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Freie Hand für den Kanzler
Oskar Lafontaines rabiater Rückzug ins Privatleben eröffnet Gerhard Schröder eine zweite Chance. Er kann – und muß – jetzt seine eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik durchsetzen. Die SPD unterwirft sich seinem Führungsanspruch, mehr aus Vernunft denn aus Sympathie.
Der Bundeskanzler ahnte noch nichts, als vom anderen Ende des „global village“, aus New York, die ersten Gerüchte nach Bonn vordrangen.
Hektisch riefen am Donnerstag mittag der vergangenen Woche amerikanische Analysten und Makler im Kanzleramt und im Finanzministerium an: Ob es denn stimme, daß Oskar Lafontaine zurücktrete? An der Wall Street werde diese „News“ als heißer Tip gehandelt.
Falsch, absolut falsch sei das, versicherte Torsten Albig, Lafontaines Sprecher im Finanzministerium. Keine Notlüge – er wußte nichts. Dennoch schossen um 15.30 Uhr, als die Wall Street den Handel eröffnete, erst mal die Kurse nach oben. Ausgerechnet die Spekulanten, die Vertreter jenes Kasino-Kapitalismus, den Lafontaine so leidenschaftlich bekämpfen wollte, ahnten vor allen anderen, was sich in einer kleinen Stadt in Germany zusammenbraute.
Erst zehn Minuten später, gegen 15.40 Uhr, lieferte ein Bote Lafontaines Brief mit der Aufschrift „Für den Herrn Bundeskanzler – persönlich“ bei Marianne Duden im Vorzimmer des Kanzlers ab. Schröder, der gerade allein an seinem Schreibtisch arbeitete, mochte zunächst kaum glauben, was er las: „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich trete hiermit als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen – Oskar Lafontaine”.
Sofort trommelte der Kanzler eine Runde von Vertrauten in seinem Amtszimmer zusammen: Staatssekretär Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerbüro-Leiterin Sigrid Krampitz und den SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck. Kanzleramtsminister Bodo Hombach leitete gerade eine Sitzung des Hauptausschusses fürs Bündnis für Arbeit im Kanzleramt. Er wurde herausgerufen und unterrichtet.
Wenig später kehrte Hombach in die Runde zurück und erklärte den Anwesenden, fein lächelnd: „Soeben ist der Minister der Finanzen zurückgetreten.“ Den Teilnehmern fiel auf, daß ein gewisser beschwingter Ausdruck während der restlichen Sitzung nicht mehr aus Hombachs Gesicht gewichen sei.
Keine weiteren Erläuterungen? Unablässig versuchte Marianne Duden Lafontaine anzurufen, doch der wollte mit dem Kanzler nicht reden. Die Sache sei entschieden, ließ er ausrichten; außerdem sei er praktisch schon auf dem Wege nach Saarbrücken.
Später, als er über ein Mobiltelefon zu erreichen war, verweigerte er den direkten Kontakt mit Schröder. Wieder erfuhr der Kanzler nur über eine dritte Person, daß Lafontaines Entschluß feststehe, es gebe nichts mehr zu bereden. Dann wurde aufgelegt. Bis vorigen Freitag abend blieben alle Versuche Schröders und seiner Crew, Lafontaine zu sprechen, im Kanzleramt ergebnislos.
Das war‘s. Ein Blackout? Ein Akt der Illoyalität, dem Kanzler jede Erklärung zu verweigern, der rabiate Rückzug eines Ministers und Parteichefs im Zorn, der alle Beteiligten ratlos machte.
Wie so oft reduzierte sich – wenn es ernst wird – das hochkomplizierte deutsche Parteien- und Regierungswesen auf ein schlichtes Duell Mann gegen Mann. So ging es zu zwischen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Und nun auch zwischen Schröder und Lafontaine.
