Gericht hat die seit mehr als vier Jahrzehnten auf die Europäische Einheit gerichtete Politik Deutschlands als verfassungskonform bestätigt. Deutschland ist auch in Zukunft ein zuverlässiges Mitglied der Gemeinschaft. Im engen Verbund mit seinen europäischen Nachbarn bleibt Deutschland Motor der Entwicklung zu einer immer engeren und auf den Verfassungsprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats gegründeten Union der Völker Europas.

2. Beurteilung des EUV durch das BVerfG

a) Zur Europäischen Union

Das Gericht hat nur eine Verfassungsbeschwerde, und auch nur soweit sie auf eine Verletzung von Art. 38 GG (demokratische Legitimation) gestützt wurde, für zulässig erachtet. Im übrigen hat das Gericht die Verfassungsbeschwerden, auch soweit sie gegen die im Zusammenhang mit dem Vertragsgesetz stehenden Grundgesetzänderungen (Art. 23, 28 Abs. 2, 88 GG) gerichtet gewesen sind, als unzulässig verworfen.

Neu ist, daß das Gericht Art. 38 GG zu einem subjektiven Recht des einzelnen auf demokratische Mitwirkung ausbaut.

Das Gericht betont die wichtige Rolle des Deutschen Bundestags. Da der Vertrag einen Staatenverbund, nicht aber einen europäischen Staat begründe, sieht das Gericht die demokratische Mitwirkung an der Union gegenwärtig in erster Linie durch den Bundestag gewährleistet. Deshalb hat sich das Gericht auch die Behauptung eines „Demokratiedefizits“ der Gemeinschaft nicht zu eigen gemacht. Es hat zugleich darauf hingewiesen, daß mit dem Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft die Notwendigkeit wachse, zu der national vermittelten Legitimation ein Europäisches Parlament hinzutreten zu lassen, von dem ergänzend eine demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union ausgeht. Bereits in der gegenwärtigen Phase mißt das Gericht dem EP eine „stützende Funktion“ zu.

Das Gericht behält sich vor, Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft für zulässig zu erachten, wenn gerügt wird, daß deren Rechtsgrundlagen nicht vom Zustimmungsgesetz gedeckt sind. Damit hat es seine frühere Auffassung geändert, nach der Akte der EG der Überprüfung durch die deutsche Gerichtsbarkeit entzogen waren. Bekräftigt hat das Gericht, daß sich beim Grundrechtsschutz BVerfG und Europäischer Gerichtshof (EuGH) im Sinne eines „Kooperationsverhältnisses“ gegenseitig ergänzen. Dies bedeutet, daß der EuGH den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das BVerfG sich dagegen auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann.

Das Gericht betont die maßgebliche Rolle der weiterhin souveränen Mitgliedstaaten in einem Staatenverbund. Die Mitgliedstaaten bleiben „Herren der Verträge“ und als solche an den auf unbegrenzte Zeit geschlossenen Unionsvertrag gebunden. Sie könnten diese Zugehörigkeit aber letztlich durch „gegenläufigen Akt“ wieder aufheben. Das Gericht bejaht Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinschaft. Dabei gelte das Gebot der Gemeinschaftstreue im Sinne einer wechselseitigen Rücksichtnahme auf die Verfassungsprinzipien und elementaren Interessen der Mitgliedstaaten.

Zugleich trifft das Gericht wichtige Aussagen zur Verfassungsmäßigkeit künftiger Entwicklungen der Europäischen Union, die mit dem Vortrag der Bundesregierung im Verfahren übereinstimmen und im wesentlichen schon bisher als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien Geltung haben:

– Die Notwendigkeit der Transparenz der Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und der jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen.

– Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Dies bedeutet, daß die Gemeinschaft ausdrücklich nicht befugt ist, sich selbst unter Berufung auf Vertragsziele neue Kompetenzen ohne formelle Vertragsänderung zu verschaffen (keine „Kompetenz-Kompetenz“). Art. F Abs. 3 EUV (Mittelausstattung der Union) ist als bloßer Programmsatz auszulegen.

– Die Übertragung neuer Aufgaben nur durch Vertragsänderung, d. h. hinreichend bestimmte Festlegung von weiteren Hoheitsübertragungen und der beabsichtigten Integrationsprogramme durch Zustimmungsgesetze.

– Die Betonung des Subsidiaritätsprinzips als Begrenzung der Ausübung von Gemeinschaftskompetenzen.

– Die Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Regelungsintensität von Gemeinschaftsmaßnahmen.

– Die Nichtanwendbarkeit von Gemeinschaftsakten bei Überschreitung der im Vertrag vorgesehenen Kompetenzen. Damit verbundene verfahrensrechtliche Fragen hat das Gericht nicht behandelt.

