Quelle
Die Sprache und der Sprachgebrauch sind der lebendigste Ausdruck nicht nur des Volksgeistes überhaupt sondern der gesellschaftlichen Lebensformen. Das Wort bezeichnet in der Regel das Wesen und es mag daher nicht müßig scheinen, wenn wir hier für Titel d.h. für Worte sehr ernstlich ein „pro“ und „contra“ einlegen. – Wir meinen die Titel „Frau“ und „Fräulein“, mit welchen man vermählte und unvermählte Individuen weiblichen Geschlechts unterscheidend zu bezeichnen pflegt. – Diese strenge Unterscheidung schreibt sich daher, daß das Weib bisher fast nur eine geschlechtliche Geltung hatte und ausschließlich unter dem Horizont seiner „natürlichen Bestimmung“ betrachtet wurde. – Das Weib wird fast nie vom objektiven, rein menschlichen Standpunkt, als selbständiges Glied der menschlichen Gesellschaft beurtheilt, wenigstens in Deutschland kaum, sondern nur in seinem Verhältniß zum Mann, daher, nur wenn es in den Ehestand tritt, gelangt es gleichsam in eine vollberechtigte Existenz, in die höchste ihm zugängliche rechtliche und sociale Sphäre – es wird „Frau“. – Unvermählte dagegen, ob jung oder alt, sind und bleiben etwas Kleines, Unbedeutendes, Unvollendetes – Neutrales – sie sind „Fräulein“.
Weshalb nennt man unvermählte Männer, selbst die, kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglinge niemals „Herrlein’s“ – Weil sie von Geburt aus sich einer selbständigen Existenzberechtigung erfreuen, nicht erst der Vereinigung mit dem andern Geschlechte bedürfen, um ein Ganzes zu bilden, überhaupt des Verhältnisses zu Jenem nicht benöthigen, um in der Gesellschaft (im weitern Sinn) ein Etwas zu sein.
Quelle: Franziska Essenther, „Der Titel ‚Frau’“, in Frauen-Anwalt. Organ des Verbandes deutscher Frauenbildungs- und Erwerbs-Vereine, Berlin, 2, Nr. 6, 1871, S. 193; abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hrsg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 102–3.