Immer stehen sich zwei starke Figuren mit Alleinvertretungsanspruch und unterschiedlichem Politikstil und -verständnis gegenüber. Sie gehen Zweckbündnisse auf Zeit ein, die sie aber regelmäßig nur ächzend und bedingt durchhalten. Die Rivalität zwischen Lafontaine und Schröder brach offen aus, als die Regierung aus dem Stümpern nicht herauskam.
Wer von beiden war schuld am Mißlingen? Die Schröder-Leute verbreiteten schon seit Wochen die Kunde vom schlecht vorbereiteten Finanzminister Lafontaine, der sich mit seinen Getreuen im Ministerium einigele und der Doppelbelastung nicht gewachsen sei. Lafontaines Truppe wiederum wies vorwurfsvoll auf die mangelhafte Koordination im Kanzleramt hin und spottete über den „Cashmere-Kanzler“, der im teuren Mantel für Lifestyle-Magazine posiere.
Das Duo Schröder/Lafontaine harmonierte, solange beide sich gegenseitig Respekt zollten und Schonung garantierten. Jeder der beiden Machtmenschen durfte glauben, er betreibe in eigener Verantwortung ein eigenes Projekt – Kanzler der eine, Schatzkanzler der andere.
Als aber Schröder immer öfter den Vorrang ausspielte, den die Kanzler-Demokratie dem Regierungschef einräumt, mochte Lafontaine nicht mehr mitmachen. Er vollzog den Rückzug ins Privatleben: handstreichartig und umfassend.
Es ging ja auch nicht bloß um Rivalität. Einmal mehr standen die beiden Sozialdemokraten vor dem klassischen Zielkonflikt: Wieviel Belastung darf eine Regierung der Wirtschaft im Namen der sozialen Gerechtigkeit zumuten? Schafft man Arbeitsplätze, indem man die Investitionsbedingungen für die Wirtschaft verbessert? Oder kurbelt man besser die Konjunktur durch Massenkonsum an?
Lafontaine legte sich mit den Stromkonzernen und den Versicherungsunternehmen an. Schröder aber wollte und will nicht gegen die Wirtschaft regieren. Der latente Gegensatz zwischen beiden war vergangene Woche in voller Schönheit zu besichtigen.
Auf dem Papier ist Schröder jetzt ein so starker Kanzler wie Helmut Kohl zu seinen besten Zeiten. Er folgt dem Ratschlag Helmut Schmidts und übernimmt auch den Vorsitz der SPD. Doch ungeliebter bei den Genossen als er hat noch nie ein Parteichef in der Nachkriegs-SPD dieses Amt übernommen. Fürs erste muß und wird die Partei sich fügen, will sie Erfolg und Führung.
Welche Rolle Schröder den Grünen zuweist, hat er sie wissen lassen: mehr Fischer und weniger Trittin, mehr zweckorientierter Regierungspragmatismus und weniger Kapriolen im Dienste von Minderheiten.
Die Grünen haben zu lange dafür gelebt und gekämpft, in Bonn am Kabinettstisch zu sitzen, als daß sie jetzt ihre Chance leichtfertig aufgeben könnten. Sie haben auch wenig Drohpotential: Fielen sie als Mehrheitsbeschaffer aus, stünde die FDP als Ersatz zur Verfügung. Auch eine Große Koalition ist als Alternative nicht ausgeschlossen, Schröders Vorliebe für breite Mehrheiten beim Regieren und in der Gesellschaft käme ein Bündnis mit CDU/CSU ohnehin am nächsten. Das Publikum neigt derzeit auch wieder einer Großen Koalition zu, wie das Emnid-Institut im Auftrag des SPIEGEL herausfand.
