Kurzbeschreibung

Laut einer Studie des Instituts für Hochschulforschung (HoF) in Halle gehörten ostdeutsche Akademiker/innen und Forscher/innen zu den „Wendeverlierern“. Nach dem Mauerfall sei diese Gruppe in eine „zweite Wissenschaftskultur“ abgedrängt worden. In dem folgenden Zeitungsartikel beschreibt der Journalist Jürgen Amendt die Ergebnisse der Studie sowie die Bemühungen des Berliner Senators für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Thomas Flierl (PDS), die Situation der ostdeutschen Akademiker/innen zu verbessern und mehr Gleichheit zwischen Ost und West bei der Besetzung von akademischen Führungspositionen zu schaffen.

Entlassenes ostdeutsches Hochschulpersonal bildet eine „Zweite Wissenschaftskultur“ (15. Mai 2004)

  • Jürgen Amendt

Quelle

Verlierer der „Wende“

Die missglückte Integration der Ost-Berliner Wissenschaft

Mit der deutsch-deutschen Vereinigung kam es an den Universitäten im Osten der Republik zu einem radikalen Austausch der Eliten. An der Humboldt-Universität in Berlin beispielsweise wurden 75% der Professoren und 70% der wissenschaftlichen Mitarbeiter relegiert. Viele der Wissenschaftler seien, so die Autoren des HoF Halle bei der Vorstellung ihrer Studie „Die Ost-Berliner Wissenschaft im vereinigten Berlin – Eine Transformationsfolgenanalyse“, trotz erwiesener fachlicher Qualifikation entlassen worden.

Als besonders nachteilig habe sich die Annahme ausgewirkt, Geistes- und Sozialwissenschaftlern seien politisch diskreditiert. Während Naturwissenschaftler grundsätzlich eine fachliche Qualifikation unterstellt worden sei, habe bei den Gesellschaftswissenschaftlern das politische Misstrauen überwogen. Schon deshalb habe bei der personellen Erneuerung nach der Wende der Nachweis wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit bei diesem Personenkreis keine Rolle gespielt, wird in der Studie kritisiert. Unter den Adressaten des Wissenschaftler-Integrations-Programms (WIP), mit dessen Hilfe ostdeutsche Wissenschaftler in die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft eingegliedert werden sollten, stellten Gesellschaftswissenschaftler daher auch nur eine Minderheit.

„Zweite Wissenschaftskultur“

Im Laufe der letzten eineinhalb Jahrzehnte habe sich allerdings vor allem im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich eine „Zweite Wissenschaftskultur“ entwickelt, in der vor allem abgewickelte Ost-Wissenschaftler tätig seien. Etwa 20 solcher Vereine gibt es derzeit in Berlin. Viele arbeiten ohne feste Finanzierung. Diese „Zweite Wissenschaftskultur“ möchte der zuständige PDS-Senator Thomas Flierl in die etablierte Wissenschaftsszene integrieren. Die größte Problemgruppe sei die so genannte mittlere Generation, also diejenigen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die 1990 zwischen Anfang 30 und 45 Jahre alt waren. Für diese Personengruppe schlägt das HoF u.a. einen beim Senat angesiedelten Stellenpool vor.

Der Wissenschaftssenator betonte bei der Vorstellung der Studie, dass deren Empfehlungen „die Nagelprobe für die Koalitionsvereinbarung“ seien, in welcher schließlich die Anerkennung der Lebensleistung von DDR-Bürgern eingefordert werde. Eine zentrale Rolle komme hierbei der Zukunft der Leibniz-Sozietät zu, die als Rechtsnachfolgerin der Gelehrtengesellschaft der Wissenschaftsakademie der DDR nach wie vor um politische Anerkennung kämpft. 1992 wurde der Sozietät die finanzielle und räumliche Unterstützung durch den Berliner Senat gestrichen. Seitdem fungiert die Berlin-Brandenburgische Akademie als offizielle Gelehrtenanstalt. Mehrere Anläufe des rot-roten Senats, die Leibniz-Sozietät, der mittlerweile Wissenschaftler aus Ost und West angehören, zumindest symbolisch anzuerkennen, schlugen bislang fehl. Nun soll deren wissenschaftliche Leistung durch eine „finanzielle Unterstützung“ anerkannt und damit mit „der Leistung anderer universitärer und außeruniversitärer sozialwissenschaftlicher Einrichtungen gleichgestellt werden“. In der Diskussion ist eine jährliche Fördersumme in Höhe von rund 30.000 Euro.

Im Hinblick auf die nach der Wende und der deutsch-deutschen Einheit aus ihren Berufen „entfernten“ Wissenschaftler, für die schon allein aus Altersgründen kein Weg mehr zurück in den Wissenschaftsbetrieb führt, schwebt Flierl eine andere Lösung vor. „Zumindest symbolisch müssen wir das entstandene Unrecht wieder gutmachen“, betonte der Wissenschaftssenator. Für relegierte DDR-Professoren schlägt er deshalb eine „nachträgliche ordentliche Verabschiedung“ vor, „am Besten im Roten Rathaus“. Natürlich müsse weiterhin „kritisch Bilanz gezogen werden“, inwieweit die relegierten Forscher in das System des MfS involviert gewesen seien. Allerdings wolle er nicht „Wissenschaftspolizei spielen“, erklärte er. Auf solch einer Veranstaltung werde es in erster Linie darum gehen, beachtliche wissenschaftliche Leistungen zu würdigen.

