Kurzbeschreibung

Die Fortschrittspartei hatte eine längere Tradition als beinahe jede andere Partei in der Bismarckzeit. Doch in den 1870er Jahren fanden es die Fortschrittler zunehmend schwierig, den Spagat zwischen Unterstützung für Bismarcks Außenpolitik und klarer Opposition bei innenpolitischen Fragen zu schaffen. 1878, zu einer Zeit, als Bismarck sich vom Liberalismus abwandte, und nur einen Monat vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes, stand die Fortschrittspartei am Scheideweg. Das auf ihrem Parteitag im November 1878 angenommene überarbeitete Programm lehnt den Sozialismus ab und fordert neue Bündnisse mit der Rechten, verteidigt jedoch klassische liberale Grundsätze. Im Hinblick auf Letztere befürwortet es den Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit, reduzierte Militärausgaben, Freihandel, Trennung von Staat und Kirche sowie Meinungs- und Pressefreiheit. Andererseits fanden sich die weniger liberalen Aspekte zusammengefasst in Rudolf Virchows programmatischer Rede an diesen Parteitag: „Wir müssen uns als unabhängige Männer, nach oben gegen die Regierung, nach unten gegen die Massen, welche die Gesellschaft bedrohen, hinstellen. [] Ich meine daher, dass wir unsere Unterstützung nach rechts suchen müssen in den unabhängigen Männern, in dem arbeitsamen Volke, in den Besitzenden, in Mitten des guten alten deutschen Bürgertums.“ Die Versuche der Fortschrittler, diesen Mittelweg zu beschreiten, wurde mit einem kurzfristigen Wahlerfolg quittiert: Von 26 Sitzen und weniger als 7% Stimmenanteil im Jahr 1878 steigerte die Partei 1881 ihre Gesamtmandatzahl auf 60 und den Stimmenanteil auf 13%.

Programm der Deutschen Fortschrittspartei (25. November 1878)

Quelle

Die deutsche Fortschrittspartei, im Jahre 1861 in dem doppelten Kampfe um die Einigung des deutschen Vaterlandes und um die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung entstanden, hat nach wie vor zum obersten Ziele, dem deutschen Staatswesen immer festere Grundlagen zu schaffen durch Sicherstellung der bürgerlichen Freiheit, durch Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt des Volkes, durch Kräftigung der konstitutionellen Rechte seiner Vertretung. In Treue gegen den Kaiser, auf dem verfassungsmäßigen Boden des Bundesstaates wird die Partei die Aufgaben erfüllen, die ihr für das deutsche Reich und das deutsche Volk erwachsen. Diese Aufgaben bezeichnen zugleich die Grundrichtung, welche ihre politische Tätigkeit auf dem Boden der konstitutionellen Verfassungen in den Einzelstaaten einzuhalten hat. In diesem Sinne hat der Parteitag beschlossen, als leitende Grundsätze, um die wesentlich die Parteigenossen sich zu sammeln haben, die folgenden Aufgaben der deutschen Fortschrittspartei zu bezeichnen:

1. Die Entwicklung der parlamentarischen Verfassung durch Kräftigung der Rechte des Reichstages, und durch Einrichtung eines demselben verantwortlichen Reichsministeriums. Erhaltung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts und der dreijährigen Legislaturperiode. — Gewährung von Diäten an die Reichstagsmitglieder.

2. Volle Durchführung des Rechtsstaates, insbesondere Gleichheit vor dem Gesetze ohne Ansehen des Standes und der Partei; Aburteilen von politischen und Preßvergehen durch Geschworene; Sicherung der Preß-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit.

3. Entwicklung der vollen Wehrkraft des Volkes unter Schonung der wirtschaftlichen Interessen, daher Verminderung und gleichmäßigere Verteilung der Militärlast durch Abkürzung der Dienstzeit und volle Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Jährliche Feststellung der Friedenspräsenzstärke durch das Etatgesetz.

4. Erhaltung des Rechtes des Reichstages auf jährliche Steuerbewilligung; bis zur vollen Sicherstellung dieses Rechtes in anderer Form Beibehaltung der Matrikularbeiträge unter Annahme eines gerechteren Verteilungsmaßstabes. Verteilung der Steuerlast nach Maßgabe der Steuerkraft; insbesondere keine Überbürdung der weniger bemittelten Volksklassen durch unverhältnismäßige Besteuerung allgemeiner Verbrauchsgegenstände. Festhaltung der bewährten Grundsätze der Zollvereinspolitik; keine Steuer- und Zollpolitik im Dienste einseitiger Interessen. — Keine Monopole.

5. Aufrechterhaltung der Freizügigkeit, der Gewerbefreiheit, der Koalitionsfreiheit. Weiterer Ausbau der wirtschaftlichen Gesetzgebung, insbesondere zum Schutze für Leben und Gesundheit der Arbeiter, der Frauen und der Kinder; Erweiterung der Haftpflicht; gewerbliche Schiedsgerichte. Gesetzliche Anerkennung der auf Selbsthilfe begründeten Vereinigungen (Pensionskassen, Arbeitgeberverbände, Gewerkvereine, Einigungsämter). Förderung der allgemeinen und technischen Bildung der arbeitenden Klasse. Reform der Aktiengesetzgebung.

6. Festsetzung der im öffentlichen Interesse notwendigen Bedingungen für die Anlage und den Betrieb der Eisenbahnen durch Reichsgesetze und Handhabung derselben durch Reichsbehörden mit unmittelbarer Exekutivgewalt; dagegen Ablehnung des Reichseisenbahnprojektes.

7. Individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit. Abgrenzung des Rechtsgebietes der Kirchen- und Religionsgesellschaften gegenüber dem Staat durch Staatsgesetz. Daher allgemeine Gesetzgebung über die Religionsgesellschaften ohne Rücksicht auf einzelne Konfessionen und ohne Bevorzugung oder Zurücksetzung bestimmter Kirchen, namentlich Feststellung der Bedingungen, unter welchen Religionsgesellschaften staatlich anerkannt werden und Korporationsrechte erhalten müssen.

8. Selbständigkeit der Schule gegenüber der Kirche, unbeschadet der Ordnung des Religionsunterrichts. Allgemeiner obligatorischer und unentgeltlicher Volksunterricht.

Quelle: Deutsche Parteiprogramme, Berlin 1894, S. 39–40; abgedruckt in Felix Salomon, Hrsg., Die deutschen Parteiprogramme, Heft 2, Im Deutschen Kaiserreich 18711918, Hrsg. Wilhelm Mommsen und Günther Franz, 4. Aufl. Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1932, S. 37–38.