Der Showdown begann in der Kabinettssitzung am Mittwoch vergangener Woche. Schröder hob zu einer Standpauke an, die dann in gezielter Übertreibung als Balkenüberschrift in „Bild“ landete: „Schröder droht mit Rücktritt!“
Dabei hatte der Kanzler nicht einmal die Stimme gehoben, als er in der Ministerrunde zur Sache kam und die „Rückbesinnung auf die Grundlagen unseres Wahlerfolges“ forderte. Man habe die „neue Mitte umworben und tatsächlich ihr Vertrauen erhalten“, sagte er. „Aber hier gehen immer noch einige davon aus, daß man das Land gegen die Wirtschaft regieren kann. Das geht nicht.“
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Danach kam der Kanzler auf den peinlichen Zahlenwirrwarr um die Belastung der Energieversorger zu sprechen, auf den Zickzackkurs bei den Steuerreformen: „So kann das nicht weitergehen.“ Den Namen Lafontaine sprach er nicht aus, aber jedem war klar, wer gemeint war.
Zunächst herrschte Schweigen im Kabinettssaal, bis ausgerechnet Lafontaine als erster Worte fand – und zwar erstaunliche: „Gerd“, sagte er, „ich gebe dir in allen Punkten recht.“ Für Abstimmungsgespräche stehe er zur Verfügung.
Damit muß sich Schröder nun nicht mehr aufhalten. Endlich kann der Kanzler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik so schalten und walten, wie er es immer wollte. Der Automann, der von jeher glaubt, daß es keine rechte, keine linke, wohl aber eine moderne Wirtschaftspolitik gibt, hat schließlich sein Schicksal mit neuen Jobs verbunden.
Und da lief bisher kaum etwas nach Wunsch: Derzeit sind über 500 000 Menschen mehr arbeitslos als am Tage von Schröders Amtsantritt. Die deutsche Wirtschaft droht zu stagnieren, und auch für die kommenden Monate verschoben viele Unternehmer kurzerhand Investitionen – aus Angst vor neuen Belastungen aus Bonn.
Nun strebt Schröder eine schnelle Stimmungswende an. Mit neuem Elan wollen die SPD-Modernisierer ihre Projekte vorantreiben, unterstützt durch die Grünen, die am vergangenen Freitag rasant auf einen wirtschaftsliberalen Kurs einschwenkten:
˃ Die Steuerreform, Teil eins, wird zwar durchgezogen. Aber schon zum 1. Januar 2000 soll die Industrie kräftig von einer Reform der Unternehmensteuern profitieren. Den Familien soll das Karlsruher Urteil zugute kommen.
˃ Neuen Schwung versprechen sich die Schröder-Leute für das Bündnis für Arbeit und den Energiekonsens: Ohne Buhmann Lafontaine kann Schröder mit wohlgesinnten Unternehmern rechnen.
˃ Handwerklich saubere Arbeit fordert der Kanzler für die weiteren Reformvorhaben, die die Wirtschaft treffen: Gesundheit, Rente, Niedriglohn. Endlich soll verwirklicht werden, was der Kanzler nach dem Chaos der ersten 100 Tage versprochen hat: Genauigkeit vor Schnelligkeit.
Lobbyisten und Wirtschaftsverbände triumphierten über Lafontaines Abgang, als gelte es, den zweiten Sieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft zu feiern.
„Das ist einer der schönsten Tage meines beruflichen Lebens“, jubelte Hans Schreiber, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsunternehmen: „Lafontaine war ein Kapital- und Arbeitsplatzvernichter.“
Blendend gelaunt kommentierte auch Hans-Olaf Henkel die Nachricht. „Jetzt hat sich der Kanzler von einer Fußfessel befreit“, frohlockte der Industriepräsident, „nun hat er nur noch eine – und die heißt Jürgen Trittin.“
Die Börsen erlebten ein Kursfeuerwerk wie schon lange nicht mehr: Binnen sieben Minuten legte die europäische Währung gegenüber dem Dollar um zwei Cent zu; der Deutsche Aktienindex Dax kletterte am Freitag in der ersten Viertelstunde im Vergleich zum Vortag um über 300 Punkte, mithin um sechs Prozent – Vorschußlorbeeren für Schröder.