Das Gericht sah keinen Anlaß, sich unter den gegenwärtigen Umständen mit der Frage zu befassen, ob das Grundgesetz eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt. Seine Ausführungen zu dieser Frage lassen aber erkennen, daß es – bei Vorhandensein bestimmter „vorrechtlicher“ Voraussetzungen, die sich im Laufe der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln könnten – eine weitergehende Integration für möglich hält.

b) Zur Wirtschafts- und Währungsunion

Das Gericht schließt sich auch im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion der Auffassung der Bundesregierung an und bestätigt, daß die Währungsunion „als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert [ist], die vorrangig Preisstabilität zu gewährleisten hat“. Hierzu gehören u. a. folgende Aspekte:

Die Konvergenzkriterien, die über die Teilnahme an der dritten Stufe entscheiden, können auch nach Auffassung des Gerichts nicht „aufgeweicht“ werden. Das Gericht betont, der sich aus dem Vertrag ergebende Ermessensspielraum könne nur bedeuten, verbleibende „Einschätzungs-, Bewertungs- und Prognosespielräume müsse mehrheitlich ausgeräumt werden können“. Dies erlaube es aber nicht, sich von den Konvergenzkriterien zu lösen.

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Das Gericht gelangt zu dem Gesamtergebnis, Deutschland unterwerfe sich mit der Ratifikation des Maastricht-Vertrags nicht einem „unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren ‚Automatismus‘ zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffnet den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der Europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhängt“.

Die parlamentarische Mitwirkung vor Eintritt in die dritte Stufe hat die Bundesregierung durch die Zusage des Bundesministers der Finanzen an den Deutschen Bundestag vom 2. April 1993 und deren Mitteilung an Rat, Kommission und EP sichergestellt.

3. Folgerungen für die Bundesregierung

Die grundsätzlichen Überlegungen des BVerfG sind für den weiteren Ausbau der Union förderlich und halten die Perspektive der Erweiterung und Vertiefung der Union offen:

– Das BVerfG hat die Europaoffenheit des GG bestätigt. Dazu gehört die Erkenntnis, daß wir Regeln unserer Verfassung nur begrenzt zu Vorgaben für den Ausbau der Union machen können. Das gilt auch für das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, solange eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme innerhalb der Union gesichert ist.

– Zur verfassungsrechtlichen Absicherung des Maastricht-Vertrags hat sich die Einfügung von Art. 23 (neu) GG (Struktursicherungsklausel, Mitwirkung des Bundestags) als hilfreich erwiesen.

– Die Notwendigkeit, mit dem schrittweisen Ausbau der Gemeinschaft auch die Rolle des Europäischen Parlaments zur demokratischen Abstützung der Politik der Gemeinschaft zu stärken und Entscheidungen der Gemeinschaft transparenter zu gestalten, wird bekräftigt.

– Die Bundesregierung wird darauf achten müssen, daß gemeinschaftsrechtliche Befugnisnormen eingehalten werden und daß der Subsidiaritätsgrundsatz jeweils berücksichtigt wird.

– Die weitere Entwicklung der Union wird offen gehalten. Dem Deutschen Bundestag müssen aber substantielle Befugnisse verbleiben, wenn – wie gegenwärtig – die Staatsvölker in einem Staatenverbund über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation vermitteln.

– Zur Rolle der Länder ist nichts Spezifisches gesagt, da das Gericht die entsprechenden Rügen (Bundesstaatsprinzip) von Anfang an als unzulässig verwirft.

– Das Konzept der WWU wird voll bestätigt. Insbesondere besteht für den Eintritt in die dritte Stufe kein Automatismus. Die WWU ist ein in sich geschlossenes und tragfähiges Konzept; eine Parallelität von WWU und Politischer Union ist verfassungsrechtlich nicht geboten.

– Die Verwirklichung der WWU hängt entscheidend von der Entwicklung der Konvergenz in den EG-Ländern ab; dies hat das Gericht bestätigt. Deshalb kommt es jetzt darauf an, daß die einzelnen Mitgliedstaaten ihre nationalen Anstrengungen zur Erreichung der Konvergenz nachhaltig verstärken. Zusätzlich ist es wichtig, die Verfahren und Instrumente zur stärkeren Koordinierung der Wirtschaftspolitiken zwischen den EG-Ländern voll zu nutzen.

– Das Gericht macht deutlich, daß Konvergenz Vorrang haben muß vor Terminen. Es betont, daß die im Vertrag genannten Termine nach gefestigter Gemeinschaftstradition als Zieldaten anzusehen sind.

Quelle: „Gemeinsame Tischvorlage des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums der Finanzen zur Kabinettssitzung am 3. November 1993,“ in Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994. Herausgegeben aus Anlaß des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts. Köln, 1995, S. 971–74.