Kurzbeschreibung

Eine Reihe katholischer Denker befasste sich ebenfalls mit der sozialen Frage. Dieser Auszug stammt aus Die Quintessenz der sozialen Frage (1880), verfasst vom katholischen Theologen und Sozialreformer Franz Hitze (1851–1921). Hitze befürwortete eine Art ständischen Sozialismus, der sich vom Programm der Sozialdemokratie in vieler Hinsicht abhob. Einer der wichtigsten Unterscheidungspunkte war Hitzes Argument, dass der Staat keine Führungsrolle bei der Erhaltung oder Reform der bestehenden Gesellschaftsordnung übernehmen sollte. Diese Aufgabe fiel seiner Meinung nach selbstorganisierten, mit traditionellen Zünften vergleichbaren Berufsständen zu. Auf diese Weise, so glaubte er, könne die bürgerliche Gesellschaft sich im Wesentlichen selbst heilen. In einer Fußnote plädierte Hitze auch dafür, die parlamentarische Vertretung konkurrierender Interessen mittels eines neuen Wahlgesetzes ebenfalls auf korporativer Grundlage neu zu ordnen.

Franz Hitze, Die Quintessenz der sozialen Frage (1880)

  • Franz Hitze

Quelle

Der „Sozialismus“ will alles total egalisieren und mechanisieren. Der Staat soll Alles sein, die ganze Produktion und Verteilung ausschließlich in die Hand nehmen. Da ist der Sozialismus auf die Spitze getrieben. Dieser ist weder als Ideal zu rechtfertigen, noch der Gerechtigkeit (dem bestehenden Eigentumsrecht) entsprechend, noch praktisch durchführbar, noch endlich in den faktischen Voraussetzungen – allgemein herrschender Großbetrieb – zutreffend.

Sozialismus muß sein weil und soweit die Produktionsweise sozialistisch ist. Nicht alle Produktionszweige sind gleich sozialistisch, deshalb auch der einzuführende rechtliche Sozialismus nicht. Daraus folgt schon, ganz nach „sozialistischen“ Prinzipien, daß der Sozialismus sich an die besonderen großen Produktionszweige anschließen muß. Mit anderen Worten: der Sozialismus kann bloß ständische Form annehmen.

Sozialistische Organisation der Stände: das erscheint uns als die Lösung der sozialen Frage. Dieselbe ist nichts neues: das Mittelalter hatte sie. Die Zünfte waren sozialistische Organisationen, deren Sozialismus gegenüber der persönlichen Freiheit und dem persönlichen Eigentums- und Arbeitsrecht oft sogar (in der späteren Periode) viel zu weit ging, ebenso gut, wie nach der anderen Seite hin der Liberalismus mit seiner absoluten persönlichen Freiheit, seinem absoluten persönlichen Eigentums- und Arbeitsrecht zu weit geht. Aber ihrem Wesen nach waren die Zünfte ein Muster der Organisation von Eigentum und Arbeit. Solche zünftige Organisationen aller unserer Stände: das erscheint uns als das Ziel der Zukunft, als der einzige Weg, die Übermacht des Kapitals und der Maschine zu brechen, die Fortschritte der Produktion für das Ganze dienstbar zu machen. Natürlich, um es nochmals zu sagen: auf erweiterter wirtschaftlicher und demokratischer Grundlage.

Für das Handwerk hat man eine solch’ zünftig-sozialistische Reorganisation schon längst verlangt. Freilich macht man noch wenig ernst damit. Immer möchte man noch die „freie Innung“ einschmuggeln. Als wenn nicht der Zwang gerade das Wesen der Zunft ausmachte! Eine Innung ohne Zwang ist ein Messer ohne Klinge. Die Übermacht des Kapitals wird man damit nicht beschneiden. Und das ist doch unser Zweck. Eine Arbeits-Ordnung (im Gesellen-Lehrlingswesen etc.) wird damit auch nicht gesichert; denn Ordnung erfordert Zwang. Alle Versuche gemeinsamer Unternehmungen zur Aneignung der Vorteile der kapitalistischen Betriebsweise werden an dem Widerstande kapitalstarker Genossen scheitern, da sie sich selbst genügen, die Vorteile lieber für sich behalten. Wozu die Innung, wenn eine Fabrik, ein Magazin die ganze Innung aus den Angeln heben kann? Das Handwerk fordert Zwangs-Innung, wirklich zünftige Organisation, mit umfassender Gewalt ausgestattet, sein „Arbeitsrecht“ zu wahren, alle wirtschaftlichen Veranstaltungen, für welche die „individuelle Selbsthilfe“ nicht ausreicht, von Zunftwegen, gemeinsam ins Leben zu rufen. Und solche „zünftige“ Organisation fordern wir auch für den Bauernstand, für die Groß-Industrie und den Groß-Grundbesitz, für Groß- und Kleinhandel, für den Stand der Lohnarbeiter.