So ungeniert der Jubel bei der Wirtschaft war, so geschockt reagierten die Koalitionskollegen Lafontaines. Für einen Moment schien das politische Herz der Republik zu stocken, als die Nachricht vom Rücktritt des SPD-Chefs am vergangenen Donnerstag in den sonnigen Vorfrühlingsnachmittag platzte.
Außenminister Joschka Fischer joggte gerade bei herrlichem Sonnenschein am Bonner Rheinufer, wie üblich gemeinsam mit Sicherheitsbeamten, als ihn – per Handy – ein Anruf des Kanzlers erreichte: „Nicht duschen, gleich kommen“, befahl ihm der Regierungschef, ohne anzudeuten, warum er es so eilig hatte, den Obergrünen zu sehen.
Kurzerhand spurtete der Außenminister, bis er schließlich im Kanzleramt stand: schwitzend und schwer atmend, in kurzer Hose und Baseballkappe auf dem grauen Haupthaar, erhielt er die Nachricht vom Kanzler persönlich.
Auch den SPD-Vize und Präsidentschaftskandidaten Johannes Rau rief Schröder selbst an. Der machte sich von Wuppertal aus sofort auf den Weg nach Bonn. Ganz überraschend traf ihn die Nachricht nicht: Er hatte wenige Tage zuvor nach einem Gespräch mit dem da schon bitteren Lafontaine seine Vermittlungsdienste angeboten. Zu spät. „Jetzt kommen schwere Zeiten auf die SPD zu.“
So sah das auch der Kanzler. „Wir sind in einer schwierigen Phase, und es kann eine gefährliche Rutschbahn daraus werden“, unkte er am Donnerstag. Doch wie immer, wenn der Niedersachse seine Besitztümer bedroht sieht, lief er in der vergangenen Woche zu großer Form auf. Er agierte schnell, klar und zugreifend.
Die Koalitionsrunde am Donnerstag war ohnehin für den Abend angesetzt. Jetzt bat er die Spitzenleute beider Parteien vorher ins Kanzleramt. „In großem Ernst“, so ein Teilnehmer, seien dort Koalitionsabsprachen „eindeutig festgelegt worden“. Die Runde einigte sich auf eine Sprachregelung: Der Doppel-Paß-Kompromiß sollte als erster großer Erfolg des Staatsbürgerschaftsrechts gepriesen werden.
Schröder erneuerte geradezu feierlich sein Koalitionsversprechen: „Ich will den Erfolg dieser Koalition. Ich will sie rational, und ich will sie emotional. Dazu stehe ich.“ Allen Beteiligten war klar: Nun würde es keine Entschuldigungen mehr geben. Der Startschuß für den zweiten Anlauf war abgefeuert.
Die überdrehte Männerfreundschaft zwischen Lafontaine und Schröder ist vorbei. Bis zuletzt hatten die beiden dieses Medienmärchen der Welt in grellen Bildern und mit aufdringlichem Krampflächeln erzählt. Die Zusammenarbeit sei „sehr eng, sehr gut, sehr freundschaftlich“, versicherte der Bundeskanzler noch am vergangenen Montag.
Daß Lafontaine in den vergangenen Wochen und Monaten nicht gut drauf gewesen sei, war Gesprächsthema bei den Genossen, die sich in Bonn zum Parteirat versammelten, dem höchsten SPD-Gremium zwischen Parteitagen. Doch mit heroischem Gestus versicherte Lafontaine: „Es kommt nicht darauf an, wie schlecht es dem Vorsitzenden geht. Es kommt darauf an, daß es der Partei gutgeht.“
Daß die Wirtschaft Sturm gegen die rotgrünen Reformprojekte laufe, bezeichnete er als „nachvollziehbar“: Es würden eben die Weichen anders gestellt als in den vergangenen 16 Jahren. Leidenschaftlich forderte Lafontaine die Genossen auf, diese „arbeitnehmer- und familienfreundliche Politik“, die es viel zu lange nicht gegeben habe, weiter offensiv zu vertreten, auch bei Gegenwind.
