Kurzbeschreibung

Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum analysiert die Rolle Deutschlands als „normale“ internationale Macht im 21. Jahrhundert. Die geografische Lage in der Mitte Europas und die Hinterlassenschaften der Vergangenheit, so der Autor, sind der Schlüssel zum Verständnis der zukünftigen Rolle Deutschlands. Er kritisiert Deutschlands Handeln während der Krise in der Eurozone, prognostiziert jedoch auch, dass sich sein Platz in der globalen Gemeinschaft mit der Zeit entwickeln wird.

Deutschland und die Gespenster der Vergangenheit (6. November 2009)

Quelle

Zentrum einer integrierten Welt. Deutschland und die Gespenster der Vergangenheit

„Als Volk der Mitte in jedem Verstande, sind die Deutschen unfaßbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andre Völker sich selber sind – sie entschlüpfen der Definition ...“ – Friedrich Nietzsche

Ist Deutschland in den zwei Jahrzehnten seit dem Fall der Mauer normaler geworden? Normaler als was? Die heutige Bundesrepublik verhält sich ganz vernünftig im Blick auf ihre aktuelle Lage, doch ihr Selbstbild wird immer noch bestimmt von geistigen Landkarten, die der Vergangenheit verhaftet sind. Der Generationswechsel und die neuen Bedingungen einer global integrierten Welt werden diese Landkarten im kommenden Jahrzehnt wahrscheinlich dramatisch verändern. Und damit dürfte sich auch Deutschlands Definition von Normalität verändern.

Es gibt erste Anzeichen dafür, dass Deutschland mit der neuen Normalität des 21. Jahrhunderts gut umgehen wird, aber darum geht es im Augenblick noch nicht. Man könnte die Frage auch so formulieren: Warum sind wir alle überhaupt so sehr darauf bedacht, Deutschland „normal“ zu machen?

Wir tun das – Deutsche tun es, Amerikaner, Briten, Franzosen, Holländer, Polen, Juden und andere tun es ebenfalls –, weil trotz der Freiheit und des Wohlstands der heutigen Bundesrepublik die deutschen Widersprüche immer noch das erfolgreichste Produkt des Exportweltmeisters darstellen. Die größte Wirkung auf die Weltgeschichte erzielte Deutschland nicht mit seiner Philosophie, seiner Kunst oder seiner Technologie, so eindrucksvoll sie sein mochten; sondern in Gestalt der oft verheerenden Auswirkungen seiner Mysterien. Deutschland ist für die westliche Welt auch weiterhin von so zentraler Bedeutung, dass jeder Versuch, in die Zukunft zu blicken, per definitionem auch der Frage nachgehen muss, wohin Deutschlands nächstes Verständnis von „Normalität“ uns führen wird.

Läge Deutschland irgendwo im Südpazifik, bräuchten seine diversen Neurosen uns kaum zu interessieren, wenn überhaupt. Aber wenn Deutschland nicht in der Mitte Europas läge, wäre es auch nicht Deutschland. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das heißt, Deutschland war in aller Regel zu groß oder zu klein, zu nachgiebig oder zu aggressiv und vor allem zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ein einfacher Partner in der komplizierten Welt Europas zu sein. Seine historische „Normalität“ verdankt sich seiner Mittellage in Europa, verstärkt seit 1945 durch das tiefe Trauma des Dritten Reichs und die Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aufgrund dieser Mittellage haben Deutsche oft das Gefühl, irgendwie unfertig oder gar mit einem Makel behaftet zu sein. Sie haben einen frustrierenden Hang entwickelt, sich schuldig zu fühlen und sich als Opfer zu sehen – und vielfach beides zugleich. Für Außenstehende sind die Drehungen und Wendungen dieser Mentalität zuweilen entnervend.

Die Rätselhaftigkeit der Deutschen führt gelegentlich auch zu diplomatischen Ungeschicklichkeiten. Der amerikanische Präsident George W. Bush tappte in die Normalitätsfalle, als er dem gerade erst wiedervereinigten Deutschland 1990 eine „partnership in leadership“, eine „Führungspartnerschaft“, anbot. Sein gutgemeinter und sogar schmeichelhafter Vorschlag sorgte in Deutschland für einige Verwirrung und Bestürzung, weil viele Deutsche damals glaubten, die Wiedervereinigung werde es Deutschland ermöglichen, seine Vergangenheit in einem geeinten Europa zu begraben.