Um diese Reorganisation zu ermöglichen, müssen vor allem „Organe“ geschaffen werden, von denen diese Reorganisation auszugehen hat, resp. an die sie sich anschließen kann. Das beste und nächste Mittel dazu scheint uns ständische Interessenvertretung. Auch dieser Vorschlag ist nicht neu, nur betonen wir nicht so sehr die politische, als die sozial-wirtschaftliche Bedeutung, die sie in ihrer Weiterentwicklung für die Zukunft haben könnte und müßte.

Es gibt berechtigte ständische Interessen. Diese müssen aber auch im Recht ihren Ausdruck finden. Das führt zu einem ständischen Rechte. Das Recht soll geschaffen werden unter Mitwirkung der Beteiligten. So forderts das natürliche Recht, so anerkennt’s auch unsere – demokratische – Zeit. Ständisches Recht fordert also auch ständische Vertretung zur Schaffung dieses Rechts. Da müssen also die einzelnen Glieder der einzelnen Stände in Gemeinde, Provinz, Staat, Vertreter, Ausschüsse wählen, um, sei es in der „volkswirtschaftlichen“, sei es in der politischen Kammer, ihre ständischen Interessen zu beraten und ihnen gesetzgeberischen Ausdruck zu geben. Wir lassen unentschieden, ob diese ständische Vertretung neben unsere heutigen politischen Kammern zu stellen wäre oder ob diese Kammern einfach in ständische zu verwandeln wären[1]. Die Hauptsache ist: Wir hätten wieder „Vertreter des Volkes“, wie es leibt und lebt und arbeitet, wir hätten geeignete Organe zur Schaffung eines ständischen Rechts zum Schutz nach außen, gegenüber den anderen Ständen, zum Schutze nach innen, gegenüber böswilligen, eigensüchtigen Genossen, Organe, die ihre Tätigkeit immer mehr befestigt im öffentlichen Vertrauen, nach unten wie nach oben, denen auch bald Gerichtsbarkeit und Verwaltung zufallen würde. Es müßten ihnen umfassende Rechte auch zu gemeinsamen wirtschaftlichen Reformen in die Hand gelegt werden. Kurz, es müßte der Anstoß zu einer Bewegung werden, deren Endziel wir gar nicht absehen.

Gerade die Großindustrie bedarf der Organisation und der gesetzlichen Schützung dieser Organisation am dringendsten. Die „Anarchie der Produktion“ kann nur durch eine über- und durchgreifende – autoritative – Organisation gehoben werden. Ordnung der Produktion so, wie es der gesellschaftliche Bedarf erfordert: Das ist eine absolute Forderung, auf der Gesellschaft und Staat wie auch der einzelne Produzent, der ja dabei seine eigene Haut zu Markte trägt, um jeden Preis bestehen müssen. Nichts beweist mehr den unpraktischen blinden Doktrinarismus „des gebildeten Bürgertums“, als daß es in dieser Beziehung noch nichts gelernt, noch nichts getan hat. Die stets wachsenden Krisen werden ihm schon „Dialektik einpauken.“