Dann redete Schröder. „In der Sache“, sagte er, sei er mit der Bilanz Lafontaines einverstanden. Doch halte er es für falsch, sich allzu einseitig festzulegen. Man könne keine Politik gegen die Wirtschaft machen. „Niemandem nützt es, wenn man sich Debatten in alter Klassenkampfqualität liefert.“
Es gab keinen großen Applaus nach Schröders Rede, eher ein unbehagliches Schweigen. Aber der Gegensatz lag jetzt offen zutage.
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Jetzt trat Schröder in die Fußstapfen Helmut Schmidts, und Lafontaine verstand sich als Nachfolger Willy Brandts. Einen „Politikwechsel in Deutschland“ propagierten sie unter dem Motto „Innovation und Gerechtigkeit“. Schröder und Lafontaine, das war die Antwort der deutschen Sozialdemokratie auf Tony Blair und Lionel Jospin.
Lafontaine übernahm im Duo die Traditionsrolle. Daß er sonderlich beliebt gewesen wäre bei den Genossen, behaupteten nicht einmal seine engsten Freunde. Doch respektiert und gefürchtet war er allemal, auch von Schröder.
„Du kannst ja den Vorsitzenden machen“, pflegte Lafontaine dem Niedersachsen anzubieten, wenn der über die Partei murrte. „Das wirst du mir doch nicht antun“, pflegte der zu antworten. Das war eines jener Scherzrituale mit tieferem Hintergrund, die den sarkastisch gebrochenen Verkehrston der beiden ausmachte.
Nach der März-Wahl in Niedersachsen war klar, daß Lafontaine gegen den Medienstar und Publikumsliebling Schröder keine Chance mehr hatte. Gemeinsam bestritten sie den Wahlkampf, gemeinsam versuchten sie, die rot-grüne Koalition in Bonn zu etablieren.
Mit großer Selbstverständlichkeit bedankte sich Lafontaine nach dem Machtwechsel für „das Vertrauen für Gerhard Schröder und mich“. Während Schröder sich als Regierungschef in Szene setzte, versuchte der Parteivorsitzende sich im Finanzministerium als Neben-, Über- und Schattenkanzler aufzubauen.
Doch die Doppelbelastung als Minister und Parteichef überforderte Lafontaine zunehmend.
Der doppelte Oskar wollte als Finanzminister nicht nur vieles besser, sondern alles ganz anders machen als sein Vorgänger. Noch während der Koalitionsverhandlungen baute er das Finanzministerium zum neuen Superministerium aus, entriß dem Wirtschaftsminister die Zuständigkeit für große Teile der Europapolitik und für Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik. CSU-Vorgänger Theo Waigel: „Der hat viel zuviel an sich gezogen.“
Lafontaine brauchte sein neues Machtzentrum nicht nur, um die Welt von seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu überzeugen. Sein Ego verlangte nach einem eigenständigen Projekt neben dem Kanzler. Also versuchte er als makroökonomischer Missionar einen Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik einzuleiten – weg von der Angebotspolitik, die auf das freie Spiel der Märkte setzt, hin zu einer Nachfragepolitik, die die Geldpolitik unter Druck setzt und notfalls durch staatliche Verschuldung die Konjunktur ankurbelt.
Die Theorien der neoliberalen Ökonomie Milton Friedmans und der Chicago-Schule waren für Lafontaine „ökonomischer Scheißdreck“.