Der von den Hochschulforschern vorgeschlagene Stellenpool sei jedoch „schon aus haushaltspolitischen Gründen“ nicht zu verwirklichen. Auch gebe es sicherlich noch so manche politische Blockade zu überwinden: „Es müssen hier immer kleinste Schritte getan werden.“ Ähnlich sehen das die Hochschulforscher aus Sachsen-Anhalt. Mittlerweile würden sogar einige derjenigen, die Anfang der 90er Jahre für die Abwicklung der DDR-Akademien verantwortlich waren, das „persönliche Unrecht“ bedauern. Es sei „fahrlässig mit der Ressource Geist umgegangen worden“, wird zum Beispiel der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß zitiert.

Institute im Schatten

Für einen Teil der „Zweiten Wissenschaftskultur“ – die als Vereine organisierten wissenschaftlichen Institute wie das Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien e.V. (BISS) – schlägt das HoF eine Sockelfinanzierung vor. Damit soll die Chancengleichheit mit anderen Anbietern in diesem Sektor hergestellt werden. Viele dieser Forscher verfügten zum Beispiel über exzellente Mittel- und Osteuropa-Kenntnisse. Geprüft werden soll außerdem eine Änderung des Berliner Hochschulgesetzes, um Hausberufungen an den Berliner Hochschulen zu ermöglichen. Dadurch sollen Hochschullehrer, die Anfang der 90er Jahre lediglich als wissenschaftliche Mitarbeiter eingestellt wurden, eine eigene Professur erhalten.

Für Thomas Flierl geht es allerdings nicht nur um die Reintegration abgewickelter DDR-Forscher. Er sieht nach wie vor eine ungleiche Verteilung zwischen Ost und West beim wissenschaftlichen Führungspersonal. „In den Berufungslisten, die mir vorgelegt werden, erscheinen nach wie vor wenig Ostdeutsche.“ Er führt das u.a. darauf zurück, dass bei der Besetzung von Führungspersonen die soziale und kulturelle Herkunft eine maßgebliche Rolle spielten. „Ostdeutsche verfügen aber nun mal nicht über die entsprechenden sozialen Netzwerke und den notwendigen Habitus.“

Differenzierter wird dieses Problem in der Studie beschrieben. In einem nachträglich eingearbeiteten Kapitel rekapitulieren die HoF-Forscher die Folgen des Umbaus der gesamten ostdeutschen Wissenschaftslandschaft in den letzten 14 Jahren (Der ostdeutsche Wissenschaftsumbau 1990 ff.). Darin bezeichnen sie die ungleiche Verteilung zwischen Ost und West bei der Besetzung der Führungspositionen als „gravierendes, langfristiges Hauptproblem“. Ostdeutsche befänden sich überdurchschnittlich in den geringer dotierten Positionen, in den C3-Professuren zum Beispiel sei ihr Anteil überdurchschnittlich hoch, während er bei den C4-Stellen vergleichsweise niedrig sei. In der gesamtdeutschen Wissenschaft seien lediglich 7,3% der Elitepositionen von Ostdeutschen besetzt – der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands beträgt rund 20%.

Die Ursachen dieses Phänomens sehen die Autoren allerdings nicht in der populistisch zugespitzten These, der Westen habe den Osten einfach okkupiert und qualifiziertes ostdeutsches Personal verdrängt. Vielmehr benennen sie im Wesentlichen zwei Gründe für die mangelnde Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen an den Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Zum einen sei der „Elitenwechsel“ politisch gewollt gewesen – es habe nach 1989 eben wenige Personen in Leitungsfunktionen gegeben, die nicht politisch diskreditiert gewesen seien. Zum anderen könne bei der Besetzung wissenschaftlicher Stellen nicht „eine Koinzidenz von geographischem Hochschulstandort und biografischer Herkunft der Amtsinhaber“ als zwingend gefordert werden. Auch wenn nicht jeder Westimport die Erwartungen erfüllt habe, so müsse doch zugestanden werden, dass „insbesondere die Professionalitätsdefizite bei ostdeutschen Amtsinhabern ausgeprägter“ seien.

In der politischen Öffentlichkeit stießen die Studie und die Schlussfolgerungen Flierls auf ein unterschiedliches Echo. Einigkeit herrschte lediglich in der positiven Bewertung des Vorschlags, den abgeholzten akademischen Mittelbau der Ostberliner Hochschulen wieder aufzuforsten. Der Präsident der Leibniz-Sozietät, der Philosophieprofessor Herbert Hörz, bleibt jedoch skeptisch, dass diese Reintegration auch von Erfolg gekrönt sein wird. In einem Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland betonte er, dass viele jüngere Wissenschaftler in den zurückliegenden Jahren notgedrungen ausbildungsfremd tätig gewesen seien und eine Wiedereingliederung deshalb schwierig sei.

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Quelle: Jürgen Amendt, „Verlierer der ‚Wende’. Die missglückte Integration der Ost-Berliner Wissenschaft“, Neues Deutschland, 15. Mai 2004.