Die Wiedergeburt einer besonderen deutschen Führungsrolle war das Letzte, was die meisten Deutschen sich wünschten. So ließ der Vorschlag des amerikanischen Präsidenten bei vielen Deutschen – und nicht nur bei ihnen – den Verdacht aufkommen, Washington könne versuchen, Deutschland als Hebel zu benutzen, um die in Entstehung begriffene Europäische Union zu untergraben.

Um eine Schwächung der Europäischen Union bemühen sich die Europäer einschließlich der Deutschen allerdings selbst schon erfolgreich genug. Seit 2001 verbindet Deutschland seine nach wie vor europafreundliche Rhetorik mit einem wachsenden Egoismus, wann immer seine nationalen Interessen betroffen sind. Nach dem 11. September und auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 – beides weltweite Krisen, die nach einer überlegten deutschen Führung innerhalb der Bündnisse verlangt hätten – folgte Deutschland seinen eigenen Instinkten, ohne erkennbare Rücksicht auf die europäische oder gar die atlantische Einheit zu nehmen.

Die Berliner Republik schloss hastig ein bilaterales Abkommen mit Russland über den Bau einer Erdgasleitung durch die Ostsee, und das gegen die Bedenken von EU-Mitgliedern wie Polen, Finnland und Estland, die in der Vergangenheit schon bittere Erfahrungen mit deutsch-russischen Abkommen gemacht haben. []

Ist das nun das Ende der Geschichte? Ist ein „normales“ Deutschland zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ein ganz auf sich selbst bezogenes Land, das Europa zur Bedeutungslosigkeit verdammt? Alles ist möglich, aber dieser schlimmste aller Fälle scheint nicht wahrscheinlich. Und zwar deshalb, weil die gegenwärtige Verwirrung in Deutschland ebenso auf das Verschwinden der alten Gewissheiten des Kalten Kriegs zurückgeht wie auf den Sirenengesang eines neuen Nationalismus.

Die Welt verändert sich schneller, als Deutschland oder irgendein anderer europäischer Staat damit Schritt halten kann. Die Basis politischer und strategischer Interessen ist ins Wanken geraten. Das leise Summen integrierter Netzwerke wird in Zukunft weitaus wichtiger sein als feierliche Erklärungen ewiger Partnerschaft mit Russland oder die mahnenden Rufe nach europäischer Einheit.

Man sollte sich die Lage so vorstellen: Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Welt immer noch tief in den Ost-West-Konflikt verstrickt, und viele dramatische, entmutigende Ereignisse standen noch bevor. Doch die Grundlagen für das Ende des Kalten Kriegs waren schon gelegt – mit der Nato, der EWG und den subversiven Versuchungen der Entspannung, in deren Rahmen die Ostpolitik, wie viele sich erinnern werden, nur eine Variation in Moll darstellte.

Ganz ähnlich waren die vergangenen zwanzig Jahre vor allem von der Notwendigkeit bestimmt, mit den Hinterlassenschaften des Kalten Krieges fertig zu werden. Wir sind gerade erst dabei, die neue Dynamik einer multipolaren Welt zu verstehen. Aber wie in den sechziger Jahren sind die Grundlagen für eine ganz andere Zukunft längst gelegt. Wir brauchen nur ein wenig Geduld und Zuversicht, dann werden wir erkennen, wie diese Zukunft aussieht. Sie wird nicht „normal“ sein, denn normal sind per definitionem Dinge, die wir schon kennen. Deutschlands ungewisse Mittellage in Europa wird schrittweise einer zuversichtlicheren Rolle im Zentrum einer neuartigen weltumspannenden Gemeinschaft weichen.

An die Stelle der beiden Blöcke aus dem Kalten Krieg sind weltweit integrierte Räume getreten, die um miteinander verschränkte regionale Netzwerke zentriert sind. China und Indien sind neue Knotenpunkte solcher Netzwerke. Das wichtigste dieser Netzwerke besteht jedoch aus einer weitaus größeren Gruppe von Ländern, die sich von ihrem östlichsten Punkt an der finnisch-russischen Grenze westwärts bis zur amerikanisch-russischen Grenze in der Beringstraße erstreckt.