Wenden wir uns zum Gegenpol – den Lohnarbeitern. Die Notwendigkeit ständischer Organisation hat die Gewerkvereine ins Leben gerufen. Leider sind sie einerseits politische Parteischöpfungen, anderseits entbehren sie des festen Gefüges, dessen sie bedürfen und das ihnen nur die Gesetzgebung sichern kann. Wollen und sollen die Arbeiter aber eine Besserung ihrer Lage erreichen, wollen sie aus ihrer proletarischen Existenz heraus, dann müssen sie sich organisieren. Die Fabrikarbeiter erfreuen sich schon einer ständischen (Schutz-)Gesetzgebung, aber diese bedarf noch einer bedeutenden Ausdehnung. Soll dieselbe durchgreifend und praktisch werden, so muß sie von den Arbeitern selbst in die Hand genommen werden, und das erfordert Organisation. Noch bedeutsamer wird diese, wenn wir das Ziel der Zukunft: Brechung des reinen Lohnsystems – Verwandlung desselben in feste Besoldung – ins Auge fassen. Daß das Verhältnis von Unternehmer und Arbeiter mehr Stetigkeit, mehr Gegenseitigkeit annehmen muß, dem kann doch unser „humanes“ und „demokratisches“ Zeitalter sich nicht auf die Dauer verschließen. Der Lohnarbeiter ist mehr als eine „Ware“, die bloß gekauft wird, wo und soweit es Profit einbringt. Der Arbeiterstand hat ein „Recht auf Arbeit“, auf den Mitgenuß des (nationalen) Kapitals und seiner Früchte, mag dieses Recht auch noch so ideal, abstrakt und allgemein sein. Daraus folgt aber auch sein Mit-Recht zur Ordnung der Produktion.

Am meisten individualistisch erscheint der Bauernstand. Bauernstolz und Bauerneigensinn wollen noch wenig wissen von „zünftiger“ genossenschaftlicher, ständischer Organisation. Aber die zunehmend industrielle Gestaltung der Produktionsweise, die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, der Maschine (Agriculturchemie) und des Kapitals zwingt den Bauer, will anders er sich gegenüber dem Großbetrieb behaupten, sich sozialistisch zu organisieren. Gemeinsame Anlegung von landwirtschaftlichen Schulen, Versuchsstationen, industriellen Anlagen (zur Beschäftigung der Arbeiter im Winter, zur Erhaltung des Abfalles der Fabrikationsgüter, zur besseren Verwertung seiner Produkte auf dem Markte), gemeinsame Verwendung von Maschinen, gemeinsame Meliorationen (Wiesenbau, Dränierung etc.), Konsolidierung der Güter, gemeinsamer Einkauf und Absatz, gemeinsame Bauten (Wege, Remisen etc.) – alles das fordert feste Organisierung, kann, wie der Bauer nun einmal ist, nur zwangsgenossenschaftlich erreicht werden. Dieses aber auch wieder um so leichter, als alle diese Unternehmungen nicht über die (ländliche) Gemeinde hinausgreifen.

Die Notwendigkeit ständischer Gesetzgebung für den Bauernstand wird schon anerkannt. Wucherfreiheit, Wechselrecht und gleiche Erbteilung eignen sich für ihn nicht. Die Ordnung des Erbrechts und des Hypothekenrechts sind wirklich eine Lebensfrage für unsere Bauern. Und doch, eine allgemeine schablonenhafte Behandlung ist hier rein unmöglich; sie muß sich den lokalen, ja den persönlichen Verhältnissen anlehnen. Die Frage der Verschuldung wie die Frage der Erbteilung kann nur von den jedesmaligen Standesgenossen nach den jedesmaligen konkreten Verhältnissen entschieden werden. Wenn eine Ordnung in dieser Beziehung stattfinden, geschaffen werden soll – und das muß geschehen – dann müssen erst Organe da sein, denen die Ausführung in die Hand gegeben werden kann: der Bauernstand muß sich organisieren.

Überhaupt, bei Lösung aller sozialen Fragen ist die ständische Gliederung die Grundvoraussetzung. Nehmen wir z. B. die Frage des Kredits: soll der Zentralisation, der Verschleuderung desselben an betrügerische, unrentable Unternehmungen, soll der Überwucherung und Absorbierung der Selbständigkeit ein Ende gemacht werden, soll derselbe eine wirklich soziale und mehr demokratische Form annehmen, „organisiert“ werden, dann kann das nur im Anschluß an die ständische Organisation geschehen. Mittelst der ständischen Organe wird das Leihkapital sich in alle Glieder des gesellschaftlichen Organismus verbreiten, so wirklich eine soziale Mission erfüllen[2]. Nehmen wir einen andern Punkt: Betrug und Fälschung. Auch hier können nur die Berufsgenossen sich gegenseitig wirksam überwachen. Sie haben selbst das größte Interesse daran. Man gebe ihnen mit umfassenden Rechten ausgestattete Selbstverwaltungsorgane, und sie werden schon sorgen. Diese Organe werden über die geschäftliche Ehre wachen, und auch den Sinn für die „Ehre“ im weiteren Sinne, die sittliche Ehre wieder wecken („Ehrengericht“). Ständische Organisation wird auch wieder die ständische Sitte beleben, und das ist ein herrlicher Gewinn.