Unterstützt von seiner Frau und Ko-Autorin Christa Müller, veröffentlichte er im Frühjahr vergangenen Jahres sein ökonomisches Glaubensbekenntnis, ein 352-Seiten-Buch mit dem Titel „Keine Angst vor der Globalisierung“. Der studierte Physiker Lafontaine glaubte endgültig, er sei als Makroökonom weltweit anerkannt. Trotzig behauptete er in Vorträgen, daß viele seiner Positionen in Wissenschaft und Politik völlig „unstreitig“ seien – doch genau das waren sie nicht.
Lafontaine eckte immer wieder an. Die Bundesbank brachte er in Rage, weil er von den Frankfurter Währungshütern massiv Zinssenkungen einforderte. Seine europäischen Finanzminister-Kollegen verschreckte er mit der Forderung nach einheitlichen Steuern in der Europäischen Union. Die Amerikaner nervte er mit seinem steten Ansinnen, die Wechselkurse von Euro, Yen und Dollar in Zielzonen zu zwängen.
Die besserwisserisch vorgetragenen Ideen Lafontaines und seiner Truppe – vorneweg sein Staatssekretär für internationale Fragen, Heiner Flassbeck – galten amerikanischen Größen der Finanzdiplomatie wie Alan Greenspan, dem amerikanischen Notenbankchef, als „glatte Illusion“. Waigel bekam auf einer Reise nach Washington jüngst von US-Finanzminister Robert Rubin zu hören: „Theo, we miss you so much“ – wir vermissen dich wirklich sehr.
So ungeliebt Lafontaine als Minister für Weltwirtschaft blieb, so umstritten war er im eigenen Land. Ihm entglitt ausgerechnet jenes Projekt, das dem Kanzler so sehr am Herzen lag: die Steuerreform.
Im vergangenen Herbst brachte der Umverteiler aus dem Saarland mit seinen Plänen binnen weniger Tage Unternehmen und Lobbyverbände gegen die rot-grüne Regierung auf. Auf Druck des Kanzlers besserte er das hektisch erstellte Werk immer wieder nach. „Die Vorschläge aus dem Finanzministerium mußte man zuletzt nicht bloß mit Datum, sondern mit Uhrzeit versehen - so schnell haben sie sich geändert“, schimpfte Gernot Mittler, SPD-Finanzminister in Rheinland-Pfalz. „Dieser teuflische Zeitdruck war verheerend.“
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Mit Lafontaines Abgang ist der wirtschaftspolitische Richtungsstreit innerhalb der SPD entschieden. Nun haben die Modernisierer freie Hand. Lange versuchten Schröder und Lafontaine, ihre massiven Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu überspielen. Doch es wurde immer klarer, daß sie sich nicht darüber einigen konnten, was modern, was gerecht, was innovativ ist.
Oskar Lafontaine wollte vor allem sozialdemokratische Wahlversprechen einlösen: weg mit der Blümschen Rentenformel, den Kündigungsschutz wieder verbessern, zurück zur vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Schröder trug das zwar offiziell mit, aber intern lief sein Helfer Hombach Sturm gegen Lafontaines Rezepte. Da wurde im Kanzleramt schon mal ein Papier von Lafontaines Leuten mit dem Vermerk „Schwachsinn!“ zurückgeschickt. Lafontaines Leute im Finanzministerium lästerten derweil über die „Profilierungssucht des Oberkoordinators Hombach.“
Mit solchem Kleinkrieg soll jetzt Schluß sein. Der Weg scheint frei für eine „linke Angebotspolitik,“ wie sie Schröders Kanzleramtsminister Hombach schon kurz nach der Bundestagswahl in einem Buch mit dem programmatischen Titel „Aufbruch“ propagierte.
Die neue Freiheit ist freilich nicht ohne Risiko. Die Bekenntnisse zu einer wirtschaftsfreundlichen Politik mit menschlichem Antlitz sind bislang weitgehend Theorie geblieben.
[…]
Quelle: Jürgen Hogrefe, et. al, „Freie Hand für den Kanzler,“ Der Spiegel, 11/1999 (15. März 1999), S. 22–33.