In dieser neuen, vom Atlantik bis zum Pazifik reichenden europäisch-amerikanischen Gemeinschaft lebt nahezu eine Milliarde Menschen, die fast die Hälfte des Bruttosozialprodukts der Welt erwirtschaften. Es ist eine Zone der Demokratie, des Wohlstands und der Stabilität, wie man sie sonst nirgendwo auf der Erde findet. Während die Politiker sich noch mit der alten, aus dem Kalten Krieg überkommenen Definition Europas abmühen, wird das nächste Kapitel der atlantischen Geschichte längst innerhalb eines eng verwobenen Geflechts miteinander verschränkter kommerzieller und kultureller Netzwerke geschrieben.

Die deutsche Normalität fußt zurzeit immer noch auf den alten – eher mentalen als materiellen – Karten eines in Nationen und Nationenblöcke geteilten Europa, in dem Deutschland eine unbehagliche Mittelstellung einnimmt. Die Normalität von morgen wird dagegen auf anderen Einteilungen der Blutsverwandtschaft aufruhen und wahrscheinlich auch auf neuartigen politischen Gemeinschaften, die nicht im engen Sinne national, aber auch nicht auf amorphe Weise global geprägt sein werden und über deren Charakter wir heute nur Mutmaßungen anstellen können.

Diese neuen Räume werden die alten Trennungslinien in Europa und anderswo überschreiten und die strategischen Interessen eher nach außen als nach innen auf die Erhaltung lokaler Gleichgewichte richten. Selbst Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken werden sich früher oder später von der veralteten und beschränkten Fixierung auf lokale Gleichgewichte lösen und ihre strategischen Interessen im Kontext dieser neuen globalen Verbindungen definieren. Deutschland liegt, wie man leicht bemerken wird, auf halbem Wege zwischen Asien an einem Ende und Amerika am anderen Ende dieser erweiterten geostrategischen Geographie.

Deutschland ist besonders gut darauf vorbereitet, aus dieser neuen Dynamik Nutzen zu ziehen. Es besitzt eines der besten Industrie-, Verkehrs- und Kommunikationsnetze der Welt. Deutschland wird nicht mehr in der Mitte einer nach innen, sondern einer nach außen schauenden Politik liegen. Es wird zum Dreh- und Angelpunkt neuer globaler Netzwerke werden, die Asien, Europa und beide Amerikas miteinander verknüpfen. Es liegt direkt an den Handelswegen, die Nordamerika mit Europa und Asien verbinden. Wer über die deutschen Autobahnen fährt, erhält einen unmittelbaren Eindruck von der Situation, die sich gegenwärtig abzeichnet: Lastwagen aus vielen Ländern verstopfen jetzt schon die Straßen, und es kann kaum überraschen, dass die meisten führenden Logistikunternehmen der Welt aus Deutschland kommen. Die Deutsche Bahn plant mehrere Eisenbahnverbindungen nach China. Und Helsinki ist heute schon der wichtigste Seehafen für Zentralasien.

In den ersten 75 Jahren seines Bestehens als Staat musste Deutschland einen ständigen Balanceakt zwischen seinen strategischen Interessen gegenüber den östlichen und den westlichen Nachbarn vollführen. Das amerikanische Engagement in Europa bestand in den vergangenen hundert Jahren größtenteils in dem Versuch, Deutschlands Rolle innerhalb dieses unvorhersehbaren kontinentalen Gleichgewichts auszutarieren.

Jetzt, da seine zweiten 75 Jahre als Staat ihrem Ende zustreben, hat Deutschland die Chance, an seine historische Rolle als Knoten und Kreuzungspunktanzuknüpfen, an dem sich weltumspannende ökonomische und kommerzielle Netzwerke aus ganz Europa und Asien, Nord- und Südamerika überschneiden. Damit werden neue Aufgaben und neue Verantwortung auf Deutschland zukommen. Doch vor allem wird das Land eine andere Mentalität entwickeln. Mit dem verstärkten Bewusstsein, im Zentrum einer auf neue Art integrierten Welt zu liegen, wird auch ein neues Verantwortungsgefühl entstehen, das die Gespenster der Vergangenheit schrittweise zurückdrängen wird.

Deutschland wird die Fragen nach seiner Normalität nicht beantworten, sondern über sie hinausgehen. Nach allem, was wir heute wissen, wird Deutschland nicht normal sein. Aber auch alles andere wird nicht normal sein.

Quelle: John Kornblum, „Zentrum einer integrierten Welt. Deutschland und die Gespenster der Vergangenheit“ (übers. v. Michael Bischoff), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258, 6. November 2009, S. 8. Online unter: https://www.the-american-interest.com/2009/11/01/from-the-middle-to-the-center/