Nicht minder hoch schlagen wir die Wirkungen ständischer Organisation in politischer Beziehung an. Nicht die „Phrase“, nicht die „Partei“, sondern die realen Bedürfnisse des Lebens kämen wieder zur Geltung. Wir würden wieder konservativ in unserer Politik werden. Der ernste Berufsmann, geschult im praktischen Leben, in der Schule der Selbstverwaltung, käme wieder zu Wort, unsere Berufspolitiker wären lahmgelegt. Dann könnte auch von Freiheit und Selbstverwaltung gesprochen werden, wäre es aus mit der Tyrannei des Bürokratismus. Dann hätten wir ein wirksames Gegengewicht gegen die politischen Zentralisationstendenzen und den Despotismus von Partei und Fürstengewalt. Dann wären auch Garantien gewonnen für Ausdehnung des Staats- und Gemeinde-Sozialismus. Es gibt eine ganze Reihe von Produktionsgebieten, die dem Staate, noch mehr, die der Gemeinde zugewiesen werden sollten, sowohl im Interesse der Produktion, als besonders im Interesse der Verteilung – damit sie allen zugute kommt – allein politische Bedenken und der Mangel geeigneter Verwaltungsorgane mahnt zur Vorsicht. Organisierte Stände würden diese Schwierigkeiten heben.

Die faktisch bestehende und sich stets ausdehnende sozialistische Produktionsweise erfordert ihren Ausdruck im Recht, eine mehr oder weniger sozialistische Rechtsordnung. Der bisher herrschende Individualismus, Liberalismus, ist nur versteckter Despotismus, genügt weder den Bedürfnissen der Gemeinschaft, noch den Interessen der Produktion. Der Sozialismus wird kommen, entweder der absolute, sozialdemokratische des Staates, oder aber der relative, konservative, gesunde der Stände. Sozialistische Organisation der Stände: das ist die Lösung der sozialen Frage.

Anmerkungen

[1] Das ständische Wahlsystem scheint uns die einzig richtige Vermittlung zwischen dem Zensus- und dem demokratischen Wahlsystem. „Gleichberechtigung der Berufsstände“ ist das demokratische, „nur in und mit dem Stande“ ist das konservative, echt soziale Element. Die jetzigen Wahlsysteme führen zur Herrschaft der „Klasse“ – der Bourgeoisie oder des Proletariats. Die gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze werden sich auch stets in der Politik geltend machen. Warum das nicht offen anerkennen, nicht gleich mit in die Rechnung aufnehmen? Der Kampf der Interessen besteht; man kann ihn ignorieren, aber nicht aus der Welt schaffen. Warum nicht mit offenem Visier kämpfen? Warum nicht legitime Organe schaffen, zum Ausgleich der Interessen? Kampf ist Leben, der Kampf ist noch kein Unglück. Aber er muß legitim geführt werden, die Zentralgewalt muß stark genug sein, ihn in Schranken zu halten. So kann auch die Zentralgewalt („Monarchie“) nur gewinnen, weil alle Beteiligten für ihre Erhaltung interessiert sind. Denn den Kampf bis zum Umsturz will kein Stand – höchstens das Proletariat. Eine „Partei“ ist dazu leicht bereit, weil persönliche Anschauungen und Interessen sie beherrschen; ein „Stand“ oder gar die Mehrzahl der Stände nicht, weil da das Individuum zurücktritt, persönlicher Ehrgeiz und Leidenschaft durch den Stand in Schach gehalten werden.
[2] Ähnliches gilt für die Reorganisation der Armenpflege und die Steuer-Reform, das Versicherungswesen usw.

Quelle: Franz Hitze, Die Quintessenz der sozialen Frage. Paderborn: Bonifacius-Druckerei, 1880, pp. 24–32; abgedruckt in Hans Fenske, Hrsg., Im Bismarckschen Reich. 1871–1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 244–48.